# taz.de -- Besetzte Fabrik bei Florenz: Autoarbeiter*innen for Future | |
> 350 Angestellte eines Autozulieferers haben ihre Fabrik besetzt. Sie | |
> fordern, den Standort für klimafreundliche Produktion umzunutzen. | |
Bild: Alarm statt Autoteile: in der GKN-Fabrik in Campi Bisenzio | |
CAMPI BISENZIO taz | Die ehemalige Fabrik des Autozulieferers GKN | |
Automotive befindet sich eine halbe Stunde Autofahrt von Florenz entfernt | |
in Campi Bisenzio. An einer Schnellstraße, gegenüber einem massiven | |
Einkaufszentrum, steht hinter meterhohem Zaun das ehemalige Werk. Die | |
Stoffbanner mit Parolen und Solidaritätsbekundungen an den Eisenstäben | |
verraten, dass sich darin ein Konflikt abspielt. Schon lange. Die Fabrik | |
ist seit anderthalb Jahren besetzt. Die Aktion gilt als Hoffnungsträger für | |
funktionierenden ökosozialistischen Protest: Denn die Arbeiter*innen | |
fordern nicht etwa höhere Löhne – sondern eine klimafreundliche Produktion. | |
Felice Ieraci, einer der Besetzer aus dem Collettivo di Fabbrica, hat beim | |
Rundgang über das verlassene Werksgelände die Kapuze gegen den Wind fest um | |
das Gesicht gezurrt. Auf seiner Jacke prangt das Logo des Fabrikkollektivs, | |
das dem Produkt nachempfunden ist, das hier hergestellt wurde: Achswellen | |
für Kraftfahrzeuge. Der Mann Mitte 40 arbeitete schon fast sein halbes | |
Leben für GKN – bis ihm und 421 seiner Kolleg*innen am 9. Juni 2021 | |
gekündigt wurde. | |
„Es war ein Freitag. Wir wurden informiert, dass wir zu Hause bleiben | |
sollen, es gebe nicht genug Arbeit“, erzählt Ieraci. „Dann kam die | |
Kündigung, wir sind mit über hundert Leuten zur Fabrik gefahren. Dort | |
wartete bewaffnetes Sicherheitspersonal und die Polizei kam.“ Nach diesem | |
Freitag schlossen sich etwa 350 der Arbeiter*innen zusammen und | |
organisierten eine „unbefristete Betriebsversammlung“. Eine legale Form der | |
Werksbesetzung. | |
## Pappschilder statt der Namen der Manager | |
Seitdem ist Ieraci fast täglich in seinem neuen Büro im ehemaligen Werk | |
anzutreffen. Von dort aus organisiert er die Besetzung und Proteste. | |
Manchmal trinkt er mit den anderen Ex-Arbeiter*innen aber auch bloß einen | |
Kaffee, hilft aus als Übersetzer oder reinigt die Toiletten. Er gilt als | |
Herz des Kollektivs. Statt der Namen der Manager hängen an den Büros nun | |
Pappschilder mit der Aufschrift „Gewerkschaftswohnzimmer“, „Medienbüro“ | |
oder „Kulturelle Annäherung“. | |
Es zieht und es riecht überall nach Zigarettenrauch. Über 50 Menschen sind | |
regelmäßig anwesend, laufen telefonierend durch die mit Infoboards | |
behängten Flure, aschen in herumstehende Plastikbecher. Ab und zu ist das | |
durchdringende Reißen der Papierschneidemaschine zu hören, mit der die | |
Besetzer*innen Flyer für eine neue Aktion zurechtschneiden. | |
Das Kollektiv entstand drei Jahre vor Schließung der Fabrik, die damals 100 | |
Mitglieder wollten sich ursprünglich besser gegen das britische Unternehmen | |
Melrose organisieren, das die Fabrik im selben Jahr übernommen hatte. | |
Seitdem der Betrieb eingestellt wurde, ist das Kollektiv um etwa 250 | |
Personen angewachsen. Alles ehemalige Arbeiter*innen, die sich mithilfe von | |
Kundgebungen oder Soli-Konzerten für eine Zukunft des Werks einsetzen. | |
Dafür hat es sich die militanten italienischen Arbeitskämpfe der Sechziger- | |
und Siebzigerjahre zum Vorbild genommen. Doch gänzlich neu ist der Fokus | |
auf die ökologische Transformation. | |
Schon länger, so erzählen es Mitglieder des Kollektivs, hätten sie sich | |
darüber Gedanken gemacht, wie sie ihre Arbeit hier und die Zukunft ihrer | |
Kinder miteinander vereinbaren könnten. Mit dem | |
