# taz.de -- Buch über Jüdischsein und Identität: Die große Last des Erbes | |
> Deborah Feldman denkt in ihrem neuen Buch darüber nach, was Jüdischsein | |
> heute bedeutet. Sie möchte sich frei machen von Zuschreibungen. | |
Bild: Deborah Feldman denkt in ihrem neuen Buch darüber nach, was Jüdischsein… | |
Mit ihrem neuen Buch „Judenfetisch“ begibt sich die in New York geborene, | |
seit 2014 in Berlin lebende [1][Schriftstellerin Deborah Feldman] auf | |
schwieriges Gelände. Während „Unorthodox“ und „Überbitten“, ihre bei… | |
ersten auf Deutsch erschienen Büchern um ihren Ausstieg aus der Sekte der | |
orthodoxen Satmarer Juden überall Anklang fand, geht es in „Judenfetisch“ | |
um kontrovers diskutierte Fragen der jüdischen Identität, der Erinnerung an | |
den Holocaust, um Deutschland und um Israel. | |
Wie in ihren Vorgängerbüchern sind es auch hier die eigenen Erfahrungen, | |
die die Autorin zu allgemeinen Überlegungen anregen. | |
Ausgangspunkt und lockere Rahmenerzählung des Buches bildet eine Reise zum | |
Holocaust-Gedenktag [2][nach Yad Vashem]. Feldman sollte dort den „neuen | |
deutschen Juden“ repräsentieren. Das sei ihr nicht immer gelungen, schreibt | |
sie, da sie die hiermit verbundenen „fantasievollen Kriterien des | |
Jüdischseins“ nicht erfüllen könne. | |
Kriterien, denen eine Sehnsucht nach „Zugehörigkeit und Verfremdung“ | |
zugrunde liegen, „die meinem Leben im Wege stehen, die mich immer wieder | |
zurück auf meinen Platz verweisen, wie ein Schulmädchen im Internat“, | |
schreibt Feldman. | |
## Schmerz und Erinnerung | |
Auf der Gedenkveranstaltung irritiert Feldman zudem dann der Umgang mit | |
einer Holocaust-Überlebenden in einem während der Veranstaltung | |
vorgeführten Interviewfilm. Die Auschwitz-Überlebende, die von ihren | |
Gefühlen überwältigt nicht mehr weitererzählen kann, wird noch minutenlang | |
in ihrer stummen Trauer gezeigt. Sie hatte dasselbe Schicksal wie Deborah | |
Feldmans Großmutter, deren Familie noch am Tag der Ankunft in Auschwitz | |
ermordet wurde. | |
Es schien Feldman, als „würden sie es mit meiner eigenen Großmutter tun, | |
sie zum Erzählen zwingen, und dann diesen intimen, privaten Schmerz, den | |
sie lebenslang gehütet hat, vor so vielen Menschen bloßstellen … Ich möchte | |
laut aufschreien, dass jemand den Film stoppen muss … aber stattdessen | |
bersten endlich die Tränen aus meinen Augen. Das Ziel ist erreicht, denke | |
ich, egal mit welchen Mitteln.“ | |
In Berlin, in ihrer ersten Zeit, hatte Deborah Feldman eine Art Fabian | |
Wolff kennengelernt. Der junge Mann äußerte sich im Gespräch überrascht, | |
dass sie noch nie in Israel gewesen war. Er behauptete, er spreche | |
Neuhebräisch, brachte dann aber, als sie eine Reise nach Israel machten, | |
kein Wort Ivrit heraus. Dass dieser Mann gar keine jüdische Vorfahren hat, | |
erfuhr Feldman von einem Nachbarn, der zufälligerweise mit ihm zur Schule | |
gegangen war. | |
Einige Zeit später dann äußerte sich dieser Mann plötzlich journalistisch | |
als Nicht-Jude und kritisierte Israel. Er müsse sich nun von seiner | |
„deutschen Sicht“ befreien, erfährt Feldman wiederum über den ehemaligen | |
