| # taz.de -- Bürgerversammlung im Olympiastadion: Gefühlsgleichschritt der Bew… | |
| > Eine Kondomfirma, eine Klimagruppe und „die Wissenschaft“ treffen sich | |
| > als emotionale Masse im Stadion. Was kann da schon schiefgehen? | |
| Bild: Wenn das der Führer wüsste: Deutsche machen wieder Politik im Olympiast… | |
| Von Lenin ist das Wort überliefert, dass die Revolution in Deutschland nie | |
| etwas werde. „Wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die | |
| sich noch eine Bahnsteigkarte“, soll der [1][russische Revolutionär] | |
| gespottet haben. Heutzutage beläuft sich der Preis der „Utopie“ auf 29,95 | |
| Euro. Soviel kostet die Eintrittskarte zur „größten Bürger*innenversammlung | |
| Deutschlands“, die 2020 im Berliner Olympiastadion stattfinden soll, sofern | |
| die Veranstaltenden mindestens 60.000 Tickets verkaufen. | |
| Die Idee: Die „renommiertesten Expert*innen aus allen Bereichen“ kommen | |
| zusammen, „um die Lösungen für die drängendsten Probleme unserer Zeit | |
| gebündelt zu präsentieren“ und werden dabei gefeiert „wie wir ansonsten n… | |
| Rockstars feiern“. Laut Organisierenden diene dies der „Inspiration und der | |
| emotionalen Aufladung“. | |
| Auch der Rest der Veranstaltung steht im Zeichen der Gefühle, die es wohl | |
| zweifellos braucht, wenn man eine Massenbewegung organisieren will. Die | |
| Veranstaltung soll den Teilnehmenden das „Gefühl geben, dass sie auch als | |
| Einzelpersonen Veränderungen bewirken können“. Und überhaupt: „Wir werden | |
| danach mit dem guten Gefühl nach Hause gehen, einen weiteren Schritt in | |
| Richtung Veränderung unternommen zu haben.“ | |
| Erreicht werden soll das neben den personenkultig gefeierten | |
| Expertise-Rockstars durch massenhafte Petitionen an den Bundestag, die man | |
| aus dem Olympiastadion heraus mit seinem Smartphone mitzeichnen können | |
| soll. | |
| Was bei Beyoncé okay ist | |
| Hinter dem Projekt steht das Berliner Hygieneartikel-Unternehmen Einhorn, | |
| das Gefühle schon länger als Geschäftsfeld für sich erschlossen hat und | |
| allerhand überteuerte vegane Kondome und Menstruationsartikel in hippem | |
| Design auf den Markt wirft. Als offizielle Kooperationspartner treten die | |
| Scientists for Future sowie der Berliner Ableger von Fridays for Future | |
| auf; Luisa Neubauer ist eines der Gesichter im Werbefilm. | |
| Petitionen an den Deutschen Bundestag bringen in aller Regel nichts. Zwar | |
| hatte das Unternehmen Einhorn mit einer [2][Petition zur Reduzierung des | |
| Mehrwertsteuersatzes für Periodenprodukte] Erfolg, weil Olaf Scholz sich im | |
| Kampf um den SPD-Vorsitz profilieren musste, doch das bleibt die Ausnahme. | |
| Petitionen sind nämlich keine direktdemokratischen Verpflichtungen für die | |
| Legislative. Was der Parlamentsmehrheit nicht in den Kram passt, wird stets | |
| abgelehnt. Das ist Usus im Petitionsausschuss. | |
| Bislang muss man sich auf die Organisierenden verlassen, was das Programm | |
| der Veranstaltung angeht. Was bei einer Show von Beyoncé okay ist, löst | |
| befremden aus, wenn es um eine politische Veranstaltung geht. Von den | |
| Inhalten sind bislang lediglich drei Stichworte bekannt: „Klimawandel, | |
| Rechtsruck, globale Ungerechtigkeit …“. | |
| ## Wissenschaft als Fetisch | |
| Wer aber bei diesen Themen die „renommiertesten Expert*innen“ sind und | |
| welche Petitionen sich daraus ergeben, bleibt vollkommen offen. Es lässt | |
| sich erahnen, dass die objektive Wissenschaft, die in diesem Milieu schon | |
| längst zum Fetisch verkommen ist, wieder einmal wird herhalten müssen. | |
| Nur: Wie operationalisiert man „globale Ungerechtigkeit“? Was ist gerecht? | |
| Was ist die objektive Lösung für die globale Ungerechtigkeit? Dass alle das | |
