# taz.de -- Die steile These: Streitet mehr über Coronaregeln! | |
> Wer die aktuellen Maßnahmen kritisiert, gilt schnell als Coronaleugner. | |
> Nicht Gegenvorschläge verunsichern, sondern die Einseitigkeit der | |
> Debatte. | |
Bild: Da hat sich jemand den Virus schöngebastelt – gesehen bei einer Demo g… | |
Erst eine Woche „Teillockdown“ oder „Lockdown light“, wie manche sagen, | |
aber die Folgen sind schon jetzt gewaltig, auch im eigenen Freundeskreis. | |
Der Geschäftsführer eines Cafés ist in Kurzarbeit. Zukunft? Eher ungewiss. | |
Eine Freundin betreut Touristen, ihr Job steht auf der Kippe. Sie ist | |
krankgeschrieben, nicht wegen Corona, sondern weil der Ausnahmezustand sie | |
psychisch so belastet. Ein Freund arbeitet in der Kinobranche und weiß | |
nicht, wie es weitergeht, einige seiner KollegInnen wurden bereits | |
entlassen. Er hat vier Kinder. | |
Keiner von ihnen würde Corona leugnen. Sie alle passen auf, dass sie sich | |
und andere nicht gefährden. Und auch ihnen leuchtet ein, dass angesichts | |
der steigenden Zahlen etwas passieren muss, will man den Horror, wie ihn | |
Bergamo im Frühjahr erlebt hat und auf den andere europäische Länder | |
bereits zusteuern, nicht auch hierzulande: überlastete Intensivstationen, | |
Kranke, die nicht behandelt werden können, massenhaft Särge. | |
Bei Corona geht es um Existenzielles, um Gesundheit und Leben, aber eben | |
auch um Arbeit und Zukunft. Die Entscheidungen, die Angela Merkel und die | |
Ministerpräsidenten treffen, greifen tief in die Grundrechte ein, sie | |
bedeuten für viele Menschen gravierende persönliche Einschnitte, sie | |
verändern Biografien, möglicherweise für immer. | |
## Wer Kritik übt, gilt schnell als Corona-Leugner | |
Genau deshalb ist es wichtig, die Maßnahmen intensiv zu diskutieren. Sind | |
sie richtig und verhältnismäßig? Oder gäbe es andere Möglichkeiten, die | |
Nebenwirkungen der Kontaktbeschränkungen zu mildern und die Zahl der | |
Infektionen trotzdem zu senken? | |
Diese Debatte läuft zurzeit eher schlecht als recht. Zum einen liegt das an | |
den Coronademos, auf denen Teilnehmende viel Unsinn verbreiten. Sie lassen | |
Schutzmaßnahmen bewusst außer Acht und dulden Rechtsradikale und | |
Reichsbürger in ihren Reihen. An diesem Samstag dürfte das wieder zu | |
besichtigen sein: Das Bündnis Querdenken mobilisiert zu einer Großdemo nach | |
Leipzig, trotz beziehungsweise wegen des Teillockdowns. | |
Das macht die Räume eng. Wer Kritik an Coronamaßnahmen der Regierung | |
äußert, gerät schnell in den Verdacht, den LeugnerInnen der Pandemie das | |
Wort zu reden oder gar zu ihnen zu gehören. Da bleiben manche lieber stumm. | |
Wenn dann doch jemand einen Alternativvorschlag macht, kommt das in | |
linksliberalen Kreisen gar nicht gut an. Die Kassenärztliche | |
Bundesvereinigung und zwei Virologen haben in der vergangenen Woche für | |
einen Strategiewechsel geworben: Statt eines Lockdowns und Verboten sollte | |
es ihrer Meinung nach Gebote geben; die Risikogruppen müssten besser | |
geschützt und ein bundesweites Ampelsystem müsse eingeführt werden. Es gehe | |
ihnen um den „dauerhaften Umgang mit dem Virus“, um die Frage, „wie die | |
