# taz.de -- Verordnungen der Länder: Die Corona-Kakophonie | |
> Die Ministerpräsident:innen der Bundesländer hatten sich mit der | |
> Kanzlerin auf Corona-Regeln geeinigt. Doch in der Praxis interessiert sie | |
> das wenig. | |
Bild: Neues Jahr, alte Uneinheitlichkeit bei Corona-Regeln | |
BERLIN taz | Es ist die signifikanteste Änderung der bisherigen | |
Corona-Regeln. Am 5. Januar vereinbarten die Ministerpräsident:innen mit | |
der Bundeskanzlerin: „In Erweiterung der bisherigen Beschlüsse werden | |
private Zusammenkünfte im Kreis der Angehörigen des eigenen Hausstandes und | |
mit maximal einer weiteren nicht im Haushalt lebenden Person gestattet.“ So | |
steht es in ihrem Beschluss. Das wäre eine drastische Einschränkung der | |
erlaubten privaten Kontakte. Aber wie setzen die Bundesländer diese etwas | |
eigentümliche Verabredung um? | |
Eigentümlich ist der [1][Beschluss der Regierungsschef:innen] deswegen, | |
weil er einen logischen Widerspruch enthält: Dem Wortlaut nach könnte sich | |
zwar ein Paar mit einem Bekannten treffen, aber der Bekannte nicht mit dem | |
Paar. Denn sonst käme er ja mit zwei Personen aus einem anderen Hausstand | |
zusammen. Was nicht erlaubt wäre. | |
Erstaunlich ist, dass nur Niedersachen dieses Problem erkannt zu haben | |
scheint. Das Land erlaubt deswegen [2][in seiner aktuellen | |
Corona-Verordnung] als einziges einer Einzelperson, sich „mit mehreren | |
Personen aus einem gemeinsamen Hausstand“ aufzuhalten. Alle anderen | |
Bundesländer beschränken sich hingegen betriebsblind auf die | |
Ein-Hausstand-plus-eine-Person-Regel. | |
Das heißt allerdings keineswegs, dass nun überall das Gleiche gilt. Denn | |
äußerst uneinheitlich beantworten die Länder die Frage, inwiefern in diese | |
Regel auch Kinder einbezogen werden sollen. Hamburg, Niedersachsen, | |
Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein, Thüringen und das Saarland | |
sehen für sie keine Ausnahmen vor. [3][In Bayern] werden hingegen Kinder | |
bis zur Vollendung des 3. Lebensjahres nicht mitgezählt, in Rheinland-Pfalz | |
bis 6 Jahre, [4][in Baden-Württemberg] und Brandenburg sind sogar noch | |
14-Jährige ausgenommen. | |
## Keine Spur von Einheitlichkeit | |
In Bremen liegt die Grenze bei 12 Jahren, wobei sich bis zu diesem Alter | |
Gruppen von Kindern ohne Mengenbeschränkung treffen dürfen. In | |
Mecklenburg-Vorpommern werden ebenfalls Kids nicht mitgezählt, wenn sie 12 | |
Jahre oder jünger sind – aber nur dann, „wenn dies aus Gründen der | |
Betreuung des Kindes erforderlich ist“. Und in Berlin werden ausschließlich | |
die bis 12-Jährigen von Alleinerziehenden nicht mitgerechnet. | |
Bemerkenswert ist, dass die Bundesländer auch keine einheitlichen Lösungen | |
für die Vereinbarkeit der Ein-Hausstand-plus-eine-Person-Regel mit den | |
Notwendigkeiten der Kinderbetreuung haben. So erlauben Bayern, | |
Baden-Württemberg, Sachsen oder das Saarland die wechselseitige | |
„unentgeltliche, nicht geschäftsmäßige Beaufsichtigung“ von Kindern unter | |
14 Jahren „in festen, familiär oder nachbarschaftlich organisierten | |
Betreuungsgemeinschaften“ – und zwar unter der Voraussetzung, dass sie | |
„Kinder aus höchstens zwei Hausständen umfasst“. Bis zu drei Familien darf | |
eine solche Betreuungsgemeinschaft in Hessen umfassen, „wenn die sozialen | |
Kontakte im Übrigen nach Möglichkeit reduziert werden“. | |
In etlichen Landesverordnungen finden sich erst gar keine Festlegungen zu | |
der Größe von Betreuungsgemeinschaften, ja nicht einmal der Begriff taucht | |
auf. Aber dafür gilt in Niedersachsen immerhin die generelle | |
Kontaktbeschränkung nicht beim Bringen und Abholen von Kindern und | |
Jugendlichen zu und von Kitas oder Schulen – eine Ausnahme, die anderswo | |
fehlt. | |
Warum für Kinder und Eltern von Bundesland zu Bundesland Unterschiedliches | |
gilt, erschließt sich weder auf den ersten, noch den zweiten Blick. Mit dem | |
jeweiligen Infektionsgeschehen lässt sich das jedenfalls nur schwerlich | |
rechtfertigen. | |
## Chaos auch bei Bewegungsbeschränkungen | |
Aber das sind nicht die einzigen Fragen, auf die die Länder ungleiche | |
