| # taz.de -- Die These: Gönnt den anderen ihre Schwächen! | |
| > Seit Beginn von Corona sind Misstrauen und Belehrung unsere | |
| > selbstgerechten Begleiter. Das ist nicht gut. Wir sollten an das Gute in | |
| > uns glauben. | |
| Bild: Dürfen die das?! Schlittenfahrten im winterlichen Rothaargebirge | |
| So wie es die fünf Phasen der Trauer gibt (Leugnen, Wut, Verhandeln, | |
| Depression, Akzeptanz), gibt es auch die fünf Phasen der Coronabewältigung: | |
| 1. Daran wachsen wir als Gesellschaft! 2. Alle scheiße, außer mir! 3. | |
| Irgendwann ist es geschafft! 4. Das hört niemals auf! 5. Lalala, ich schaue | |
| Serien und tue so, als wäre nix passiert. | |
| Anders als die fünf Phasen der Trauer treten die Coronaphasen aber nicht | |
| nacheinander auf, sondern wechseln sich munter ab. Ich selbst bin aktuell | |
| in Phase zwei, also im Team Genervt. Ich bin genervt vom Versagen „der | |
| Politik“ im Allgemeinen und [1][von den Ministerpräsident:innen im | |
| Speziellen]. Ich bin genervt von Vorgesetzten, die [2][auf Präsenzpflicht | |
| statt Homeoffice] bestehen. Ich bin genervt von Pflegepersonal, das sich | |
| impfen lassen könnte, es aber nicht will. | |
| Und ich bin genervt von den Menschen um mich herum. Von den drei eher | |
| kerligen Typen, die um die Ecke vorm Hauseingang stehen und sich ohne Maske | |
| in Normaldistanz unterhalten. Von der Frau mit dem Hund, die auf dem | |
| Bürgersteig nicht einen Zentimeter zur Seite weicht, als wir aneinander | |
| vorbeigehen. Von den Leuten, vor der Bankfiliale, die zwar Schlange stehen, | |
| aber praktisch ohne Abstand. Von den vielen weiteren Menschen, die draußen | |
| unterwegs sind, obwohl doch kaum was offen hat, und von den Schneefans, die | |
| vor zwei Wochen ins Sauerland oder den Harz fuhren, bis die Straßen | |
| gesperrt werden mussten. Jetzt reißt euch halt zusammen! Echt mal. | |
| Aber, stopp! Ich will das gar nicht. Also genervt sein sowieso nicht, aber | |
| auch nicht dauernd über andere Leute aus der Ferne urteilen. | |
| ## „Wenn die das dürfen, will ich aber auch“ | |
| Seit Beginn der Pandemie sind Misstrauen und Missgunst, Beurteilung und | |
| Belehrung unsere selbstgerechten Begleiter. Wir blicken auf Nachbarn und | |
| Kneipengäste, analysieren Instagram-Feeds, vermessen die Bevölkerungsdichte | |
| von Liegewiesen und Fußgängerzonen, und unsere Reaktionen oszillieren | |
| zwischen „Wenn die das dürfen, will ich aber auch“ und „Schau, die reiß… | |
| mit dem Arsch ein, was wir über Wochen aufgebaut haben“. | |
| Manche Gruppen werden sogar zum Medienthema: Mal die Jugendlichen, die | |
| angeblich [3][permanent in Parks „Coronaparty“ machten], mal die Touristen, | |
| mal die Leute, die sich in der Adventszeit draußen zum Glühweintrinken | |
| trafen, und jetzt eben die Hobbywintersportler. | |
| Das ist nicht gut. Die aktuelle Zeit ist mental schon anstrengend genug, da | |
| sollten wir uns nicht auch noch permanent beäugen und übereinander | |
| herfallen. Wir sollten gnädig miteinander sein. Wir dürfen das Gönnen nicht | |
| verlernen! | |
| Es ist doch so: Jede und jeder versucht gerade, einen moralisch halbwegs | |
| sauberen und emotional halbwegs befriedigenden Weg durch diesen | |
| Schlamassel zu finden. Manche haben dafür bessere äußere Voraussetzungen | |
| als andere – keine Vorerkrankungen, einen krisensicheren Job, liebe | |
