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# taz.de -- Rückblick aufs Jahr 2020: Dammbrüche und Dummbrüche
> 2020-Jahresrückblicke handeln nur von Corona? Von wegen! Es gab Proteste
> gegen Rassismus, Zoff in deutschen Parteien – und Trump packt die Koffer.
Bild: Hat viel verändert, aber nicht alles: „Black Lives Matter“, hier ein…
taz: Herr Küppersbusch, was war schlecht im vergangenen Jahr?
Friedrich Küppersbusch: Das ganze Jahr schon Angst vor monothematischem
Coronarückblick.
Und was wird besser in diesem?
Aber lesen Sie selbst!
Fangen wir vorn an: Am 26. Januar 2020 gewinnt Billie Eilish fünf Grammys.
Unter anderem wird ihr Lied „Bad Guy“ als „Song des Jahres“ ausgezeichn…
Wer war Ihr „Bad Guy“ des Jahres?
30 Prozent der CDU und 100 Prozent der SPD hoffen auf [1][Friedrich Merz].
Am 5. Februar wird Thomas Kemmerich (FDP) zum Thüringer Ministerpräsidenten
gewählt, mit Stimmen der AfD. Viele sprechen von einem „Dammbruch“. Ist
denn ein Damm gebrochen? Wenn ja, was war das für ein Damm?
Der Verdamm. Verdammt tölpelhaft, wie FDP-Chef Lindner linienlos durch den
Dorfputsch schlingerte; AKK zur Lame Duck verdammt – und natürlich verdammt
[2][gute Laune bei Höcke und seiner Gang]. In den Unionsfraktionen
ostdeutscher Landtage kompostieren ein paar Überlebende, die schon mit der
SED als Blockpartei kompaktierten. Diese Beweglinge möchten heute eher mit
Neonazis abstimmen als mit zum Beispiel Ramelow. Absehbar, dass die Union
den alten Damm zur Linkspartei abtragen könnte, um den neuen gen AfD zu
stabilisieren.
Am 12. März stuft der Verfassungsschutz die AfD-Organisation „Flügel“ als
rechtsextreme Gruppierung ein. Das klingt gut. Aber ist es nicht so, dass
man zwar verbieten und verdrängen kann, das Verdrängte aber in Form von
Symptomen zurückkehrt?
Sie meinen, dass auf die neoliberale Agendapolitik eine Blüte des
„national-sozialen“ Geistes erspross, zunächst in der NPD? Sehe ich auch
so. Man mag die Rechtsradikalisierung als Symptom sehen, das längst
eigener Therapie bedarf. Doch langfristig ist es halt schon serielles
Hydraköpfen, wenn der Ursprung nicht bearbeitet wird: eine als ungerecht
empfundene Gesellschaft der Chancenlosigkeit.
Am 10. April jährt sich die Auflösung der Beatles zum 50. Mal. Wie alt
fühlen Sie sich genau?
Das [3][Brexit]-Land mag gehen, die Beatles können sie nicht mitnehmen.
Soweit die überlebenden Paul und Ringo role models sind, mag ich schon
einen 78-Jährigen, der „Find my way“ singt und neugierig geblieben ist.
Am 25. Mai tötet in Minneapolis, Minnesota ein weißer Polizist den
Schwarzen George Floyd vor laufender Handykamera. Darauf folgen Proteste in
den USA, aber auch woanders auf der Welt. Haben die etwas verändert?
Ich saß mit meinem türkischstämmigen Kumpel am Fernseher, wir sahen
[4][„Black Lives Matter“]-Demos in deutschen Städten. Mein Kumpel feixte
und sagte: „Schwarz müssten man sein.“ Ja, es hat einiges verändert; nicht
alles.
Am 10. Juni wird bekannt, dass der US-Medienkonzern Warner den Film „Vom
Winde verweht“ aus seinem Angebot entfernt, um ihn mit erklärenden
Kommentaren zur problematischen Darstellung der Sklaverei zu versehen. War
das diese „Cancel Culture“ – und was ist aus ihr geworden?
Eine Marketing-Tool. Lisa Eckhart dringt mit ein paar antisemitischen
Klischees ins „Literarische Quartett“. Dieter Nuhr verwechselt Shitstorm
und Genderstern mit Pogrom und Hitlergruß und betreibt galoppierende
Selbstverstauffenbergung. Dafür darf er in der ARD moderieren, während ein
Türkenlümmel wie Serdar Somuncu für eine erklärte Provokation ordentlich
verprügelt wird. Tückisch am Tabu-Teasing: Das eher aufklärerische,
liberale, linke Lager zerlegt sich in gegenseitigem Wortgouvernantentum,
während rechts Trumpisten und AfDler die Füße auf den Tisch legen können:
„Toll, so eine Strategie wäre uns nie eingefallen.“ Am Ende schrumpft das
Universum des Sagbaren.
Beispiel: Der Kabarettist Werner Finck war schon 1935 im KZ, durfte danach
wieder auftreten und bekam 1939 endgültig Berufsverbot, ging „zur Bewährung
an die Front“. Dazwischen, zur Olympiade 36, filettierte er unerschrocken
den Rassenkult und fantasierte über Riefenstahl am Schneidetisch: „Und
plötzlich sah sie’s negativ, wie positiv der N[****] lief.“ Das erschien im
Berliner Tageblatt, der Chefredakteur und Finck flogen noch 36 raus, das
Blatt wurde gleichgeschaltet. Das wird man ja wohl noch sagen dürfen.
Vom 1. Juli an hat Deutschland den Vorsitz im Rat der Europäischen Union.
Wie haben wir ’s gemacht? Und wie sehen Sie die Zukunft der EU?
