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# taz.de -- „Charlie-Hebdo“-Satirikerinnen: Spitze Federn in Ballons
> „Le Pen wäre eine Katastrophe“, sagt die eine. „Wir müssen menschlich
> bleiben“, die andere. Ein Treffen mit Mitarbeiterinnen von „Charlie
> Hebdo“.
Bild: Keine Angst – Kundgebung nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“
Paris taz | Es fühlt sich an wie am Set. Die Rue de la Butte aux Cailles
könnte auch in „Die fabelhafte Welt der Amélie“ zu sehen gewesen sein,
diesem Film von 2001 über La belle France, in dem es von zauberhaften
Lädchen, Menschen mit Esprit und leckeren Etablissements nur so wimmelt.
Hier, im 13. Arrondissement nahe der lärmigen Place d’Italie, geht es
beschaulich, fast dörflich zu und die gemütliche Brasserie Les Tanneurs ist
mittendrin. Sie ist ein Stammlokal von Minka Schneider, 35, seit Ende
letzten Jahres Chefredakteurin der wöchentlichen deutschen Edition des
Satiremagazins Charlie Hebdo.
Schneider heißt eigentlich anders – viele Neuzugänge bei Charlie haben seit
den Anschlägen von 2015 Pseudonyme gewählt. Sie kommt ursprünglich aus
Ostdeutschland, im Lässiglook wirkt sie wie aus Berlin-Kreuzberg.
Schneider lebt seit neun Jahren in Paris und ist zweisprachig. „Ich hab
keine Angst. Ich bin mittendrin, mittendrin diese bizarren französischen
Verhältnisse mit Verve zu verarbeiten. Ich hab Sarko mitgemacht, dann
Hollande, und jetzt? Marine Le Pen wäre eine Katastrophe. Auch wenn sie
extrem taugt für Satire.“
## Geradezu auf die Pointe
Das Les Tanneurs – um die Ecke ranken Rosenbüsche und Glyzinien in die Höhe
– ist so etwas wie der fast unwirklich erscheinende Gegenentwurf zum
Redaktionsgebäude von Charlie, das nicht weit entfernt liegt, komplett
abgeriegelt, nur für die Mitarbeiter zugänglich und stets von
Sicherheitsleuten bewacht. Coco, die mit richtigem Namen Corinne Rey heißt,
aber nur ihren Künstlernamen verwendet, kommt mit diskreten Leibwächtern
zum Lunch. Sie hatte nach der Anschlagsserie vom November 2015 einen Fries
für die taz gezeichnet, einen Fries zum „Lachen und zum Weinen“ und über
das Haus hatte sie gesagt: „Es ist ein Meerblick mit Sehschlitzen.“
Beim Anschlag auf Charlie wurde sie damals von den Tätern gezwungen, den
Code zu den Redaktionsräumen einzugeben. Jetzt sitzt Coco, 35, in der
Brasserie neben Minka Schneider. Es gibt Entenbrust, Pfirsich Melba zum
Nachtisch, Lunch ist ein Genießerpflichttermin in Paris, nichts mit To-go.
Da ist sie noch – die Zeit, sie sich zu nehmen, um länger zu essen. Um zwei
Stunden über Frankreich zu reden, darüber, wie sich Charlie sieht, in
dieser „clivage“, diesem Macron-Le-Pen-Altparteien-Riss, der hier durch die
Gesellschaft geht. Coco, die die heutige Titelseite der taz gestaltet hat,
ist zierlich, wirkt so zart wie lebensstark.
„Letztens habe ich von einem Anschlagsopfer im Bataclan gehört, das am
Sonntag Marine Le Pen wählen will“, sagt sie. „Da ist mir wieder bewusst
geworden: So bin ich nicht und bin es auch nicht durch den Anschlag auf
Charlie geworden. Der Terror war und ist furchtbar, aber ich will nicht,
dass der Hass von Le Pen, dieses ausgrenzende Verhalten, an die Macht
kommt. Trotz allem müssen wir menschlich bleiben.“
Schneider nickt, sie hat die aktuellen Charlie-Ausgaben mitgebracht, auf
der deutschen haut eine weißbehandschuhte Boxerfaust aus einem Wahlbrief
heraus Le Pen direkt auf deren weitaufgerissenen Mund: „Gewählt!“ lautet
die Titelzeile. Auf der französischen findet sich dieses Motiv auf der
Rückseite, auf der Eins steht nur weiß auf schwarz in Riesenlettern:
„Müssen wir Ihnen jetzt wirklich eine Zeichnung anbieten?“
Im Innenteil dann – bei beiden Blättern – satirische Fanfarenstöße in Te…
und Bild, einerseits oft derber als Vergleichbares in Deutschland und sehr
geradezu auf die Pointe, andererseits von einer analytischen Schärfe in
Bezug auf politische und gesellschaftliche Themen wie Feminismus, Laizität
und Umweltschutz, wie sie sich selten in entsprechenden deutschsprachigen
Publikationen findet.