| Menschen im eigenen Haushalt, keine zu behomeschoolenden Kinder, | |
| schweineviel Geld –, aber so ziemlich alle müssen gerade krass viel | |
| Unsicherheit aushalten und irgendwie klarkommen. | |
| ## Verschiedene Menschen, verschiedene Bedürfnisse | |
| Dabei unterscheiden wir uns in unseren Bedürfnissen. Was für mich einfach | |
| ist, mag für andere wirklich schwierig sein – und umgekehrt. Für manche ist | |
| es tatsächlich kein Problem, Freunde nur noch online zu sehen. Oder Hobbys | |
| nachzugehen, die allein in den eigenen vier Wänden funktionieren. Für | |
| andere eben schon. | |
| Ich kann zum Beispiel nur schwer begreifen, warum Religionsgemeinschaften | |
| sich so dringend in Innenräumen treffen und dabei eventuell sogar noch | |
| singen müssen. Glaube an sich ist mir schon unverständlich, und dass man | |
| den nicht eine Zeitlang allein für sich ausüben kann – Gott ist doch | |
| überall und so – noch weniger. | |
| Aber gut: Es scheint ein wichtiger seelischer Ausgleich zu sein, diese | |
| Dinge in Gemeinschaft zu tun. Es wäre gut, wenn ich das akzeptieren könnte. | |
| Umgekehrt wünsche ich mir mehr Verständnis, dass für andere Menschen das | |
| Tanzen zu lauter elektronischer Musik an speziellen Orten eine ähnliche | |
| Funktion erfüllt und dass das im Freien, mit Abstand eben auch möglich ist. | |
| Und für noch andere der regelmäßige Gang ins Fitnessstudio. Oder der | |
| Boardgame-Nachmittag. | |
| In den ersten Pandemiemonaten wurde häufig betont, dass der | |
| Infektionsschutz, bei aller Bedeutsamkeit, keine Ultima Ratio sein kann, | |
| dass man auch die psychischen Folgekosten der Teilisolation dagegenhalten | |
| muss. Das sollte jetzt, wo sich die Lage verschärft, sogar noch mehr gelten | |
| als zu Anfang der Pandemie, wo sich vieles noch wie ein aufregendes | |
| Abenteuer anfühlte. | |
| Klar ist schwer dagegen an zu argumentieren, warum man unbedingt diese eine | |
| Chorprobe, dieses eine gemeinsame Kochen braucht. Man braucht es nicht. | |
| Aber monatelang auf seine Lieblingsaktivitäten oder auch nur auf sozialen | |
| Kontakt zu verzichten, das geht achtsamkeitstechnisch eben auch nur schwer | |
| klar. | |
| ## Ein Aussetzer hin und wieder ist völlig okay | |
| Corona wird kein Sprint, sondern ein Marathon, hieß es im Frühjahr 2020 | |
| oft. Inzwischen fühlt es sich eher wie ein Ultraman an, ein Ultraman des | |
| Verzichts. Den aber halten wir als mehrheitlich ungeübte Pandemie-Athleten | |
| mental nur durch, wenn wir uns auch kurze Verschnaufpausen erlauben. Bei | |
| Fasten- und Diätaktionen nennt man so was „Cheat Day“: Ein Aussetzer hin | |
| und wieder ist völlig okay, aber danach geht es weiter. Besser als am | |
| eigenen Perfektionsanspruch zu zerbrechen. | |
| Cheat-Momente sollten wir uns – selbst und gegenseitig – auch in der | |
| Pandemie gönnen. Das sollte dann kein Pokerturnier mit 50 Mann im schlecht | |
| belüfteten Partykeller sein. Aber vielleicht doch mal mehr als einen Freund | |
| treffen. Oder eben mal raus zum Langlaufski. | |
| In [4][einer Umfrage von Anfang Januar] hielten 53 Prozent der Deutschen | |
| die Coronamaßnahmen für angemessen, weitere 30 Prozent sagten sogar, sie | |
| gingen nicht weit genug. Man darf also annehmen, die meisten Leute | |
| hierzulande nehmen die Sache ernst und handeln coronakonform, so gut sie | |
| eben können. | |
