# taz.de -- Brexit-Verhandlungen mit der EU: Deal oder was? | |
> Der Vertrag zwischen Großbritannien und der EU scheint so gut wie fertig. | |
> Ein „No Deal“ bleibt dennoch möglich. | |
Bild: Zäh wie die Brexit-Verhandlungen: der Stau an der französischen Grenze … | |
Was ist der Stand der Dinge? | |
Am 31. Januar 2020 hat Großbritannien gemäß dem Austrittsabkommen von 2019 | |
die EU verlassen. Bis zum Jahresende gilt die vereinbarte Übergangsfrist, | |
während derer das Land Teil von EU-Binnenmarkt und -Zollunion bleibt. Auch | |
EU-Regeln gelten in dieser Zeit weiter, London zahlt noch in den | |
EU-Haushalt ein und bekommt EU-Gelder. All das erlischt jedoch am 31. | |
Dezember. Am 1. Januar 2021 soll ein Vertrag über die zukünftigen | |
Beziehungen in Kraft treten. Über ihn wird seit Monaten verhandelt. Bis | |
Mittwoch früh war sein Entwurf auf 2.000 Seiten angeschwollen und nach | |
Angaben beider Seiten war man sich zu über 95 Prozent einig – vor allem bei | |
klassischen Fragen des zollfreien Handels. Blieben 100 Seiten Streitfragen. | |
Am Mittwochnachmittag meldeten ungenannte Quellen beider Seiten zum | |
Redaktionsschluss, man stünde kurz vor einer Einigung. | |
Worüber wird genau gestritten? | |
Öffentlich sichtbarster Streitpunkt ist die Fischerei – Großbritannien will | |
die bestehenden EU-Fischereirechte in britischen Gewässern beenden, | |
notfalls erst nach einer weiteren Übergangszeit und nur teilweise. Die EU | |
will sie behalten, notfalls nur für eine Übergangszeit und danach | |
teilweise. Eine Lösung erscheint also grundsätzlich einfach, aber bisher | |
waren die Zugeständnisse beider Seiten für die jeweils andere ungenügend, | |
vor allem für Frankreich. Darüber hinaus gibt es viel Uneinigkeit bei der | |
Frage der fairen Wettbewerbsbedingungen, einschließlich Subventionen und | |
Beihilfen. Als Knackpunkt hat sich ausgerechnet der neue Coronahilfsfonds | |
erwiesen, der 2021 in Kraft tritt: Die EU will aus dem schuldenfinanzierten | |
Fonds direkte Zuschüsse an Krisenländer wie Italien zahlen. Großbritannien | |
wertet dies als Staatsbeihilfe und fordert dasselbe Recht für sich. Unklar | |
ist auch, wer wie festlegen darf, dass Wettbewerbsbedingungen verletzt | |
wurden – der wunde Punkt in den meisten Handelsverträgen. | |
Einigen die sich doch noch zum 1. Januar? | |
Das ist möglich. Am Mittwoch startete die EU-Kommission die Vorbereitungen, | |
damit die Mitgliedstaaten einen Vertrag provisorisch unter | |
Parlamentsvorbehalt in Kraft setzen können. Das Europaparlament hat eine | |
förmliche Ratifizierung noch dieses Jahr nämlich ausgeschlossen. Auf | |
britischer Seite könnte das Unterhaus nach Weihnachten zu einer | |
Sondersitzung zusammenkommen. Das größte Problem ist aber: Niemand außer | |
den Beteiligten kennt bisher den Verhandlungstext. Eine seriöse Prüfung von | |
2.000 Seiten Vertragstext durch alle 27 EU-Regierungen sowie die Parlamente | |
in Brüssel und London ist dieses Jahr nicht mehr vorstellbar, und sobald | |
sie stattfindet, dürften Einwände auftauchen. Man erinnere sich an das | |
geplatzte EU-US-Freihandelsabkommen TTIP und das verzögerte | |