Antworten geben. Eine weitere nicht unbedeutende: Bezieht sich die | |
verbindliche Beschränkung privater Kontakte nur auf den öffentlichen Raum | |
oder soll sie bis in die eigenen vier Wände reichen, also in die | |
unmittelbare Privatsphäre? | |
In Hessen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz beschränkt sich die | |
verordnete Kontaktbegrenzung nur auf öffentliche Orte. Das Saarland und | |
Thüringen verzichten auf eine Differenzierung, während Baden-Württemberg, | |
Bayern, Berlin, Brandenburg, Hamburg, Niedersachsen, Sachsen, | |
Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Bremen explizit auch Privaträume mit | |
einbeziehen. Wobei Hamburg auch ausdrücklich Fahrzeuge miteinschließt, wenn | |
sie „zum Zwecke der Freizeitgestaltung“ genutzt werden. | |
Noch eine weitere Bund-Länder-Vereinbarung sorgte für heftige Diskussionen: | |
Dass die Länder in Landkreisen mit einer 7-Tages-Inzidenz von über 200 | |
Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner:innen „weitere lokale Maßnahmen nach | |
dem Infektionsschutzgesetz ergreifen, insbesondere zur Einschränkung des | |
Bewegungsradius auf 15 km um den Wohnort“. | |
Auch hier haben es die Landesregierungen nicht vermocht, sich in der Praxis | |
auf eine gemeinsame Linie zu verständigen. In den Verordnungen der meisten | |
Länder steht zwar nun der eingeschränkte Bewegungsradius für den Fall einer | |
hohen 7-Tage-Inzidenz. In Baden-Württemberg, Berlin, Bremen, Hamburg und | |
Nordrhein-Westfalen jedoch nicht. Wobei sich in NRW vier Hotspot-Kreise am | |
Montag trotzdem dafür entschieden. | |
## Eine Frage der Philosophie? | |
In Bayern und im Saarland sind den Einwohner:innen der betreffenden | |
Landkreise oder kreisfreien Städte nur touristische Tagesausflüge | |
untersagt. Und in Thüringen sind die Bürger:innen nicht verpflichtet, | |
[5][sondern bloß „angehalten“], sich innerhalb einer Entfernung von nicht | |
mehr als 15 Kilometer vom Wohnort zu bewegen. Sie müssen sich also nicht | |
daran halten. Wer von Erfurt aus einen Ausflug nach Leipzig machen will, | |
kann das machen. Umgekehrt ist das nicht erlaubt. Nachvollziehbar ist ein | |
solcher Flickenteppich nicht. | |
Wie erklären sich die zahlreichen Unterschiede zwischen den Ländern bei | |
anscheinend klarer gemeinsamer Beschlusslage? Dahinter könnten eine | |
divergierende „Philosophie“ stehen: Geht es um die praktische Umsetzbarkeit | |
einer Anordnung oder ist sie weitgehend nur symbolisch zu verstehen? | |
Die Corona-Verordnungen leiden darunter, dass mit ihnen – mal mehr, mal | |
weniger – ein schwieriger Spagat versucht wird: Sie sollen einerseits eine | |
juristische Grundlage für staatliches Handeln geben, aber andererseits auch | |
einen propagandistisch-aufklärerischen Zweck erfüllen – im vollen | |
Bewusstsein, dass die Nichteinhaltung bestimmter Anordnungen eben kein | |
staatliches Handeln zur Konsequenz haben wird. Die Bürger:innen sollen so | |
zu einem besonnenen Verhalten animiert werden, zu dem sie ohne die Drohung | |
möglicherweise nicht bereit wären. Für die gute Sache wird mit dem | |
autoritären Charakter potentieller Verweigerer:innen gespielt. | |
Das hat zur Folge, dass manche Regeln tatsächlich als verbindlich zu | |
verstehen sind, andere jedoch eigentlich nur als bloße Appelle. Eklatantes | |
Beispiel dafür sind die Ausgangsbeschränkungen in mehreren Bundesländern, | |
unter anderem in Bayern oder Baden-Württemberg. | |
## Folgenlose Ausgangssperre | |
Auch in Berlin gibt es eine entsprechende Regel. „Das Verlassen der eigenen | |
Wohnung oder gewöhnlichen Unterkunft ist nur aus triftigen Gründen | |
zulässig“, heißt es seit dem 10. Dezember in der dortigen Landesverordnung. | |
Doch der Großteil der Hauptstadtbewohner:innen dürfte davon erst erfahren | |
haben, als ausgerechnet Berlins Justizsenator Dirk Behrendt Anfang des | |
Monats öffentlich die Aufhebung dieser „härtesten Grundrechtseinschränkung | |
in der Geschichte der Bundesrepublik“ forderte, weil sie „juristisch | |
zweifelhaft und für die Pandemie-Bekämpfung überflüssig“ sei. | |
„Die Ausgangssperre zwingt die Berliner Bevölkerung, sich zur Wahrnehmung | |
