Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Bill Murray wird 70 Jahre alt: Der alte weiße Mann schlechthin
> Er leidet, er scheitert, er kapituliert: Wenn es so etwas wie eine Krise
> der Männlichkeit gibt, dann spiegelt sie sich im Gesicht von Bill Murray.
Bild: Gelangweilt vom Leben: Bill Murray in „Lost in Translation“
Männlichen Zuschauern begegnen im Kino die gleichen Identifikationsfiguren
wie dem jungen Schimpansen in seinem Dschungel. Hier wie dort ist das
klassische Rudelrepertoire sehr überschaubar und für jeden Primaten
instinktiv verständlich.
Alle strengen sich fürchterlich an, schwingen sich von Ast zu Ast, rollen
auf dem Boden, trommeln auf die Brust. Immer gibt es das lächerliche
Männchen am unteren Ende der Hierarchie (Zach Galfianakis oder William H.
Macy). Immer gibt es den allzu smarten Affen, der zwar jede Nuss geöffnet,
am Ende aber doch nicht das Weibchen bekommt (Benedict Cumberbatch oder
Christoph Waltz).
Es tritt der Chef sogar in zwei Varianten auf. Einmal auf der Höhe seiner
physischen Überlegenheit (Vin Diesel, Dwayne „The Rock“ Johnson oder Jason
Statham, hier geht der Trend zur Testosteronglatze), einmal mit
schwindenden Kräften bereits im tragischen Abwehrkampf (Liam Neeson oder
Bruce Willis) gegen ein unermüdlich nachrückendes Heer noch vitalerer
Rivalen.
Bill Murray kommt in der Natur nicht vor. Er wäre so etwas wie der
Silberrücken, der unbehelligt abseits hockt und das Treiben aus traurigen
Augen beobachtet. Hat er alles schon gesehen, hat er alles schon erlebt.
Und versteht es trotzdem nicht mehr, weder das Rudel noch sich selbst. Eine
sehr menschliche Gestalt.
## Und dann gibt es Bill Murray
Schon vor Jahren [1][fragte sich Jennifer Senior im New York Magazine]:
„Does a culture even need a definition of burnout if it has Bill Murray?“
(dt. Braucht eine Kultur überhaupt eine Definition von Burn-out wenn sie
einen Bill Murray hat?) Und müsste in einem Lexikon der Eintrag zur
„Midlife Crisis“ illustriert werden, könnte dort wahllos ein Standbild aus
„On The Rocks“ (2020), „The Royal Tenenbaums“ (2001), „Groundhog Day�…
(1993), „Ghostbusters“ (1984) oder sogar den frühesten Folgen von „Satur…
Night Live“ eingesetzt werden. Ganz egal. Hauptsache: Bill Murray.
Wenn es so etwas wie eine Krise der Männlichkeit gibt, dann spiegelt sie
sich in diesem Gesicht. Zwar gab es diese Krise schon immer, gerade im
Kino. Größen wie James Stewart, Robert Mitchum oder Burt Lancaster haben
mit ihr gerungen. Auf den entscheidenden Kulturwandel hat die
Filmwissenschaftlerin Donna Peberdy hingewiesen. Sie vergleicht die Plakate
von „North By Northwest“ („Der unsichtbare Dritte“, 1959) und „Lost In
Translation“ (2003).
## Von Niederlage zu Niederlage
Damals fiel Cary Grant durch Raum und Zeit, im Anzug, fuchtelnd und mit
einem entsetzten Gesichtsausdruck. Heute sitzt Bill Murray auf einem
fremden Bett, im Kimono und mit Hotelpuschen an den Füßen, lethargisch und
melancholisch. Beide Filme handeln von kreiselnd kriselnder Männlichkeit.
Peberdy schreibt, die Darstellung männlicher Instabilität durch Cary Grant
sei „erregt, übertrieben und dramatisch. Im Gegensatz dazu erscheint Murray
träge und passiv“, gelangweilt vom Hochplateau des Lebens und müde vom
Taumeln von Niederlage zu Niederlage.
Er ist „der alte weiße Mann“ schlechthin – aber einer, der in jeder Seku…
um seine Niederlage weiß. Das ist ein entscheidender Unterschied. Ein Ahab,
der keinen Terror verbreiten, sondern lieber Hafen bleiben würde.
Der „weiße Wal“ in seiner Rolle als moderner Jacques-Yves Cousteau in „T…
Life Aquatic with Steve Zissou“ (2004) ist ein obskurer „Jaguar-Hai“. Auch
hier kapituliert Murray an ausnahmslos allen Fronten, an denen der moderne
Mann stehen kann. Er scheitert als Geschäftsmann, als Wissenschaftler, als
Liebhaber, als Ehemann, als Freund und als Vater („Because I hate fathers,
and I never wanted to be one“).
## Im wehenden Bademantel
Selbst als er einmal im Alleingang mit der Pistole seine Crew vor
Seeräubern rettet, einziger Rückgriff auf ein heroisches Rollenmuster, gibt
er im wehenden Bademantel eine lächerliche Figur ab. Er scheitert sogar
beim Scheitern. Am Ende, beim unverhofften Triumph, lässt sein Steve Zissou
sich nicht einmal mehr feiern. Einsam hockt er vor dem Kino auf einer
Treppe, denkt versunken über das Leben und sagt dann in die Kamera: „Es ist
ein Abenteuer …“
Nun neigt das Publikum dazu, Schauspielerinnen wie Schauspieler mit ihren
Rollen zu verwechseln. Es ist wie eine Zwangsstörung. Uma Thurman aber ist
nicht die Braut aus „Kill Bill“, Johnny Depp nicht der Pirat aus „Fluch d…
Karibik“. Ihre starken Sätze stehen im Drehbuch. Er liest Drehbücher,
improvisiert seine starken Sätze aber selbst.