EU-Kanada-Freihandelsabkommens Ceta. Das EU-britische Abkommen betrifft | |
weitaus mehr Politikbereiche, von Hochschulen über Stromnetze bis zur | |
inneren Sicherheit. | |
Was ändert sich bei einer Einigung? | |
Da Großbritannien EU-Binnenmarkt und -Zollunion verlässt, wird es auf jeden | |
Fall Zollkontrollen geben, selbst wenn keine Zölle fällig werden. Ebenso | |
dürften Reisende schärfer kontrolliert werden, da es kein dauerhaftes | |
Niederlassungsrecht für Neueinreisende aus Großbritannien in der EU oder | |
umgekehrt mehr gibt. | |
Was passiert ohne Einigung am 1. Januar? | |
Die Kontrollen werden noch schärfer, wobei Großbritannien den Verkehr | |
zumindest am Anfang noch durchwinken will. Alle Warenströme zwischen der EU | |
und Großbritannien benötigen in Zukunft Exportzertifikate. Das trifft auch | |
auf Sendungen per Post zu. Wer in der EU etwas über einen britischen | |
Anbieter kauft oder umgekehrt, muss mit der Notwendigkeit von | |
Einfuhrerklärungen rechnen. Zölle werden fällig, und für den Handel gelten | |
die Richtlinien der Welthandelsorganisation WTO. Für die meisten Waren | |
liegen die Zölle bei durchschnittlich 2,8 Prozent. Auf Fahrzeuge werden 10 | |
Prozent fällig, auf Milchprodukte 35 Prozent, für Rindfleisch und Lamm | |
sogar zwischen 40 und 80 Prozent. In der Fischerei würden EU-Boote den | |
Zugang zu britischen Gewässern komplett verlieren und umgekehrt. | |
No-Deal-Notfallregeln beider Seiten sollen für die ersten sechs Monate | |
gewährleisten, dass dies nicht auch für den Verkehr gilt. Pharmaverbände | |
auf beiden Seiten schätzen, dass sich die Beschaffung von Medikamenten um | |
bis zu sechs Wochen verlangsamen könnte. | |
Sollte es doch einen „No Deal“ geben, was hieße das für die Briten? | |
Zentralbankchef Andrew Bailey warnt, dass ein No Deal“ mehr Schaden | |
anrichten kann als die Covid-19-Pandemie. Laut Rechnungshof würde die | |
britische Wirtschaft um mindestens 2 Prozentpunkte zusätzlich schrumpfen, | |
auch das Pfund könnte auf den Devisenmärkten abstürzen. Viele Exporteure, | |
die auf EU-Kunden angewiesen sind, stünden vor dem Ruin. Lebensmittel aus | |
EU-Staaten – 25 Prozent der Lebensmittel in Großbritannien – würden teurer | |
werden. Importe aus Nicht-EU-Staaten hingegen werden billiger, egal ob Deal | |
oder „No Deal“, da die von Großbritannien vorgesehenen Zölle niedriger si… | |
als die der EU. | |
Und was wären die Folgen für Menschen in Kontinentaleuropa? | |
Wer nicht gerade nach UK reisen will, dürfte wenig merken. Anders sieht es | |
für die Unternehmen aus, die mit Großbritannien Handel treiben. Sie müssen | |
sich auf mehr Bürokratie, Zölle und einen Umbau der Lieferketten einstellen | |
– denn der reibungslose Handel im Rahmen des Binnenmarkts ist dann nicht | |
mehr möglich. Unabhängig von Deal oder „No Deal“ ist die Einreise nach | |
Großbritannien ab dem 1. Oktober 2021 für EU-Bürgerinnen und -Bürger nur | |
noch mit einem Reisepass möglich, es sei denn, sie haben Bleiberecht im | |
Vereinigten Königreich. Aufenthalte von über 180 Tagen erfordern dann ein | |
Visum. | |
Was passiert mit den Briten, die zum Beispiel in Deutschland, Frankreich | |
oder Spanien leben? Und was ist mit EU-Bürgern in Großbritannien? | |
