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# taz.de -- Die Performer Forced Entertainment: Wie ein Treffen mit alten Freun…
> Die britischen Performer Forced Entertainment sind mit ihren Fans älter
> geworden, trotzdem der Gegenwart zugewandt. Eine Liebeserklärung.
Bild: Szene aus „And on the thousandth night“ von Forced Entertainment
Man hat nicht oft Gelegenheit, eine Performance nach mehr als zwei
Jahrzehnten wiederzusehen wie aktuell den [1][Beichtmarathon „Speak
Bitterness“ von Forced Entertainment.] Es ist ein bisschen so wie mit einst
geliebten Menschen. In die Vorfreude mischen sich vage Befürchtungen: Wird
man den anderen, der so prägend für die eigene Geschichte war,
wiedererkennen? Und was, wenn man einander nichts mehr zu sagen hat?
Dabei konnte man die rührige Gruppe aus Sheffield in den letzten Jahren
kaum aus den Augen verlieren. Allein beim [2][Münchner Spielart-Festival]
ist sie in diesem Jahr zum zehnten Mal dabei. Zu Ehren ihres
(Mit-)Entdeckers Tilmann Broszat kommt sie gleich mit drei Stücken und
alles in allem 24 Stunden Theater bei freiem Eintritt. Der langjährige
Leiter der Performance-Biennale Spielart überlässt nach 25 Jahren deren
Steuer seiner Co-Leiterin Sophie Becker alleine. Und Tim Etchells und sein
Team winken zum Abschied. Man ist gemeinsam älter geworden – und das spürt
man, aber nicht schmerzlich, sondern wohlig warm.
Zwar rätselt das nach zweiundzwanzig Jahren etwas löchrig gewordene
Gedächtnis, ob in „Speak Bitterness“ bei der Spielart-Premiere der Briten
1997 schon genauso oft vom Tod die Rede war – „wir haben Marcellas Account
nach ihrem Tod weitergeführt“ – und ob die Rückzugsmöglichkeiten auf der
Bühne von den sechs Performern damals schon ebenso ausgiebig genutzt worden
sind.
Aber genau da hat das besagte wohlige Gefühl seinen Ursprung: Auch wenn die
Performances der Briten minutiöser durchgeplant sind, als sie wirken, und
ihre Virtuosität gerade darin besteht, sie wie frisch erfunden aussehen zu
lassen: Das glasklare Setting, die schlichten Regeln folgende, aber
prinzipiell flexible Struktur dieses Abends scheint geradezu dafür gemacht,
sich ändernden Bedürfnissen Raum zu geben. Zugleich ist sie aufgrund des
Zettelkastenprinzips des unermüdlichen Textesammlers Etchells für
inhaltliche Aktualisierungen offen. Sie kann also wachsen und sich
verändern, wie es ihre Spieler und die Gegenwart verlangen. Das ist
menschenfreundlich und wunderschön.
## Eitelkeiten und Versäumnisse kommen auf den Tisch
Eine lange Tafel steht am Bühnenrand der Münchner Muffathalle. Hinter ihr
stehen sechs Stühle, auf denen die Performer frontal zum Publikum Platz
nehmen können. Sie haben Papiere vor sich, zu denen sie nach Bedarf
greifen, und weitere Stühle hinter sich, auf denen sie mal Pause machen
können. Unter sechs Glühbirnen werden nun sechs Stunden lang lässliche und
gewaltige Sünden gestanden, witzige wie „wie können nicht gleichzeitig
gehen und Textnachrichten versenden“ und nachdenklich machende wie „wir
haben Menschen falsche Hoffnungen gemacht“.
Alle Eitelkeiten, Sehnsüchte und Versäumnisse kommen auf den Tisch. Sehr
persönliche Katastrophen – wie zu kleine Geschlechtsorgane – und
historische Katastrophen wie das Attentat von Christchurch und der Anschlag
auf das Bataclan werden eingespeist. Man wohnt hier einem erstaunlich
entspannten und zugleich nichts übersehenden Tribunal über die Menschheit
bei, deren Verbrechen die Kläger meist stoisch auf die eigenen Schultern
nehmen.
„Wir“ haben in der ersten Person Plural Fett angesetzt oder Rattengift auf
Kinderspielplätzen ausgelegt. Als Zuschauer taucht man ein in dieses „Wir“,
in diese in vielerlei Hinsicht unhierarchische Performance, die – wie immer
bei Forced Entertainment – keiner klassischen Dramaturgie folgt, weshalb
man den Raum nach Belieben betreten und verlassen kann. Auch wenn es
schöner ist, sich ganz hineinfallen zu lassen in diesen durch Wiederholung
und Langsamkeit geprägten und im besten Sinne zeitlosen Abend, der ohne
jegliche Interaktion zwischen Publikum und Performern eine seltsame
Intimität schafft und eine ganz unalltägliche Raum-Zeit-Erfahrung.