Das Klimaziel nochmal hochgeschummelt, die östlichen Gelegenheitsdemokraten
in ein schwaches „Rechtsstaatsprinzip“ eingekauft, in jenseitigen
Coronakrediten das deutsche Tabu „gemeinsame Verschuldung“ gebrochen. Einen
No-deal Brexit verhindert. Keine Flüchtlings- und Migrationspolitik. Sagen
wir eine solide 3.
Am 10. August legt sich die SPD-Spitze auf Bundesfinanzminister Olaf Scholz
als SPD-Kanzlerkandidaten fest. Also mehr als ein Jahr vor der
Bundestagswahl. Steht er für die Rückbesinnung auf sozialdemokratische
Werte? Oder einfach für den nächsten SPD-Schneemann, der in der Hitze des
Wahlkampfs dahinschmilzt?
Scholz hat 13 Monate Anlauf, wo Schulz in sieben strauchelte. Knapp
oberhalb von Baumarkt-Eröffnungen nimmt er jede Medieneinladung an. Mit R2G
liegt ein Machtvorschlag bereit, die Parteispitze steht eher dafür. Der
Gegner verbreitet Konfusion und Lagerstreit. Mit Glück keift die Union sich
zu Merz durch, dem personifizierten sozialpolitischen Spinat.
Kurz: 2009 oder 2013 hätte die SPD die Wahl so gewinnen können.
Handwerklich machen die Sozis vieles richtig – es hat halt nur den Charme
von Miniatureisenbahn. Die Grünen wollen zur Union, Merkel überstrahlt ihre
zerrissene Partei, die Groko-Politik wird komplett Spahn und eher Söder
gutgeschrieben. – Ein Wahlsieg besteht aus Personalvorschlag,
Machtvorschlag und Programm. Die SPD hat Scholz, R2G, hm. Die Union
niemand, „klären wir später“ und die Wahl zwischen Schwarz-Grün und, imm…
noch, Schwarz-Rot. Absurd – es steht 2 zu 1 für die SPD. Nächste Schritte:
verbindliche Absage an Groko, Kernkompetenz Gerechtigkeit als Programm.
In der Nacht vom 8. auf den 9. September bricht auf der griechischem Insel
Lesbos im Flüchtlingslager Moria ein Feuer aus. Das Lager brennt gänzlich
ab. In Deutschland wird heftig diskutiert, ob und wie viele Menschen
aufgenommen werden sollen. Die EU legt Ende September ein neues Konzept zum
Umgang mit Flüchtlingen in der Staatengemeinschaft vor. Können Konzepte das
Problem lösen?
[5][Das 600-Seiten-Papier enthält eine Bock-zum-Gärtner-Logik], nach der
klaustrophobische Regierungen wie die Polens und Ungarns das schmutzige
Geschäft der Abschiebung übernehmen sollen. Durchverhandeln bis Jahresende
wollte es Horst Seehofer. Schlechte Konzepte, die gar nicht erst ins Ziel
kommen, lösen das Problem schon mal nicht. Wieder was gelernt!
Am 16. Oktober enthauptet in einem Pariser Vorort ein 18-Jähriger den
Geschichtslehrer Samuel Paty auf offener Straße. Der Lehrer hat im
Unterricht zum Thema Meinungsfreiheit Karikaturen zum Islam besprochen. In
Deutschland empören sich daraufhin Kolumnisten und Jungpolitiker darüber,
dass Linke das Problem Islamismus vernachlässigten. Braucht es da
Nachhilfe?
Ja, und die Grünen sollen erst mal ihr Verhältnis zur Gewalt klären. Diese
Bevormundungen sind ungefähr so alt wie Helmut Kohl.
Am 3. November wird in den USA ein neuer Präsident gewählt. Weil das
Ergebnis ein bisschen auf sich warten lässt, hängen viele Deutsche tagelang
im CNN-Stream fest. Sie auch? Und sind Sie gut wieder rausgekommen?
Trumps Erosion hatte schon was vom Führer, der im Berliner Bunker
Phantomarmeen dirigiert, während sein letzter Vasall eine Pressekonferenz
im Baumarkt abhält. Er bleibt Amerikas Mount Rushmore-Neuling, gemeißelt
aus eitel Frittenfett, ein Monument der Würdelosigkeit. Trumps
Minderwertigkeitskomplex schreit nach bestätigendem Stattfinden – das gab
sich die Hand mit einem unterhaltungshungrigen Publikum. Als Medienformat
hat seine Präsidentschaft neue Maßstäbe gesetzt, und das wird allen
NachfolgerInnen lange nachlaufen.
Am 8. Dezember verhindert Reiner Haseloff, CDU-Ministerpräsident in
Sachsen-Anhalt, dass in seinem Landesparlament über die Erhöhung des
[6][Rundfunkbeitrags] abgestimmt wird. Noch so ein Dammbruch oder eher
Dammbruch verhindert?
Auch hier hätte „Kenia“ und sogar die CDU alleine mit der Linkspartei eine
satte Mehrheit. Das ist schon Dummbruch, sich lieber von der AfD vorführen
zu lassen als selbst, auch unter Reibung, zu gestalten. Die ÖR-Sender sind
die letzten und einzigen, die jedem Provinzling noch ein Mikro hinhalten –
unter anderem dies macht sie teuer. Die AfD verdankt ihren Aufstieg nicht
zuletzt der Berichterstattung. Komme denen niemand mit Logik.
Und was machen die Borussen?
Kaufen sich die Bank voll mit Talenten, die auf den wirklich großen Verein
warten. Einerseits gutes scouting, andererseits ein Motivationsvakuum.
Immerhin: Kein Klub zeigt deutlicher, dass es ohne Publikum nicht geht.
Fragen: Volkan Ağar, Ambros Waibel
31 Dec 2020
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## AUTOREN
Friedrich Küppersbusch
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