ihrer grundlegenden Handlungsfreiheit gegenüber staatlichen Stellen zu | |
rechtfertigen“, wetterte der Grüne – durchsetzen konnte er sich jedoch | |
nicht. Die seit dem 10. Dezember geltende Ausgangsbeschränkung steht auch | |
in der aktuellen Berliner Corona-Verordnung. | |
Den Berliner:innen kann es wurscht sein. Denn der von Behrendt kritisierte | |
Grundrechtseingriff steht nur auf dem Papier, bleibt praktisch folgenlos. | |
Sie müssen sich keineswegs vor Polizist:innen rechtfertigen, was sie gerade | |
auf der Straße machen – weil diese sie aus gutem Grund nicht behelligen. | |
Nicht nur, dass die Beamt:innen mit solchen Kontrollen schon rein | |
mengenmäßig völlig überfordert wären, sie würden sich auch schnell zu | |
Lachnummern machen. | |
## Höchste Zeit für eine einheitliche Linie | |
Der einfache Grund: die zahlreichen „triftigen Gründe“, [6][die der Senat | |
aufführt], wegen denen man dann doch noch die Wohnung verlassen darf: von | |
den „Besorgungen des persönlichen Bedarfs“ über die Teilnahme an „priva… | |
Zusammenkünften“ bis zur „Bewegung im Freien“. Die verordnete | |
Ausgangsbeschränkung hat also – zum Glück – real nur akklamatorischen | |
Charakter. Es wirkt nicht gerade wie eine besonders kluge Idee, aus Gründen | |
der Volkspädagogik mit Grundrechtseingriffen zu spielen. | |
Ähnlich verhält es sich mit der neuen Ein-Hausstand-plus-eine-Person-Regel. | |
Glaubhaft versichern alle Landesregierungen unisono, dass sie nicht | |
beabsichtigen, zur Kontrolle Polizist:innen die Wohnungen der Republik | |
stürmen zu lassen. Warum ein Großteil der Länder trotzdem Privaträume in | |
den rechtlichen Wirkungsbereich der Kontaktbeschränkung einbeziehen, lässt | |
sich nur volkspädagogisch motiviert erklären. | |
Das Problem: Auch die Unverletzlichkeit der Wohnung ist ein hohes | |
grundgesetzlich geschütztes Gut, mit dem nicht leichtfertig umgegangen | |
werden darf. Das bedeutet: Ein jeglicher Eingriff darf ausschließlich dann | |
angeordnet werden, wenn er als unabdingbar notwendig erachtet wird – dann | |
aber muss er auch durchgesetzt werden. | |
Anders als im Sommer und Herbst, wo es zwischen den Landesregierungen noch | |
erhebliche Differenzen in der Einschätzung der Entwicklung der Pandemie | |
gab, scheinen mittlerweile alle Ministerpräsident:innen die Dramatik der | |
Lage erkannt zu haben. „Ich habe mich von Hoffnung leiten lassen, was sich | |
jetzt als bitterer Fehler zeigt“, hat Thüringens linker Ministerpräsident | |
Bodo Ramelow mit erfreulicher Klarheit eingestanden. | |
Allerdings fehlt es den Ministerpräsident:innen immer noch an einer | |
konsistenden gemeinsamen Linie der Krisenbewältigung. Es ist ihnen nicht | |
gelungen, einheitliche Standards zu definieren. Stattdessen herrscht eine | |
Regelkakofonie. Das reicht von der divergierenden Umsetzung der unstimmigen | |
Kontaktbeschränkungen bis zum desatrösen Schulchaos. Bei vergleichbarem | |
Infektionsgeschehen ist es jedoch unverständlich, dass in einem Land | |
erlaubt ist, was im anderen verboten. Und umgekehrt. | |
Die Eingriffe des Staates in das Alltagsleben der Menschen sind ohne | |
Zweifel gravierend. Die Akzeptanz dafür ist angesichts der hohen | |
Infektions-, vor allem jedoch der fatalen Todeszahlen ebenfalls derzeit | |
noch groß. Das ist gut und richtig so. Doch das wird nur so bleiben, wenn | |
die Einschränkungen, denen die Menschen in der Bundesrepublik ausgesetzt | |
sind und auf absehbare Zeit auch bleiben werden, möglichst | |
widerspruchsfrei, plausibel und gerecht erscheinen. Es wäre an der Zeit. | |
12 Jan 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.bundesregierung.de/resource/blob/997532/1834306/75346aa9bba1050… | |
[2] https://www.niedersachsen.de/download/162772 | |
[3] https://www.verkuendung-bayern.de/baymbl/2020-737/ | |
[4] https://www.baden-wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/dateien/PDF/Coronainf… | |
[5] https://corona.thueringen.de/verordnungen | |
[6] https://www.berlin.de/corona/massnahmen/verordnung/ | |
## AUTOREN | |
Pascal Beucker | |
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