Bestehende Aufenthaltsrechte bleiben unverändert gültig; dies wurde bereits | |
im Brexit-Abkommen 2019 festgelegt und gilt unabhängig vom Ausgang der | |
laufenden Gespräche. Auch Renten werden weiter zu den bestehenden | |
Konditionen bezogen. Allerdings können keine britischen Bankkonten mehr aus | |
der EU heraus geführt werden. Im Vereinigten Königreich ansässige | |
EU-Bürger*innen müssen ihren Antrag auf Bleiberecht (Settled Status) bis | |
zum 30. Juni 2021 stellen. Personen, die erst ab 2021 aus der EU nach | |
Großbritannien ziehen wollen oder umgekehrt, gelten nach dem jeweiligen | |
Einwanderungsrecht als Migranten. Briten mit Zweitwohnsitz in der EU müssen | |
einen Aufenthaltsstatus erlangen, sonst dürfen sie maximal 90 Tage | |
innerhalb einer 180-Tage-Periode dort verbleiben. | |
Wie würde die EU konkret mit einem „No Deal“ umgehen? | |
Die EU-Kommission hat eine Reihe von Notfallgesetzen vorgelegt. Für den | |
Flug- und Straßenverkehr mit Großbritannien sollen zunächst für sechs | |
Monate Sonderregeln gelten – „unter der Voraussetzung, dass das Vereinigte | |
Königreich dasselbe beschließt“. Zudem haben Frankreich, Belgien und die | |
Niederlande eigene Vorkehrungen getroffen, um ein Verkehrschaos an den | |
Fähren nach England zu vermeiden. In Deutschland und weiteren Ländern sind | |
die Flughäfen in Alarmbereitschaft. Die Lufthansa prüft eine Ausweitung | |
ihres Angebots für Luftfracht. Die deutsche Botschaft in London empfiehlt | |
allen Großbritannien-Besuchern, ab dem 1. Januar „rein vorsorglich“ eine | |
Auslandsreisekrankenversicherung abzuschließen. Die Bundesrepublik plant | |
eine Vereinbarung zur gegenseitigen Anerkennung von Fahrerlaubnissen. | |
Warum wird die Frist nicht einfach verlängert? | |
Eine Verlängerung macht Sinn, wenn man schon auf der Zielgeraden ist und | |
alle großen Streitfragen ausgeräumt wurden. Bis zum Redaktionsschluss am | |
frühen Mittwochabend war das trotz angeblich weit fortgeschrittener | |
Verhandlungen unklar. Dass die laufende Übergangszeit mit dem Jahr 2020 | |
endet, ist im Brexit-Vertrag von 2019 festgelegt. Dies zu ändern bedarf | |
einer Vertragsänderung, die auszuhandeln wäre. Großbritannien fürchtet, | |
dass die EU dann London verpflichten würde, auch in den nächsten | |
Sieben-Jahres-Haushalt der EU ab 2021 einzuzahlen, und hat eine | |
Verlängerung gesetzlich ausgeschlossen. Die EU wäre bereit, am 31. Dezember | |
die Uhr anzuhalten oder auch nach dem 1. Januar weiterzuverhandeln – damit | |
gäbe es dann aber trotzdem erstmal einen „No Deal“ zum Jahreswechsel. | |
Ist wegen des mutierten Coronavirus nicht ohnehin alles durcheinander? | |
Die meisten EU-Staaten haben Flüge aus Großbritannien gestoppt, Frankreich | |
auch den Fähr- und Tunnelverkehr. Am Mittwoch öffnete die Frankreich die | |
Grenze zwar wieder, jedoch nur für Lkw-Fahrer mit negativem Coronatest. Vom | |
chaotischen Szenario an der Grenze würde sich ein „No Deal“ wohl kaum | |
unterscheiden. | |
23 Dec 2020 | |
## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
Eric Bonse | |
Daniel Zylbersztajn-Lewandowski | |
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