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# taz.de -- Coronabekämpfung in Deutschland: Es gibt kein deutsches Impfdesast…
> Nein, wir sind nicht „Impfweltmeister“. Aber vieles läuft gut. Wir
> sollten die Schwarz-Weiß-Malerei lassen, auch für unser eigenes
> Wohlbefinden.
Bild: Es läuft nicht alles schlecht: Derzeit werden über 1,5 Millionen Dosen …
[1][Das „Impfdesaster“] ist eines der vielen neuen Wörter der Pandemie.
Fast jeden Tag liest man es in den Medien, dank [2][der neuen Verwirrungen
um AstraZeneca] zur Zeit erst recht, und längst wird es so beiläufig
verwendet wie Händewaschen, Inzidenz oder Schnelltest. Impfdesaster, klar!
Das ist mal so richtig in die Hose gegangen, da hat sich Deutschland
international bis auf die Knochen blamiert. Peinlich.
Es stimmt nur dummerweise nicht. Wir erleben in der deutschen Coronapolitik
gerade Desaster in diversen Bereichen: beim sinnvollen Einsatz von Tests,
[3][bei Lockerungen und Schließungen], bei der Ausstattung der Schulen mit
Luftfiltern oder digitalen Ersatzlösungen für den Präsenzunterricht. Aber
nicht beim Impfen.
Sicherlich gab es in der deutschen Impfkampagne diverse Pannen und auch
eine sehr schwerwiegende Fehlentscheidung. Vieles läuft aber auch ziemlich
gut. Das wird nur kaum gesehen.
So ist inzwischen ein Großteil der Bewohner von Alten- und Pflegeheimen, wo
es zu den meisten Todesfällen kam, geimpft. „Man könnte sagen, das knappe
Gut Impfstoff ist sehr effektiv eingesetzt worden“, schreibt der
Wissenschaftsjournalist Christian Meier zu Recht in seinem Text „Das
Schimpfdesaster“ [4][auf Übermedien].
## Wie das Jammern über die Deutsche Bahn
Derzeit werden [5][über 1,5 Millionen Dosen pro Woche verabreicht], Tendenz
– abgesehen von den AstraZeneca-Dellen – steigend. Der Chef des Instituts
für Makroökonomie und Konjunkturforschung, Sebastian Dullien,
[6][bekräftigte Anfang dieser Woche] seine Hochrechnung, dass bis Ende Juli
alle Deutschen, die wollen, eine Erstimpfung haben werden. Der
SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach [7][twittert sogar von Juni], auch
nach dem Aussetzen von Astra für unter 60-Jährige. Und, als meine
anekdotische, von mehreren Menschen bestätigte Evidenz: zumindest in den
Berliner Impfzentren wird äußerst effizient und freundlich gearbeitet.
Nach Desaster klingt das nicht. Und doch ist das unterkomplexe Narrativ
nicht mehr aus den Köpfen zu kriegen. Das versteht jeder, darauf können
sich alle einigen, wie beim Jammern über die Deutsche Bahn. Und immer
wieder werden die selben fünf, sechs Länder als Beweis dafür angeführt. Ja,
es gibt Israel, die USA, Großbritannien, Chile. Sie impfen schneller.
Freuen wir uns doch für sie!
Es ist schon absurd: Früher als erwartet gab es Impfstoffe, die dazu noch
deutlich wirksamer sind als erhofft. Statt das als tollen Bonus in der
Pandemiebekämpfung zu sehen, passierte das Gegenteil. Die deutsche
Impfkampagne wurde von Anfang an schlechtgeredet, ein internationaler
Impfwettbewerb startete und es ging nur noch darum, warum die nun schneller
sind als wir. Jeder Schwung wurde zerjammert. Deutschland übererfüllt in
dieser Frage spektakulär sein Klischee als Miesepeter und
Sich-selbst-Schlechtmacher.
[8][In der Impfweltrangliste] liegt Deutschland derzeit mit etwas über 17
Dosen/100 Einwohnern um Platz 35 herum. Es gibt tatsächlich einige weniger
reiche Nationen, die deutlich weiter sind: Serbien, Chile, Marokko vor
allem. Ja, es stimmt, sogar Serbien – kaum vorstellbar, haben sie auf dem
Balkan überhaupt elektrischen Strom? – hat bisher mehr Menschen geimpft.
