# taz.de -- Debatte Rechtspopulismus in Europa: In die Gedöns-Falle getappt | |
> Wer die Hausarbeiten erledigt, ist ein zentrales politisches Thema. Die | |
> Diskussion über die soziale Frage und den Rechtspopulismus blendet das | |
> aus. | |
Bild: Wer wechselt die Windeln? | |
Dirk Jörke und Nils Heisterhagen fragten in der FAZ, was die Linke gegen | |
den Rechtspopulismus tun müsse und haben mit der „Wiederentdeckung der | |
Sozialen Frage“ auch gleich eine Antwort parat. Die Linke müsse ihre | |
„Elite-Welt“ verlassen und endlich bemerken, wie kompatibel | |
„Antidiskriminierungspolitik, Vielfaltseuphorie und politisch korrekte | |
Sprache“ mit dem neoliberalen Umbau von Gesellschaft seien. | |
Diese These hat [1][verschiedene Widersprüche provoziert], die das | |
Verhältnis von Sozialer Frage und Identitätspolitik thematisieren. Die | |
Debatte schließt an die sozialphilosophische Kontroverse um Umverteilung | |
oder Anerkennung aus den 1990er Jahren an. Schon damals entlarvte Nancy | |
Fraser diese Dichotomie als einen falschen Gegensatz – eine Erkenntnis, | |
hinter die die Opposition „Soziale Frage versus Identitätspolitik“ jedoch | |
ebenso zurückfällt wie hinter das Marx’sche Diktum, der gesellschaftliche | |
Fortschritt lasse sich „exakt messen an der gesellschaftlichen Stellung des | |
schönen Geschlechts“. | |
Dies verweist auf einen blinden Fleck in der Debatte: Die Soziale Frage | |
wird vor allem als eine ökonomische verstanden. Gesellschaftliche | |
Reproduktionsverhältnisse werden ignoriert. | |
Diese analytische Leerstelle ist der zentrale Grund, weshalb sich Soziale | |
Frage und Identitätspolitik überhaupt gegenüberstellen lassen. Denn erst | |
wenn geleugnet wird, dass Fragen der gesellschaftlichen Reproduktion | |
zentrale politische Fragen der sozialen Gerechtigkeit sind, lassen sich | |
Geschlechter- und Sexualitätspolitiken zu Elementen des persönlichen | |
Lifestyles verniedlichen. Erst unter dieser Prämisse erscheinen solche | |
Fragen nicht mehr als politische, sondern können wie bei Jörke und | |
Heisterhagen zum Kern eines moralisierenden und elitären Diskurses um | |
Toleranz und Vielfalt gemacht werden, den es vermeintlich zu kritisieren | |
gelte. | |
## „Biopolitische“ Dimension von Gesellschaft | |
Hingegen hat der Feminismus mit seiner Devise „Das Private ist politisch“ | |
ein politisches Programm zu einer Neuordnung der Sphäre der | |
gesellschaftlichen Reproduktion aufgestellt. Die Intention dabei war gerade | |
nicht zu moralisieren, sondern die gesellschaftliche Verteilung und | |
Organisation von Sorge-, Sozialisations-, Betreuungs-, Erziehungs- und | |
Pflegearbeit politisch zu verhandeln. Wer wäscht die Wäsche? Wer wechselt | |
die Windeln? Wer kocht und kauft ein? Wer pflegt? Welche Leitbilder von | |
Familie, von Intimität, von Geschlechts- und Sexualitätsentwürfen werden | |
politisch und rechtlich unterstützt und staatlich gefördert? Und welchen | |
Lebensentwürfen wird diese Anerkennung verweigert – mit allen gravierenden | |
Folgen für die jeweils Betroffenen? Dies alles zielt nicht auf Lifestyle, | |
sondern auf die politisch-normative Frage, wie die Reproduktion des Lebens | |
gesellschaftlich gestaltet werden soll. | |
Auf diese Weise wird eine „biopolitische“ Dimension von Gesellschaft | |
sichtbar. Diese ist zwar mit der Produktionssphäre verbunden, jedoch lässt | |