Klassenkameraden. „Ist das nicht einfach die andere Seite der Medaille, | |
frage ich meinen Nachbarn. Na eben, klassischer Judenfetisch, antwortete er | |
mir.“ | |
## Ein gemeines Wort | |
„Es ist ein gemeines Wort, keine Frage“, schreibt Feldman. Aber wenn sie an | |
„diesen jungen Mann denke, der mir damals nichts als durch und durch | |
verwirrt vorgekommen war, als verloren auf seinem Lebenspfad und hungrig | |
nach moralischen Antworten, voller Sehnsucht nach einer soziopolitischen | |
Erlösung zu Fragen der Geschichte und wie sie in der Gesellschaft | |
nachwirkten, dann finde ich, dass ein Judenfetisch eigentlich den Träger | |
zum Opfer erklärt.“ | |
Feldman hinterfragt in „Judenfetisch“ die Form der Erinnerung und des | |
Gedenkens an den Holocaust. In ihrer Kindheit und Jugend bei den Satmarer | |
Juden, schreibt sie, wäre nichts so präsent gewesen wie der Holocaust. Er | |
war die Strafe Gottes für die jüdische Assimilation. Um Gottes Zorn zu | |
besänftigen und um einen neuen Holocaust zu verhindern, hatten nach dem | |
Zweiten Weltkrieg die Männer der Gemeinde ihren Anhängern immer strengere | |
Lebensregeln auferlegt. | |
[3][Feldman wollte dieses Leben, diesen radikalen Verzicht nicht], vor | |
allem nicht für ihren Sohn, der nach ihrer arrangierten Heirat noch in New | |
York zur Welt kam. Er war es, der sie motivierte und ihr den Mut gab, die | |
abgeschottete Welt der Satmarer Juden zu verlassen. | |
Mit ihm begann sie auch erst in Berlin über den Holocaust zu sprechen. „Der | |
Holocaust gehörte nicht uns“, schreibt sie im Rückblick auf diese | |
Gespräche. „Er war keine riesige Erbmasse, die wir annehmen oder entäußern | |
mussten. Er war ein Stück universelles Erbe, mit dem wir umgingen, nicht | |
weil wir Juden waren, sondern weil wir als Juden Menschen waren.“ | |
## Unsere Menschlichkeit | |
Sie drückte ihrem Sohn Art Spiegelmans Holocaust-Comic „Maus“ in die Hand. | |
Dessen wichtigste Lehre über den Holocaust, so Feldman, sei „nicht etwa | |
die, dass unsere ererbten Rollen uns unsere Handlungen vorschreiben, | |
sondern ganz im Gegenteil, dass unsere Menschlichkeit sich solchen | |
vorherbestimmten Kategorien widersetzt. … Und also schloss mein Sohn dieses | |
Buch nicht in dem Glauben, bestimmte Menschen wären dubios; er schloss es | |
mit dem Verständnis dafür, dass wir all diese Charaktere zugleich sind. | |
Umstände mögen vorschreiben, welche Rollen wir zu welchen Zeiten spielen, | |
aber selbst dann sind wir frei, zu wählen, wie wir uns selbst und wie wir | |
die anderen sehen wollen.“ | |
Manche Stellen in „Judenfetisch“ hätte man sich klarer formuliert | |
gewünscht. Aber es ist dennoch ein wichtiger Beitrag zur Diskussion über | |
das Judentum in Deutschland, über jüdische Identität und die Erinnerung an | |
den Holocaust jenseits der Fetischisierung. Ein Buch, das auf | |
Versachlichung setzt. Und das darauf hinweist, dass wir bei der Erinnerung | |
und dem Gedenken an den Holocaust das Ziel, „die Voraussetzungen für eine | |
bessere Zukunft zu schaffen“, nicht aus den Augen verlieren dürfen. | |
16 Sep 2023 | |
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## AUTOREN | |
Fokke Joel | |
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