Das klappt in diesen Ländern vor allem, weil dort die Zulassungen lockerer
sind. Aber wer hätte sich in Deutschland Sputnik-V spritzen lassen, bevor
es im Februar [9][den ersten positiven Artikel in The Lancet] dazu gab?
Oder CoronaVac vom chinesischen Hersteller Sinovac?
## Alles hinter Platz 1 wird nicht akzeptiert
Gleichzeitig liegen Schweden, Kanada, die Niederlande oder Frankreich
hinter Deutschland, Deutschland ist also international im Mittelmaß. Damit
ist man nicht „Impfweltmeister“, aber es ist eben auch kein Desaster. Bloß
eben in Deutschland, wo alles andere als Platz 1 nur schwer akzeptiert
wird. Das sieht man übrigens auch bei jeder Fußball-WM ohne deutsche
Finalteilnahme.
Zwei Dinge sollte man bei all dem trennen: Die Impfstoffbeschaffung und die
-verabreichung. Bei der Beschaffung ist tatsächlich ein entscheidender
Fehler passiert. Deutschland hätte mit seiner wirtschaftlichen Power, und
ohne der EU die Verträge mit den Impfstoffherstellern zu überlassen,
sicherlich aggressiver und mehr für sich kaufen können.
Ich bin trotzdem froh, dass hier europäisch gedacht wurde und wundere mich,
wie viele eher besonnene Menschen auf einmal den riskanten Politikstil von
Dicke-Eier-Männern wie Trump, Netanjahu und Johnson für erstrebenswert
halten, nur weil er hier ausnahmsweise gut funktioniert hat. Oder auch die
strikte America-First-Strategie, die Joe Biden nach seiner Amtsübernahme
von Donald Trump kaum geändert hat, Stichwort Exportverbote.
## Nachträglich ist es halt leichter
Die Schlagzeilen allerdings, wenn viele Milliarden in den Sand gesetzt
worden wären, weil mRNA-Impfstoffe sich doch als untauglich erwiesen
hätten, kann ich mir auch gut vorstellen. Fehler werden in Deutschland
selten verziehen, und was wir nachträglich alles besser wissen, sollen die
Entscheidungsträger gefälligst schon vorher bedenken. Andere Länder waren
auch lockerer bei der Zulassung. Again: Würde ein hier überhastet
zugelassener Impfstoff wirklich umfangreiche Nebenwirkungen haben (also
eben mehr als die geringen von AstraZeneca jetzt), würde daraus ein
Riesenskandal.
Klar ist es cool, sich an den Besten zu orientieren. Die Fehler bei der
Impfstoffbeschaffung lassen sich aber nicht mehr rückgängig machen. Ob wir
daraus gelernt haben, sehen wir bei der nächsten Pandemie (bitte nicht!!!).
In der Zwischenzeit kann man sich weiter mit Israel vergleichen – das ist
dann aber sehr frustrierend.
Das zweite große Feld ist die Impfstoffverteilung. Hier wird seit Wochen
von den Millionen Impfdosen gesprochen, die auf Halde liegen, „verkommen“
oder „vergammeln“. Ein perfektes Beispiel für deutsche Überbürokratisier…
sei das, während in den Impf-Superländern USA und Israel in Bars,
Supermärkten, ja bald vermutlich sogar auch öffentlichen Toiletten geimpft
wird.
Auch hier wäre differenzieren eine schöne Idee: Sämtliche Impfdosen werden
niemals verimpft sein. Zum einen kommen sie in größeren Schüben an, zum
zweiten müssen Puffer zurückgehalten werden. Dass auf Lieferversprechen der
Konzerne nur bedingt gebaut werden sollte, dürften alle verstanden haben.
Groß wäre das Geschrei, wenn auf einmal Zweitimpfungen platzen würden, weil
zu knapp kalkuliert wurde.