| gleiche haben, können und dürfen? Oder kommt es vielleicht doch auf die | |
| individuelle Leistung an? Und vor allem: Wer bestimmt, welche Expert*innen | |
| renommiert sind? | |
| Und was passiert, wenn zwei von ihnen unterschiedliche Meinungen haben? | |
| Wenn etwa einer einen Emissionshandel, ein anderer eine CO2-Steuer als das | |
| bessere Mittel für die Einführung eines CO2-Preises hält, ein dritter sagt, | |
| man müsse einfach alles verbieten, was CO2 emittiert und ein vierter, dass | |
| nur mit der Überwindung der Marktwirtschaft das Klima geschützt werden | |
| könne? | |
| Wer ein Ticket ergattert, muss den Organisierenden vertrauen, dass ihre | |
| Antworten auf diese Fragen nicht enttäuschen. Deren Utopie scheint keine | |
| Differenz, Vielfalt oder Diskussion zu ersehnen, sondern Eintönigkeit, | |
| Elitenhörigkeit und Gleichschritt. Schließlich sollen im Stadion „90.000 | |
| Weltbürger*innen, die genau das Gleiche wollen wie du“ zusammenkommen. | |
| Für eine politische Veranstaltung, bei der alle das gleiche wollen und den | |
| auserkorenen Stars zujubeln, ist [3][das Olympiastadion mit seiner | |
| faschistischen Ästhetik und seiner nationalsozialistischen Vergangenheit] | |
| immerhin die konsequente Ortswahl: Gemeinschaftsgefühl passt unbestritten | |
| gut zu Statuen von Arno Breker. | |
| Eine politische Bewegung muss nun mal Gefühle erzeugen, um am Leben zu | |
| bleiben. Wenn das Gefühl auf der richtigen Seite zu stehen von quasi | |
| heiligen Expert*innen vor einer brachialen Kulisse bestätigt wird, gibt das | |
| der Bewegung gewiss Aufwind. Nur: Zu welchem Preis? | |
| 25 Nov 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] /100-Jahre-Oktoberrevolution/!5453880 | |
| [2] /Kommentar-Perioden-Petition/!5598696 | |
| [3] /Olympische-Spiele-1936-in-Berlin/!5322374 | |
| ## AUTOREN | |
| Alexander Nabert | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Fridays For Future | |
| Olympiastadion | |
| Olympia 1936 | |
| Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
| Ästhetik | |
| Petition | |
| Kondom | |
| Wissenschaft | |
| Kolumne Habibitus | |
| Online-Petition | |
| Charlotte Roche | |
| Freie Universität Berlin | |
| Extinction Rebellion | |
| Olympia 1936 | |
| Shoa | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Demokratie-Event in Berlin 2020: Eintritt für die Revolution | |
| Der Circus Roncalli zieht im Juni ins Olympiastadion. Glauben Sie nicht? | |
| Fühlt sich aber so an. Geben wir die Kohle doch lieber radikal aus! | |
| Crowdfunding für Bürgerversammlung: Linke in Shitstorm-Modus | |
| Nach dem erfolgreichen Crowdfunding erfährt das Petitions-Event im | |
| Olympiastadion vor allem Spott. Die Kritik ist überheblich und | |
| unsolidarisch. | |
| Klimaaktion vor dem Scheitern: Doch kein Hipsterevent fürs Klima | |
| Obwohl Fridays for Future und Promis geworben hatten: Das Crowdfunding fürs | |
| Klimaevent im Berliner Olympia-Stadion wird wohl scheitern. | |
| Besetzung an der FU: Klimapolitik aus dem Schlafsack | |
| KlimaaktivistInnen besetzen einen Hörsaal der FU. Die Unileitung zeigt sich | |
| bislang kooperativ. | |
| Antisemitismusvorwurf gegen XR-Gründer: Auch Ökos können Juden hassen | |
| XR-Gründer Roger Hallam hat den Holocaust relativiert. Für viele scheint | |
| überraschend, dass auch Nicht-Rechte Antisemiten sein können. | |
| Olympische Spiele 1936 in Berlin: Der Wille zur Täuschung | |
| Die Olympischen Sommerspiele vor 80 Jahren wurden für die Nazis zu einem | |
| Propagandaerfolg. Auch weil viele nicht genau hinschauen wollten. | |
| Gedenken im Film: Heillos unbewältigt | |
| Polemisch fasste er deutsche Gedenkkultur im Begriff des „Shoahbusiness“. | |
| Der Film „Triumph des guten Willens“ erinnert an den Publizisten Eike | |
| Geisel. |