# taz.de -- Bhagwans sexuelle Revolution: Jugend in Orange | |
> Auch der indische Guru Bhagwan predigte die sexuelle Befreiung. | |
> Erinnerung an eine Kindheit in einer Sannyas-Kommune. | |
Bild: Ohne Eltern ins Internat: Kindergarten der Schule in Suffolk 1985. | |
Als ich am ersten Abend mein neues Zimmer betreten wollte, schlug mir von | |
drinnen ein lautes, bis dahin noch unvertrautes Stöhnen entgegen. Mein | |
erwachsener Mitbewohner, den ich bis dahin noch gar nicht kennengelernt | |
hatte, war offenbar gerade mit einer Freundin zugange. So musste ich mich | |
gedulden, bis die beiden geendet hatten, bevor ich ins Bett gehen konnte. | |
Meine Mutter war mit meiner Schwester und mir 1982 in eine Kommune gezogen, | |
die ein paar Bhagwan-Anhänger gerade in unserer süddeutschen Kleinstadt | |
gegründet hatten, da war ich knapp zwölf Jahre alt. Schon zuvor war sie | |
regelmäßig ins örtliche Meditationszentrum gepilgert und hatte uns | |
mitgenommen. Ich erinnere mich an eine Teestube mit indischen Kissen und an | |
Partys mit einer Liveband, die Songs von den Stones oder Police nachspielte | |
und mit rockigen Bhagwan-Oden mischte. Wir Kinder dämmerten in einem | |
Nebenzimmer weg, während die Erwachsenen den Rest der Nacht durchtanzten. | |
Meine Mutter war irgendwann selbst Sannyasin geworden, wie sich die | |
Anhänger des indischen Gurus mit dem spöttischen Lächeln nannten, sie | |
kleidete sich fortan in Rot- und Orangetönen und trug eine Holzperlenkette | |
mit seinem Foto. Die Anziehungskraft der „Bhagwan-Bewegung“ beruhte teils | |
auf einer Mischung aus östlicher Pop-Philosophie, Psychoanalyse-Diskurs und | |
körperbetonten „Meditationen“, teils auf dem Wirken seiner Anhänger. In d… | |
Achtzigerjahren prägten sie vielerorts das Stadtbild – mit Restaurants, | |
Meditationszentren und Diskotheken, die sie nach und nach in fast allen | |
bundesdeutschen Großstädten eröffneten. | |
Schon bald nachdem wir in die Kommune gezogen waren, wurden wir Kinder in | |
einem Zimmer zusammengelegt, später wurde daraus eine halbe Etage. Denn die | |
Kommune wuchs, und es kamen immer mehr Kinder dazu. So wohnten wir nun zwar | |
getrennt von den Erwachsenen. Aber die räumliche Nähe führte trotzdem dazu, | |
dass uns auch weiterhin nichts Zwischenmenschliches fremd blieb. | |
## Wurden wir vernachlässigt? | |
Drei Jahre später saß ich im Zug nach England, wo eine Internatsschule als | |
Experimentierfeld für das Sannyas-Ideal einer freien Erziehung hergerichtet | |
wurde. Ein altes Herrenhaus nördlich von London diente als Auffangbecken | |
für all die Kinder, die zuvor in Kommunen in ganz Europa verstreut gelebt | |
hatten. Fast alle von uns kamen allein, ohne Eltern, was für die Sechs- bis | |
Elfjährigen wie meine Schwester weit schwerer zu verkraften war als für uns | |
Teenager, die wir unsere Freiheit genossen. | |
Einige dieser Kinder sollten später Bücher schreiben, in denen sie ihren | |
Eltern den Vorwurf der Vernachlässigung machten. Aber als ich später wieder | |
auf eine reguläre Schule ging, sollten meine Mitschüler mich um diese | |
Freiheit beneiden. Denn dass unsere Eltern vor allem mit ihrer | |
