# taz.de -- Der Zauber einer Band: Im ICE mit Tocotronic | |
> Im ICE sind mir plötzlich Bandmitglieder von Tocotronic über den Weg | |
> gelaufen. Ihre Musik hat mich ein ein halbes Leben lang begleitet. | |
Bild: So nah und doch so fern: Tocotronic | |
Vergangene Woche im ICE. Ein Mittwoch im November. Berlin bis Hamburg. | |
Ruhewagen, 2. Klasse. Weite Felder rauschen vorbei. Jenseits des Gangs | |
liest ein Mann stoisch in einem Buch. Musil: „Der Mann ohne Eigenschaften“. | |
Als die Zugbegleiterin kommt, zeigt er einen ausgedruckten Fahrschein. Sein | |
Handy ist ein neues, funktional sehr eingeschränktes, ohne Wischoption, mit | |
Tasten. Er scheint sich bewusst für ein analoges Leben entschieden zu | |
haben. Um uns ist es ruhig, nur der Zug rauscht. Winterstimmung. | |
Dann taucht im Gang plötzlich Dirk von Lowtzow vor mir auf. Ich erkenne ihn | |
sofort. Er ist der Sänger von Tocotronic. | |
Seit 20 Jahren begleitet mich ihre Musik. Ich habe sie mit ihrem „Weißen | |
Album“ entdeckt, zwischendurch verloren und wieder neu gefunden. Viele | |
ihrer Texte kenne ich auswendig. Im Sommer war ich im Stadtpark auf einem | |
Tocotronic-Konzert. Die Band hat sich in Hamburg gegründet, wurde hier | |
geprägt und ist dann nach Berlin gezogen. | |
## „Es war alles Gegenwart“ | |
Mit grauem Haar und schwarzem Jackett läuft Dirk von Lowtzow an mir vorbei. | |
Ein unwirklicher Moment, in dem sich die Begleitstimme mancher Lebensszenen | |
plötzlich im Alltag personalisiert. Die Schiebetür zum Flur gleitet hinter | |
meinem Rücken auf. Dann ist er fort. | |
Ich freue mich, dass er so plötzlich da war. Ich muss an sein Lied | |
„Unwiederbringlich“ denken. Darin singt Dirk von Lowtzow: „Du lagst im | |
Krankenzimmer. Ich saß im ICE. Auf dem Weg nach Hause. Durch Felder voller | |
Schnee.“ Er erzählt von einer Zugfahrt, in einer Zeit noch ohne Handys, als | |
das Ich im Song daher erst beim Aussteigen vom Tod eines Nächsten erfuhr. | |
Ich logge mich ins Internet ein und höre noch mal das Lied, lausche der | |
vertrauten Stimme des eigentlich Fremden wenige Meter hinter mir: „Ich saß | |
im ICE.“ „Es gab noch keine Handys. Es war alles Gegenwart. Die Zukunft | |
fand ausschließlich in Science-Fiction-Filmen statt.“ | |
„Es war alles Gegenwart.“ Was für ein schöner Satz. Da die Band schon so | |
lange existiert, schlägt sie eine Brücke zwischen meiner Vergangenheit und | |
Gegenwart. Durch alles, was sich ändert – sie blieb Gegenwart. | |
## Ein Moment des Zögerns | |
Ein Zischen: Die Schiebetür gleitet wieder auf. Jetzt läuft Arne Zank, der | |
Schlagzeuger der Band, an mir vorbei. Was machen sie hier zusammen im Zug? | |
Haben sie etwa ein Konzert in Hamburg? | |
Ich suche im Internet nach den Live-Terminen von Tocotronic. Tatsächlich, | |
an diesem Tag geben sie abends ein Konzert auf Kampnagel. Es ist | |
ausverkauft. | |
Als der Zug den Hamburger Hauptbahnhof erreicht, treten Dirk und Arne als | |
eine der letzten aus ihrem Abteil in den Flur. | |