Dass sie sich aus allen möglichen theatralen Strategien oft nur eine
herausgreifen, um deren Möglichkeiten auszureizen, machte Forced
Entertaiment zu Helden des postdramatischen Theaters, bevor es den Begriff
überhaupt gab. Die Tatsache, dass Tim Etchells, Robin Arthur, Richard
Lowdon, Claire Marshall, Cathy Naden und Terry O’Connor seit 35 Jahren
unverändert zusammenarbeiten, trägt zur intimen, fast familiären Atmosphäre
ihrer Performances bei, der man sich als Zuschauer zugehörig fühlt, auch
wenn man nie ein persönliches Wort mit den Performern gewechselt hat.
## Kamikaze-Performen
Dass die Unbedingtheit, mit der sich die Kerngruppe in jede Unternehmung
stürzt – ihr Hochleistungs-, ja Kamikaze-Performen –, mit den Jahren nicht
nachgelassen hat, war in ihrer 2017 auch zum Berliner Theatertreffen
eingeladenen Produktion [3][„Real Magic“] zu erleben. Der so wunder- wie
qualvolle Zwitter aus Gameshow-, Mentalmagie- und Vergeblichkeitssatire
sperrt Claire Marshall, Jerry Killick und Richard Lowdon in eine absurde
Situation ein, von der die Vorstellung nur einen kleinen Ausschnitt zeigt.
Abgekämpft und zerzaust kommen sie schon auf die Bühne, schlüpfen für
resignierte Ententanz-Einlagen in Plüschkostüme und in die Rollen von
Fragenden und Antwortenden in einer Show, in der einer drei Begriffe raten
soll, an die ein anderer denkt. Und es sind – bei wachsender Zerrüttung der
Zuschauergemüter und immensen Hoffnungsschwankungen auf Seiten der
Performer – immer dieselben drei falschen.
Der Abend erzählt eine moderne Variante des Sisyphos-Geschichte und
obendrein wohl für jeden einzelnen Zuschauer etwas anderes, ist aber auch
eine Verausgabungsschlacht sondergleichen – wenn auch mit rund achtzig
Minuten nach Forced-Entertainment-Maßstäben eine sehr kurze.
Über die Lust seines Kollektivs auf die performative Langstrecke hat
Etchells, als sie [4][2016 mit dem Ibsen-Preis] ausgezeichnet wurden,
gegenüber dem Guardian Auskunft gegeben: „Du wirst blöder, langsamer; du
verlierst die Selbstkontrolle. Und gleichzeitig wirst du offener für
verschiedene Energien und Impulse … Und es entsteht eine besondere Art der
Verletzlichkeit. Leute sehen dir dabei zu, wie du richtig brillante Momente
hast. Und sie sehen auch, wie du flach aufs Gesicht fällst.“
## Die permanente Möglichkeit des Scheiterns
Diese Verletzlichkeit, die permanente Möglichkeit des Scheiterns, ja die
Feier desselben machen Forced Entertainment aus. Ob sie in ihrem jüngsten
Stück „Out of Order“ als traurige Clowns Gags proben, wieder vergessen und
sich dabei buchstäblich ineinander verbeißen oder in ihrem
Durational-Erstling „12am: Awake & Looking Down“ immer wieder neu
versuchen, zwischen wechselnden Verkleidungen, schrägen
Figurenbezeichnungen auf Pappe und dem Publikum Brücken zu schlagen. Der
zeitlich halbierte, ursprünglich 12-stündige Abend war ebenfalls bei
Spielart zu sehen.
Weil er körperlich herausfordernd ist, bat die Gruppe, schon am Nachmittag
beginnen zu dürfen. Um 17 Uhr sehen die fünf auf der Bühne noch frisch aus.
Um 23 Uhr sind sie durch unzählige Transformationen gegangen, haben
versucht, Zuschreibungen wie „Burger King“ oder „nine-year-old shepherd
boy“ standzuhalten oder auszufüllen – und zu ignorieren, dass die
Bühnenpartnerin gerade einen Karton über einen hält, auf dem „White Trash�…
steht. Es gibt herrliche Charakterillustrationen wie Richard Lowdons
„mutiger, aber dummer Typ“, der wieder und wieder mit dümmlichem Grinsen
ein Messer neben seine nackten Zehen schmeißt, viel Scheitern, viel Würde
und viel Selbstironie zu erleben.
Vielleicht sind die Performer am Ende abgekämpfter als noch vor zehn oder
zwanzig Jahren. Aber das Kämpfen, das Ringen darum, mit minimalen Mitteln
das Maximale aus der gemeinsam verbrachten Zeit zu schlagen, ist ja das,
worum es hier geht.
5 Nov 2019
## LINKS
[1] /Archiv-Suche/!712776&s=Esther+Boldt+Forced+Entertainment&SuchRahme…
[2] /Performance-Festival-Spielart-in-Muenchen/!5458970
[3] /Briten-beim-Theatertreffen/!5407196
[4] https://www.internationalibsenaward.com/2016-forced-entertainment
## AUTOREN
Sabine Leucht
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