| Dann gehen wir doch also erst mal vom Guten aus! Die Glühweinwalker und die | |
| Schneefreunde haben sich für Aktivitäten an der frischen Luft entschieden, | |
| bei denen sie auch gut Abstand halten können, statt sich zum Kaffeetrinken | |
| in ihrer Wohnung zu treffen. Die Frau mit dem Hund hatte vielleicht einen | |
| sehr stressigen Tag und nicht mehr die Kraft zur Rücksichtnahme durch | |
| Ausweichen. | |
| ## Der Verzicht bleibt unsichtbar | |
| Der Jugendliche, der im Sommer einer Gruppe Gleichaltriger im Park zu nahe | |
| gekommen ist, hat bestimmt auch auf sehr viel verzichtet, auf Hobbys, viele | |
| Partys, ein normales Schulleben – aber in diesem Moment eben mal nicht. Das | |
| Dumme ist: Den Verzicht sehen wir nicht, nur die Ausnahmen. Genau wie bei | |
| dem älteren Ehepaar, dass am letzten Wochenende vorm zweiten Lockdown noch | |
| mal ins Restaurant gegangen ist. Das hat vielleicht sein Enkelkind noch nie | |
| gesehen, seinen Urlaub abgesagt und war auch nicht mehr in der Oper. Aber | |
| dieses eine Essen sollte eben noch sein. | |
| Natürlich besteht dabei das Risiko einer Ansteckung. Wenn wir alle aber 24 | |
| von 25 Kontaktmöglichkeiten weglassen, ist eben auch schon sehr viel | |
| erreicht. | |
| Das bedeutet nun nicht, dass alles egal und gerechtfertigt ist. Noch immer | |
| gibt es zu viele Leute, die nicht begreifen wollen, dass auch sie selbst | |
| und ihr direkter Bekanntenkreis sich mit Covid-19 infizieren können und sie | |
| damit die Pandemie als Ganzes am Laufen halten. Die sich bestenfalls | |
| widerwillig an die Regeln halten und für die fast jeder Tag ein Cheat Day | |
| ist. Das ist nicht okay, erst recht nicht angesichts von drohenden | |
| Mutationen. | |
| Aber lasst uns doch zumindest erst mal bei allen Menschen annehmen, dass | |
| sie sich Mühe geben und ihren Beitrag leisten. Und gönnen ihnen Schwächen | |
| und Verschnaufpausen. Dann klappt es auch besser mit Phase eins der | |
| Coronabewältigung. | |
| 17 Jan 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Verordnungen-der-Laender/!5743000 | |
| [2] /Coronabeschluesse-zur-Arbeitswelt/!5738281 | |
| [3] /Debatte-um-illegale-Partys-geht-weiter/!5699657 | |
| [4] https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend/ | |
| ## AUTOREN | |
| Michael Brake | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Empathie | |
| Misstrauen | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Kolumne Habibitus | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Coronabekämpfung in Deutschland: Es gibt kein deutsches Impfdesaster | |
| Nein, wir sind nicht „Impfweltmeister“. Aber vieles läuft gut. Wir sollten | |
| die Schwarz-Weiß-Malerei lassen, auch für unser eigenes Wohlbefinden. | |
| Kampagne #zerocovid: Deutschland, mach dicht! | |
| Die aktuellen Coronamaßnahmen erfüllen das Muster: Arbeiten ja, Privatleben | |
| nein. Das funktioniert nicht. Wir brauchen einen solidarischen Lockdown. | |
| In der Corona-Warteschlange: Das Prinzip des Anstands | |
| Menschen stehen derzeit oft in Warteschlangen. Immer wieder posten andere | |
| Fotos davon und lästern darüber. Was steckt hinter diesem Phänomen? | |
| Sündenböcke in Coronapandemie: Schuld sind nicht nur die anderen | |
| Angst vor Corona verstärkt Vorurteile gegenüber anderen. Besser ist, wenn | |
| jeder sein eigenes Gesundheitsmanagement entwickelt. |