## In den USA ist auch nicht alles gut
[10][Ende März] waren in Deutschland 81 Prozent aller Impfdosen verimpft.
Und in den USA? 78 Prozent. Dort liegen [11][mehr als 40 Millionen Dosen
auf Halde]. Auch [12][in den USA gibt es] einen regionalen
Impfflickenteppich und zusammenbrechende Buchungssysteme. Und für Weiße und
Asian Americans ist es deutlich leichter, sich impfen zu lassen, [13][als
für Schwarze und Latinos].
Das ist die andere Seite des Pragmatismus, nach dem gerne gerufen wird
gerade. Ist ja auch eine Supersache – aber dann wird es halt schwieriger,
die Impfreihenfolge einzuhalten. Und das wäre eben nicht egal in einem
Land, wo Neid und Fairnessgefühl eine übergroße Rolle spielen, wo es zu
einem Riesenskandal hochgejazzt wurde, als einige Landräte übriggebliebene
Impfdosen nutzen, wo unter einem happy Facebook-Post über eine Impfung mit
„Schön für euch. Meine Mutter (77) wartet immer noch“ geantwortet wird.
Was hingegen ein dicker Fehler war: Die komplexen und undurchsichtigen
Terminvergabe-Verfahren, die in vielen Bundesländern zu
Telefonwarteschleifen-Abenteuern und Frust geführt haben. Und auch das
Impf-Erwartungsmanagement war nicht das glücklichste. Wobei das nicht nur
an der Politik liegt – seit Mitte Januar war klar, dass der Impfstoff erst
mal knapp bleibt. Dann von Tag zu Tag, von Woche zu Woche immer wieder aufs
Neue enttäuscht zu sein, dass die älteren Verwandten immer noch nicht dran
sind, erinnert – sorry! – an beleidigte Kinder, die mit dem Fuß aufstampfen
und jetzt doch aber sofort Süßigkeiten haben wollen.
## Unsere mentalen Ressourcen brauchen wir anderswo
Das geht selbstverständlich an die Substanz. Weshalb wir gut daran täten,
das „Impfdesaster“ mental mal zum „Ganzokayerimpfprozess“ zu machen und
nicht ausschließlich die schlechten Seiten zu sehen. Wir erleben schon
genug Frust und unsere knappen mentalen Energieressourcen brauchen wir
anderswo.
Gleichzeitg ist das Narrativ ein Trick von Landes- und Kommunalpolitikern
geworden, um von der Verantwortung für eigene Fehler abzulenken: „Wir
sollten lieber mal mehr Tempo ins Impfen kriegen“ heißt es dann und
vermittelt den Eindruck, als würde jeden Tag aufs Neue diese Chance vertan
– was tatsächlich ein Versagen von desaströsen Ausmaßen wäre.
Mit dem zweiten Quartal soll nun deutlich mehr Impfstoff kommen. Erst ab
jetzt entscheidet sich, ob die deutsche Impfkampagne klappt oder scheitert.
Abgerechnet wird zum Schluss. Aber bis dahin sollten wir die
Schwarz-Weiß-Malerei mit dem „Impfdesaster“ einfach mal sein lassen. Auch
für unser eigenes Wohlbefinden.
5 Apr 2021
## LINKS
[1] /Pandemie-Management-in-Deutschland/!5754707
[2] /Impfstoff-von-AstraZeneca/!5758727
[3] /Massnahmen-in-der-Pandemie/!5758726
[4] https://uebermedien.de/58219/das-schimpfdesaster/
[5] https://impfdashboard.de/
[6] https://twitter.com/SDullien/status/1376475404257665031
[7] https://twitter.com/Karl_Lauterbach/status/1377194043059404800
[8] https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/corona-impfungen-deutschland-impfquot…
[9] https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(21)00191-4/…
[10] https://twitter.com/SDullien/status/1376515607328395268
[11] https://www.nytimes.com/interactive/2020/us/covid-19-vaccine-doses.html
[12] https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-02/corona-impfung-usa-versorgung-…
[13] https://www.bloomberg.com/graphics/covid-vaccine-tracker-global-distributi…
## AUTOREN
Michael Brake
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