Bill Murray ist Bill Murray.
## Einmal in San Francisco
Aufgewachsen ist er als fünftes von neun Kindern. Ein Studium der Medizin
musste er abbrechen, weil er mit Marihuana erwischt worden war. Okay, es
waren fast fünf Kilo, und er saß dafür im Knast. Nimmt man einen der
Scheidungsgründe seiner letzten Ehefrau für bare Münze („Drogenkonsum“),
kifft er noch heute gerne. Er hat keinen Agenten. Selbst Sofia Coppola
brauchte Jahre und die Hilfe ihres Vaters, um Murray endlich die Rolle des
Bob Harris in „Lost In Translation“ antragen zu können.
Aus den verbrieften Anekdoten, die ihn umschwirren, könnte Wes Anderson
einen wunderbaren Film machen. Als „Bill Murray Story“ gilt, wenn er
unversehens irgendwo erscheint und etwas Ungewöhnliches macht – oder
einfach Bill Murray ist, auf dem Geburtstag fremder Leute auftaucht oder
ein Kind mit Geld besticht, damit es sein Fahrrad in den Pool fährt.
Einmal kam er in San Francisco mit einem Taxifahrer ins Gespräch, der
darüber klagte, keine Zeit mehr für seine eigentliche Leidenschaft zu haben
– das Saxofon. Also wechselten Murray und der Fahrer die Seiten. Der Mann
spielte auf dem Rücksitz sein Saxofon, während Murray ihn durch die Stadt
chauffierte. Der Abend endete weit nach Mitternacht in einem üblen Viertel
von Oakland. Murray verspeiste ein Steak, während der Fahrer die
zwielichtigen Gestalten mit seinem Instrument bezauberte.
## Die Rolle passte
Auf dem Set zu „St. Vincent“ (2014) tauchte er täglich nach einer
vierzigminütigen Radtour auf. Er hatte auf das nahe Luxushotel verzichtet
und lieber bei einem Kumpel in Williamsburg gewohnt. Für den Dreh duschte
er sich nicht, sondern zog nur ein frisches Hemd an. Passte zur Rolle, und
die Rolle des Veteranen mit PTSD passte zu ihm.
Als großes Glück bezeichnete er den Umstand, dass er mit einiger
Verzögerung und im Windschatten seiner „Saturday Night Live“-Kollegen John
Belushi und Dan Aykroyd berühmt wurde – deren Fehler er nicht zu
wiederholten brauchte. Früh habe er gelernt, sagte er einmal, dass wirklich
Großes nur mit maximaler Entspannung zu erreichen sei.
Daher auch der Effekt, dass Bill Murray vor der Kamera kaum zu spielen
scheint. Er ist. Aus der Zeit gefallen, aber noch immer da. Darin liegt
seine ganze Tragik. Und seine Komik. Vielleicht ist Murray nicht einmal ein
„richtiger“ Schauspieler gewesen und immer Komödiant geblieben. Wie Buster
Keaton, sein einziges Vorbild. Kein Gehampel, keine Grimassen. Ein
versteinertes Gesicht für die unmenschlichen Zumutungen der Zeit.
Gegen das Alter rüstete er sich intellektuell mit einem Zitat von Pablo
Picasso: „Man braucht sehr lange, um jung zu werden.“ Heute wird Bill
Murray 70 Jahre alt. Als Mann kann man sich nur wünschen, eines Tages so
jung zu werden wie er.
21 Sep 2020
## LINKS
[1] https://nymag.com/news/features/24757/
## AUTOREN
Arno Frank
## TAGS
Schauspieler
Geburtstag
Hollywood
Actionfilm
Film noir
Zombies
Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes
Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes
Schwerpunkt Berlinale
## ARTIKEL ZUM THEMA
„The Beekeeper“ mit Jason Statham: Angriff des Killerbienenzüchters
Parodie auf das Genre: Der unverwüstliche Action-Star Jason Statham macht
in „The Beekeeper“ eine ordentliche Figur als einsamer Rächer.
Schwarze Filmgeschichte in den USA: Jagd auf Zombies, Jagd auf Schwarze
Der Dokumentarfilm „Horror Noire: A History of Black Horror“ von Xavier
Burgin zeichnet Veränderungen in der US-Gesellschaft nach.
Kinofilm „The Dead Don’t Die“: Jim Jarmusch macht Action
Der Regisseur hat eine Zombiekomödie mit Superstar-Aufgebot gedreht. Iggy
Pop, Tilda Swinton, Tom Waits – klingt fantastisch, ist es aber nicht.
Filmfestspiele in Cannes: Viele Stars und lebende Tote
Cannes eröffnet mit Jim Jarmuschs Zombiefilm. „The Dead Don't Die“ ist eine
Verneigung vor den Meistern dieses Genres.
Filmfestspiele in Cannes: Manson, Zombies und Delon
Ein dezidiert politischer Wettbewerb, begleitet von Ärger über die
Ehrenpalme für Alain Delon. Am Dienstag beginnt in Cannes das Filmfestival.
Schauspieler Bill Murray: Der Präsente
Bill Murray ist der Boss. Nicht nur heißt seine Figur im
Berlinale-Eröffnungsfilm „Isle of Dogs“ so, sondern: Bill Murray ist
wirklich der Boss.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.