# taz.de -- Das Coronavirus und die Weltgeschichte: Gar nichts wird sich ändern | |
> Eine Zäsur soll die Coronaepidemie sein. Und ja, die Krise ist gewaltig. | |
> Aber eine Zeitenwende erleben wir deshalb nicht. | |
Bild: Das Coronavirus, noch kein halbes Jahr alt, hat die Welt auf den Kopf ges… | |
Wir erleben gerade eine Zäsur. Wahrscheinlich haben Sie über diesen ersten | |
Satz so hinweggelesen. Mittlerweile kann man kaum noch die Zeitung | |
aufschlagen oder das Radio einschalten, ohne von der Coronakrise als | |
irgendeiner Art von Zäsur zu lesen. | |
Zugegeben: Das Wort wurde auch in den letzten Jahren schon recht | |
inflationär verwendet. Es gab Zeiten, in denen galt jeder verlorene | |
Prozentpunkt der SPD als eine Zäsur. Doch nun sprechen nicht nur | |
Journalist*innen und Politiker*innen von einer Zäsur, sondern auch | |
Historiker*innen und Soziolog*innen. Also Menschen, denen man erstens | |
unterstellen muss, dass sie wissen, wovon sie reden, und zweitens, dass sie | |
es ernst meinen. Der Historiker [1][Paul Nolte sagte in einem Interview im | |
NDR]: „Wir können mit einer gewissen Zuverlässigkeit sagen: Das wird etwas | |
für die Geschichtsbücher sein.“ Der Soziologe [2][Heinz Bude sprach in | |
einem Interview im Tagesspiegel ] kürzlich von einer „weltgeschichtlichen | |
Zäsur“. | |
Und was könnte zutreffender sein? Das neuartige Coronavirus, noch kein | |
halbes Jahr alt, hat die Welt auf den Kopf gestellt. Wir tun Dinge, die uns | |
vorher als unmöglich galten: Stehen an, um in den Penny oder dm zu kommen, | |
freuen uns, wenn wir mal ins Büro dürfen, und skypen mit unseren | |
Großeltern. Wir akzeptieren Gesetze, die wir vor wenigen Wochen noch bitter | |
bekämpft hätten. Und wir halten Abstand zu Menschen, die uns nah sind. Was, | |
wenn nicht die Coronakrise, sollte eine Zäsur sein? | |
Das Wort „Zäsur“ stammt aus dem Lateinischen und bedeutet „Schnitt“. D… | |
festzustellen, ist in diesem Fall keine etymologische Fingerübung. Es | |
berührt den Kern. Denn es erklärt, was konkret gemeint ist: Corona teile | |
die Zeit in ein Davor und in ein Danach. | |
## Kein Pflock in der Weltgeschichte | |
Aber rammt Sars-CoV-2 tatsächlich gerade einen Pflock in die | |
Weltgeschichte? Erleben wir eine Zeitenwende? | |
Diese Krise ist zweifellos gewaltig. Menschen sterben an einer bis vor | |
Kurzem noch unbekannten Krankheit. Das Virus legt einen Schleier auf diese | |
Welt, der alles lähmt. Vom Großkonzern bis zur Eckkneipe. Von | |
Parlamentswahlen bis zum Kreisliga-Fußballspiel. | |
Nur scheint dieser Schleier auch den Blick dafür zu vernebeln, was sich | |
grundsätzlich in unserer Gesellschaft, auf dieser Welt, ändert. Denn das | |
ist, wenn man genau hinschaut, gar nicht so viel. | |
Heinz Bude präzisiert in seinem Interview dankenswerterweise, woran er | |
diese Zäsur festmacht. Er sagt: „Es gibt eine grundsätzliche Veränderung | |
von Werten, von Vorstellungen der politischen Organisation und von | |
individueller Verhaltensorientierung.“ | |
Beginnen wir mit den Werten: Oft heißt es, wir erleben eine Welle der | |
Solidarität. Das stimmt, allerdings ist diese Solidarität auch in der Krise | |
lokal und begrenzt. Sie findet sich in Nachbarschaftsinitiativen. In | |
Freundes- und Familienkreisen. Teilweise auch in Unternehmen. Aber werden | |
wir deswegen in Zukunft in einer Solidargemeinschaft leben? Es fällt einem | |
schwer, in einem einmaligen [3][Pflegebonus] von 1.500 Euro (über den lange | |
befunden werden musste) und dem Klatschen vom Balkon eine „grundsätzliche | |
Veränderung von Werten“ zu entdecken. | |
Auch große Akte der Solidarität bleiben in dieser „Menschheitskrise“ aus. | |
Deutschland verweigert sich weiter einem solidarischen Europa. Die | |
weltweite Verteilung von Atemschutzmasken folgt keinem Bedarfsmodell, | |
sondern der kapitalistischen Logik. Wertvorstellungen sind zäh, sie | |
verändern sich nicht in wenigen Monaten, auch wenn diese noch so | |