Aber, so Schneider, der Vergleich zwischen etwa der deutschen Titanic,
Charlie, aber auch der Wochenzeitung Le canard enchainé, die die Affäre
Fillon aufgedeckt hat, hinke. „Das funktioniert aus meiner Sicht nicht.
Französische Satireblätter wollen immer auch im Hier und Jetzt aufklären,
neben der Pointe noch Politik machen. Wir nennen es ,gymnastique
intellectuelle'.“
Seit der Französischen Revolution schon gibt es viele Zeichner, die
gleichzeitig auch Journalisten sind. Riss, der Redaktionsdirektor, ist so
ein Beispiel, er schreibt dieses Mal in seinem wöchentlichen Leitartikel
unter dem Titel „Weder Nichtwähler noch Nichtwähler“ über die „tragisc…
Eitelkeit“ linker Nichtwähler: „Paradox, dass sich viele linke Wähler, die
sich für unerbittliche Gegner des Wirtschaftsliberalismus halten, wie
Konsumenten verhalten. Weil der zweite Wahlgang ihnen nicht das Produkt
bietet, das sie gerne hätten, enthalten sie sich eben.“
## „Was soll dieses populistische Geschrei?“
Und, gleich nach dem ersten Wahlgang: „Charlie Hebdo ist keine politische
Partei und macht für keine Partei Wahlkampf. … Doch man wählt nicht in
erster Linie für sich, sondern für die anderen und wirft einen Wahlschein
in die Urne, mit dem vor allem über Werte entschieden wird – hofft man
jedenfalls.“ Lange, hitzige Diskussionen hatte es in der Redaktion gegeben,
ob man konkret Stellung beziehen sollte.
Schneider blättert weiter, die Entenbrust ist da und delikat, es wird
gelacht über eine knallbunte Seite von ihr unter dem Titel „Wie enthaltsam
sind Sie?“. Darauf stiefelt ein „notgeiler Nichtwähler“, den Penis in ei…
selbstgebastelte Pappwahlurne gesteckt, ins Wahllokal. „Fuck die Wahl!“
ruft er, worauf die Behördenvertreter konstatieren: „‚Immerhin kommt er ins
Wahllokal.‘ – ‚Meinst du ins oder im?‘“
Stimmt, Schenkelklopfer, ja Kalauer. Trotzdem in dieser „verfahrenen
politischen Situation“, so Coco, erfrischend daneben. „Ich frage mich: Was
soll dieses populistische Geschrei, dass das ‚System‘ gegen die Franzosen
ist? Was ist das System, wenn es nicht die Menschen in ihm meint, mit all
ihren unterschiedlichen Ansichten?“
Extrem apolitisch seien mittlerweile viele Franzosen und Französinnen, „man
kann es ihnen einfach nie recht machen. Kompromiss und Diskussion? Das ist
viel zu vielen zu viel.“ Schneider ergänzt: „Dieses ständige Gerede von la
République nervt. Die Frage ist doch: Was ist die Republik und welches
Frankreich wollen wir eigentlich?“
Jetzt, im Zeichen des Ausnahmezustandes, beobachte sie oft eine Art
vorauseilenden Gehorsam, was Zivilcourage und Meinungsäußerung angeht. „Wir
wollten letztens in Lille eine Veranstaltung über Islamophobie machen.
Schließlich waren wir im ‚Saal Karl Marx‘, vorher hatte es Raumabsagen
gehagelt.“
## „Nicht wenige sehen weg“
Hat sich Charlie seit den Anschlägen 2015 verändert, ist das Blatt zahmer
geworden? „Nein“, sagt Schneider abrupt, „nein, die Gesellschaft als Ganz…
hat sich verändert, sie ist humorloser geworden, ängstlicher,
holzschnittartiger.“ Und wenn es die Wahl zwischen einem Kandidaten und
einer Kandidatin wie jetzt gibt, „dann wollen nicht wenige Franzosen am
liebsten wegsehen und von einem dritten, Perfekten träumen“.
Manchmal frage sie sich, was „Charb, unser getöteter Chefredakteur, jetzt
tun würde, was er schreiben würde. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass er
immun war gegen Populismus. Oder hätte er sich vielleicht doch enthalten?“
Schneider, die den Mauerfall mit einschneidenden Veränderungen für ihre
Eltern miterlebt hat, wundert sich „über die Naivität vieler Menschen.
Kommt Le Pen dran, ist das ein totaler Systemwechsel, mit schwierigen
Konsequenzen für viele. Das ist den meisten überhaupt nicht bewusst.“
Und was macht Charlie, wenn es Macron schafft, dessen Programm bis jetzt
nicht recht aufs Tapet kam? „Wir werden genau hingucken, was der angebliche
Retter Frankreichs macht, ob er aus Wasser auch echt Wein hinkriegt. Und
mit welchen Leuten er sich in Zukunft umgibt.“ – „Ich glaube, wir stoßen
einfach weiter spitze Federn in überfrachtete Ballons, die schnell
platzen“, sagt Coco und lächelt. Ein Lachen ist es nicht.
7 May 2017
## AUTOREN
Harriet Wolff
## TAGS
Charlie Hebdo
Satire
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