sich die Reproduktionssphäre nicht auf die Ökonomie und das Öffentliche | |
reduzieren. Der Blick der politischen Linken war jedoch zumeist auf die | |
produktive, das heißt, die öffentlich-ökonomische Seite von Gesellschaft | |
fixiert. Nicht nur in Deutschland war dies mitursächlich für die Entstehung | |
der neuen sozialen Bewegungen, etwa der Frauenbewegung, der | |
MigrantInnenselbstorganisation oder der Antirassismusbewegung. | |
Jörke und Heisterhagen versuchen, den Aufstieg des Rechtspopulismus und den | |
Niedergang der Linken diesen Bewegungen unterzuschieben. Jedoch verkennen | |
sie, dass sich die Sozialdemokratie und die akademische Linke der | |
Integration von politischen Forderungen lange verweigert haben, die die | |
gesellschaftliche Organisation von Sorge- und Reproduktionsarbeit | |
beinhalten. Damit zäumen sie das Pferd von hinten auf, denn sie | |
unterstellen FeministInnen und AntirassistInnen eine „Identität“, die sie | |
erst als Reaktion auf die Zurückweisung ihrer politischen Forderungen durch | |
die Linke herausgebildet haben. | |
Wird die Soziale Frage in ihrer biopolitischen und ihrer ökonomischen | |
Dimension betrachtet, kristallisiert sich die zwiespältige Natur des | |
Rechtspopulismus heraus, die bislang ebenfalls unsichtbar war. [2][Winfried | |
Thaa] argumentiert, dass der Rechtspopulismus attraktiv ist, weil er eine | |
(rechte) Alternative – also eine politische Wahl- und | |
Gestaltungsmöglichkeit – bezüglich der Sozialen Frage formuliert. Die Linke | |
hingegen habe ihre politische Utopie und ihren Gestaltungswillen durch die | |
Übernahme eines Diskurses über politische Sachzwänge und | |
Alternativlosigkeit verloren. | |
## Wiederherstellung einer „natürlichen“ Ordnung | |
Das ist zweifellos richtig – ignoriert jedoch die zweite Hälfte des | |
Problems: Denn die biopolitischen Diskurse des Rechtspopulismus zeichnen | |
sich gerade dadurch aus, den politischen Charakter der Frage der | |
Organisation von gesellschaftlicher Reproduktion zu leugnen. | |
Das Begründungsmuster dieser Verleugnung folgt keiner neoliberalen | |
Ideologie oder einer Logik des Sachzwanges, wie Thaa dies für die Linke in | |
Bezug auf die Ökonomie herausarbeitet, sondern dem Paradigma der | |
Biologisierung von sozialen Verhältnissen. | |
In biopolitischen rechtspopulistischen Diskursen vereinen sich völkische | |
und rassistische Ideologien mit antifeministischen Positionen, denen | |
gemeinsam ist, gerade keine Debatte über die politische Gestaltung der | |
gesellschaftlichen Reproduktionsverhältnisse zuzulassen. Es geht um die | |
Wiederherstellung einer „natürlichen“ Ordnung der Geschlechter sowie des | |
völkisch-nationalistisch gedachten Raumes. In diesem Feld lässt sich also | |
keine rechte Repolitisierung der Sozialen Frage beobachten, sondern | |
vielmehr eine Naturalisierung bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse. | |
Insofern sind die Linke und die Debattierenden nicht in die | |
„Identitätsfalle“, sondern in eine „Gesellschaftsfalle“ getappt: Indem… | |
Gesellschaft mit Ökonomie gleichsetzen, übersehen sie, dass die | |
Naturalisierung des Privaten gerade die gesellschaftliche Form darstellt, | |
mit deren Hilfe die Reproduktionssphäre politisch organisiert wird. | |
20 Apr 2017 | |
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## AUTOREN | |
Heike Mauer | |
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