außergewöhnlich sind. | |
## Wir werden Hygiene-Experten | |
Wenn sich also schon nicht unsere Werte ändern, dann doch mindestens unser | |
Verhalten, könnte man einwenden. Es ist ja offensichtlich: Wir bleiben zu | |
Hause, wir geben uns nicht mehr die Hand, wir tragen eine Maske. Der Witz | |
bei diesen Verhaltensänderungen: Sie haben ein klares Ziel, nämlich, dass | |
wir uns alle bald wieder so verhalten können wie zuvor. Die Coronakrise | |
wird einige Tendenzen beschleunigen, andere wird sie verlangsamen. | |
Arbeitgeber werden ihren Angestellten in Zukunft nicht mehr so leicht das | |
[4][Homeoffice] verwehren können. Wir werden alle zu kleinen | |
Hygiene-Experten. Diese Krise wird nicht spurlos bleiben, das nicht. Aber | |
für eine Änderung der „individuellen Verhaltensorientierung“ scheint es e… | |
bisschen wenig, dass wir auch in Zukunft in die Armbeuge niesen. | |
Überlegen Sie einmal kurz, was Sie mit dem Jahr 1918 verbinden. Sie denken | |
zu Recht an das Ende des Ersten Weltkriegs. Eine Zäsur! Zugleich war dieses | |
Jahr auch der Beginn der größten Pandemie des 20. Jahrhunderts. An der | |
Spanischen Grippe starben zwischen 1918 und 1920 Schätzungen zufolge fünf | |
Prozent der Weltbevölkerung. Hochgerechnet auf die heutige Bevölkerungszahl | |
wären das fast 400 Millionen Tote. In zwei Jahren! Dass diese Katastrophe | |
trotzdem nicht Eingang ins Weltgedächtnis gefunden hat, hat einen Grund: | |
Die Spanische Grippe war brutal, aber sie war nicht prägend. Weder für | |
unsere Werte noch für unser Verhalten. Und auch nicht für die Politik. | |
Es ist das letzte und zugleich schwächste Argument von Bude. Wir würden | |
unsere Vorstellung von politischer Organisation ändern. Wirklich? Man kann | |
sich leicht vorstellen, dass Apologetiker*innen eines privaten, auf Gewinn | |
ausgerichteten Gesundheitssystems in den kommenden Jahren etwas ins | |
Hintertreffen geraten werden. Aber ändern wir unsere Vorstellung vom Staat, | |
gerät die Welt politisch aus den Fugen oder rückt gar enger zusammen? | |
Der Historiker Nolte stellt in seinem NDR-Interview die Coronakrise von | |
ihrem Ausmaß her in eine Reihe mit 9/11, dem Mauerfall und dem Zweiten | |
Weltkrieg. Die Aufzählung ist entlarvend. Denn sie zeigt deutlich, was | |
Zäsuren ausmachen: Sie verändern das Machtgefüge auf der Welt. | |
## Die Krise betäubt die Politik | |
Die Coronakrise befeuert politische Entwicklungen nicht, sie betäubt sie. | |
Die Weltpolitik befindet sich in einer Art Koma. Der bestimmende Akteur | |
dieser Zeit, das Virus, handelt nicht. Es sind die Menschen, die handeln. | |
Und momentan handeln sie fast überall auf der Welt im Gleichschritt. Das | |
ist ungewöhnlich, aber es greift nicht in die die Machtarithmetik dieser | |
Welt ein. | |
Wenn der Schleier dieser Krise irgendwann gehoben ist, wird die gleiche | |
Welt zum Vorschein kommen – im Guten wie im Schlechten. | |
Es gibt übrigens zwei Ausnahmen für diese Annahme. Beide betreffen einen | |
möglichen Impfstoff. Sollte ein einzelner Staat ein Mittel gegen das Virus | |
finden, wäre es zumindest denkbar, das dieses auch politisch genutzt, um | |
nicht zu sagen, missbraucht wird. Das würde unausweichlich zur besagten | |
Machtverschiebung führen. | |
Die andere Ausnahme betrifft das Gegenteil: Sollte mittelfristig kein | |
Impfstoff gefunden werden, müssen Gesellschaften auf Dauer lernen, ein | |
Gleichgewicht zwischen Freiheit und Risiko zu halten. Das wäre in der Tat | |
ein Einschnitt. Das wäre dann ein Zäsur. | |
3 May 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.ndr.de/nachrichten/info/Historiker-Nolte-Corona-Krise-ist-eine-… | |
[2] https://www.tagesspiegel.de/kultur/soziologe-bude-ueber-corona-folgen-fuer-… | |
[3] /Altenheime-nach-Corona/!5681235 | |
[4] /Von-zu-Hause-arbeiten/!5681075 | |
## AUTOREN | |
Daniel Böldt | |
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