Pandemie langfristig bewältigt werden kann“, schrieben sie. | |
Sie wurden dafür heftig kritisiert. „Menschenverachtend“ sei der Vorschlag, | |
eine „ganz miese Nummer“, hieß es bei Twitter. Die taz fragte: „Ist es | |
Profilierungssucht? Sind es persönliche Eitelkeiten?“ Als könnten nur sie | |
der Antrieb sein für einen solchen Vorstoß. Ärzte distanzierten sich | |
umgehend, das seien „realitätsferne Appelle“ und zum jetzigen Zeitpunkt | |
nicht zielführend. | |
Nun mag der Vorschlag nicht die Lösung für das Problem der rasant | |
steigenden Infektionszahlen sein. Und sicher war es auch unredlich, im | |
Namen von Ärzten zu sprechen, die den Lockdown sehr wohl gutheißen. Aber | |
das ist nicht der Punkt. Es geht um die Debattenkultur. | |
Wenn alles, was vom Prinzip Lockdown abweicht, als abwegig oder gar | |
gefährlich verurteilt wird, ist keine Diskussion mehr möglich. Wollen wir | |
das? | |
## Wir brauchen mehr Differenzierung als im Frühjahr | |
Auch ich finde: An stärkeren Kontaktbeschränkungen führt in der jetzigen | |
Situation kein Weg vorbei. Aber wenn die Debatte darüber zu einseitig wird, | |
beschleicht mich ein Unbehagen. Gerade wenn die Mehrheit den Teillockdown | |
mitträgt, sollte man doch souverän mit anderen Vorschlägen und Kritik | |
umgehen können, statt sie wegzudrücken. | |
Es ist ja so: Wer weniger strenge Maßnahmen fordert, sieht sich schnell dem | |
Vorwurf ausgesetzt, Risikogruppen und damit Menschenleben zu gefährden, er | |
macht sich moralisch angreifbar. Gefahren bringen aber auch die | |
Coronamaßnahmen mit sich, hier steht ebenfalls viel auf dem Spiel. Deshalb | |
müssen wir ja genau über die Verhältnismäßigkeit der Mittel reden. | |
Wolfgang Schäuble hat das bekanntlich so formuliert: „Wenn ich höre, alles | |
andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: | |
Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich | |
gegenseitig.“ Anders als im Frühjahr, als Corona noch neu war, müsste eine | |
stärkere Differenzierung inzwischen möglich sein. | |
## Wir müssen streiten | |
Doch für eine solche Diskussion gibt es wenig Offenheit. Warum ist das | |
Bedürfnis während der Pandemie so groß, die Reihen geschlossen zu halten? | |
Lassen sich in schweren Zeiten Ambivalenzen und Zwischentöne schlechter | |
aushalten? | |
Der Vorschlag des Kassenärzte-Verbands „trägt nur zu einer weiteren | |
unnötigen Verunsicherung der Bevölkerung bei“, mahnte im Nachgang ein | |
Vertreter der Anästhesisten. Der Subtext: Widerworte darf es in der | |
jetzigen Lage nicht geben. Das Gegenteil ist richtig: Es trägt zur | |
allgemeinen Verunsicherung bei, wenn ein ernsthafter Meinungsaustausch | |
nicht mehr stattfindet. Der Bevölkerung sollte man ein paar Argumente für | |
und wider einen Lockdown schon zutrauen. | |
Wahrscheinlich ist die traurige Wahrheit in diesem besonders tristen | |
November: Es gibt keinen guten Weg aus der Pandemie. Die Frage ist, welcher | |
Weg am wenigsten schlecht ist. Ihn gilt es zu finden, darüber müssen wir | |
streiten. Offen und unvoreingenommen. Alles andere wäre einer Demokratie | |
unwürdig. | |
7 Nov 2020 | |
## AUTOREN | |
Antje Lang-Lendorff | |
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