Selbstverwirklichung beschäftigt waren, bedeutete auch, dass sie uns nur | |
noch wenig vorschreiben konnten. | |
Im Internat herrschte eine Atmosphäre wie in einem Landschulheim, aus dem | |
sich die Lehrer weitgehend zurückgezogen hatten. Doch der Ausnahmezustand | |
sollte kein Jahr anhalten. Als Bhagwan 1985 in den USA verhaftet und | |
ausgewiesen wurde, weil sich sein engstes Umfeld krimineller Machenschaften | |
schuldig gemacht hatte, brach auch das System seiner Kommunen in Europa | |
zusammen. | |
## Niemand fühlte sich verantwortlich | |
Die sexuelle Befreiung stand im Zentrum von Bhagwans Lehre, weswegen Medien | |
ihn gerne als „Sex-Guru“ titulierten. Viele, die wie ich in der | |
offenherzigen Atmosphäre seiner Kommunen aufgewachsen sind, haben ihre | |
ersten sexuellen Erfahrungen wohl etwas früher als der Durchschnitt | |
gemacht. Aber es gab auch Schattenseiten. Erst viel später habe ich | |
erfahren, dass ein äußerst beliebter Lehrer damals an dem Internat | |
mindestens ein neunjähriges Mädchen missbraucht haben soll. | |
Die Schule und die Kommunen gibt es nicht mehr – und damit keine | |
Institution, die sich heute dafür verantworten müsste. Aber die | |
Jeder-hat-sein-Karma-zu-tragen-Einstellung hat auch verhindert, dass sich | |
irgendwer für solche Taten verantwortlich fühlt. | |
Bhagwan selbst hat über Sex zwischen Erwachsenen und Minderjährigen | |
übrigens nie gesprochen. Und das, obwohl er sich sonst zu allem Möglichem | |
geäußert hat: Wegen der Aids-Epidemie empfahl er seinen Jüngern in den | |
frühen Achtzigerjahren sogar Sex mit Kondom und Gummihandschuhen. | |
## Tantra wurde Teil der Gesellschaft | |
Manche seiner oft haarsträubenden Aussagen, mit denen er hierzulande | |
Schlagzeilen machte – etwa über Hitler oder zur Homosexualität –, waren, | |
wie seine sagenumwobene Autoflotte von 93 Rolls-Royce, vor allem auf | |
Schockwirkung angelegt. Sie hatten erstaunlich wenig Bezug zum Alltag in | |
den Kommunen, in denen Menschen aller möglichen Herkünfte, sexuellen | |
Orientierungen und Interessen zusammenkamen. | |
Mit vielem, was der indische Selfmadeguru damals predigte, war er seiner | |
Zeit voraus: Selbsterfahrungskurse, Körpertherapie, Esoterik-Klimbim und | |
Tantraseminare sind heute Teil des gesellschaftlichen Mainstreams geworden. | |
Anderes hat die Zeiten nicht so gut überdauert. | |
Nachdem Bhagwan seine selbst begründete Religion 1985 mit einem Schlag | |
aufhob und sich selbst fortan Osho nannte, hängten die meisten seiner | |
Anhänger, auch meine Mutter, ihre roten Klamotten und Holzperlenketten an | |
den Nagel. Die Kommunen lösten sich auf, die meisten ihrer Bewohner kehrten | |
in ein mehr oder weniger bürgerliches Leben zurück. Die klassische | |
Paarbeziehung, die traditionelle Familie und der individuelle Materialismus | |
erwiesen sich als stärker als der utopische Charakter der Kommunen. | |
Meine Jugend habe ich als glücklich und aufregend empfunden. Meine eigenen | |
Kinder erziehe ich trotzdem anders. Als der Mann, der sich nunmehr Osho | |
nannte, im Januar 1990 starb, empfand ich – nichts. | |
7 Dec 2013 | |
## AUTOREN | |
Daniel Bax | |
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