Dirk von Lowtzow schaut mich ausdruckslos an. Wir warten zusammen. Es sind | |
die Sekunden der Leere, wenn Menschen vor den Türen auf den Halt des Zugs | |
warten. Ich überlege, ob ich etwas sagen soll: Eure Musik begleitet mich. | |
Danke! Ihr habt mich geprägt. Einer ihrer Liedtitel geht mir durch den | |
Kopf: „Pure Vernunft darf niemals siegen.“ Doch etwas hält mich davon ab, | |
mich als Fan zu zeigen. | |
## Zwei zwischen vielen | |
Ist es, weil wir nicht allein sind, weil der Mann mit dem analogen Leben | |
neben uns steht? Oder ist es aus Rücksicht auf ihre Privatsphäre? Dass sie | |
die Ankunft in Hamburg nicht bereits direkt als öffentliche Person begehen | |
müssen? Dass sie still und unauffällig in diese Stadt schlüpfen dürfen? | |
Oder bin ich in dem Moment zu schüchtern. | |
Wir steigen aus. Dirk und Arne laufen vor mir über den Bahnsteig, ruhig und | |
selbstverständlich nebeneinander, zwei, die sich kennen. Sie nehmen die | |
Treppe zur Bahnhofshalle hinauf, treten hinaus ins graue Novemberlicht. | |
Unauffällig. Zwei zwischen vielen. In sieben Stunden werden sie vor einer | |
ausverkauften Halle stehen. Dann sind sie fort. Unwiederbringlich. | |
Tage später lese ich von ihrem Konzert: Die stillen Mitreisenden aus dem | |
ICE starteten es mit dem Song „Nie wieder Krieg“ und einer deutlichen | |
Stellungnahme, mit der sie „Solidarität mit den Opfern“ des Ukraine-Krieges | |
forderten. Wider der Unwiederbringlichkeit. | |
11 Dec 2022 | |
## AUTOREN | |
Christa Pfafferott | |
## TAGS | |
Kolumne Zwischen Menschen | |
Tocotronic | |
Hamburger Schule | |
Popkultur | |
Musik | |
Kolumne Zwischen Menschen | |
Kolumne Zwischen Menschen | |
Kolumne Zwischen Menschen | |
Musik | |
Tocotronic | |
Literatur | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Unterwegs im abendlichen Regionalzug: Das Fürsorge-Geschenk | |
Im Regionalzug traf ich eine Zugbegleiterin, die allein reisenden Frauen | |
kostenlos einen Platz in der ersten Klasse anbot. Was für ein netter | |
Mensch. | |
Übergriffige Ratschläge: Mein Leben, meine Experimente | |
Ich freute mich auf's Kochen, ging einkaufen und kam zurück mit einem Korb | |
voller gut gemeinter Ratschläge. Da kippte die Stimmung. | |
Über die beruhigende Wirkung von Respekt: Der Schwadroneur im Speisewagen | |
Manche Menschen suchen unaufhörlich nach Austausch. Das kann nerven. Es | |
kann aber auch der Beginn einer Verwandlung sein. | |
Nachruf auf Musiker Kristof Schreuf: Der Text war seine Party | |
Der Musiker und taz-Autor Kristof Schreuf ist gestorben. Seine Band | |
Kolossale Jugend schrieb deutsche Popgeschichte. Er wurde nur 59 Jahre alt. | |
Tocotronic spielten in Berlin: Reise durch die End-90er | |
Tocotronic spielten im Berliner About Blank. Eine Zeitreise ohne Nostalgie, | |
dafür aber voll rockiger Melancholie und einem Hauch Koketterie. | |
Roman über Indierockszene in den 90ern: Topos Jungsband | |
Die Musiker Rasmus Engler und Jan Müller (Tocotronic) haben einen | |
unterhaltsamen Roman geschrieben. „Vorglühen“ spielt in der Indieszene St. | |
Paulis. |