[1][„Reindustrialisierungsplan“ von Forscher*innen der Universität Pisa] | |
wurde es konkreter: Ihnen zufolge ist es möglich, Arbeitsplatzerhalt und | |
ökologische Transformation zu vereinbaren. Auf 55 Seiten legen | |
Ökonom*innen und Ingenieur*innen dar, wie der Industriestandort in | |
der Toskana als Forschungszentrum für einen ökologischen Wandel dienen | |
kann. | |
Die Wissenschaftler*innen entwerfen zwei Szenarien: Das eine zielt auf | |
die Umnutzung der ehemals im Werk produzierten Einzelteile ab. Statt für | |
Autos könnten die modernen Maschinen sie auch für Busse oder Züge | |
produzieren. Das andere Szenario ist radikaler: In der Fabrik könnten | |
[2][Elektrolyseure] verwendet werden – Geräte zur Herstellung von | |
Wasserstoff. Wenn Ieraci von diesen Plänen spricht, leuchten seine Augen. | |
Er ist von den Ideen überzeugt. Einer der größten Erfolge, den sich das | |
Kollektiv anrechnen kann, ist die Zusammenarbeit mit der jungen | |
Klimabewegung in Italien. Das Fabrikkollektiv arbeitet mit [3][Fridays for | |
Future (FFF)] zusammen. | |
## Klimastreik und Sommercamps | |
Einige ehemalige GKN-Beschäftigte gehen regelmäßig zu Meetings der | |
Klimabewegung, das Fabrikkollektiv nahm an der Demo gegen den G20-Gipfel | |
teil und an Sommercamps, wo sie ihre Pläne zur Verkehrswende diskutierten. | |
Gemeinsam organisierten sie im vergangenen September den Klimastreik in | |
Florenz mit über 40.000 Teilnehmer*innen. Die beiden Bewegungen versuchen, | |
eine gemeinsame Agenda zu schaffen, die die Vergesellschaftung des | |
GKN-Werks bei gleichzeitiger radikaler Klimapolitik fordert. | |
Neben FFF nähert sich das Fabrikkollektiv auch anderen ökologischen | |
Vereinigungen, wie den Landwirtschaftsverbänden aus der Region, an. Durch | |
diese Verbindung beziehen die Besetzer*innen jetzt lokale Produkte für | |
die Werksmensa, die sie seit der Besetzung verwalten. Gemeinsam wollen sie | |
die vermeintliche Kluft zwischen sozialen und ökologischen Kämpfen | |
überwinden. | |
Doch bislang leider mit mäßigem Erfolg. Weihnachten 2021 sah es so aus, als | |
wären die Besetzer*innen ihrem Ziel ein Stück nähergekommen. Ein neuer | |
Besitzer übernahm die Fabrik: Francesco Borgomeo. Klein, schmächtig, Mitte | |
fünfzig, trägt auf Pressefotos Anzug. Der Unternehmer ist als Keramikgigant | |
bekannt geworden und hatte große Pläne mit dem Standort: Er zeigte sich | |
zugewandt, wollte einen Transformationsplan erstellen und sich dabei auf | |
erneuerbare Energien stützen. Die Arbeiter*innen sollten alle | |
beschäftigt bleiben. Die Situation klang vielversprechend. | |
„Er wollte uns über alles aufklären“, sagt Ieraci. Doch schon sein erstes | |
Versprechen, nämlich persönliche Daten wie die Krankenakten der | |
Beschäftigten freizugeben, habe er gebrochen. Ieraci lacht normalerweise | |
viel, doch wenn er über Borgomeo spricht, zeigt sich eine Zornesfalte auf | |
seiner Stirn. Wenn der Unternehmer mal wieder in der italienischen | |
Lokalpresse zu sehen ist, stehen die Arbeiter*innen mit verschränkten | |
Armen in der selbst errichteten Bar auf dem Fabrikgelände vor dem | |
Bildschirm und schütteln die Köpfe. | |
Borgomeo zeigte sich nach einer ersten Anfrage der taz gesprächsbereit, | |
wollte später doch dann doch keine Fragen beantworten. Der Widerstand gegen | |
den alten und den neuen Besitzer brachte den Arbeiter*innen eine große | |
Anzahl von Unterstützer*innen ein. Um die Zivilgesellschaft zu | |
erreichen, besuchten sie im vergangenen Jahr Theatersäle, Markthallen und | |
Kirchen in Florenz. Der Erfolg ihrer Aktionen hat im Stadtbild Spuren | |
hinterlassen: Immer wieder begegnet man Menschen, auf deren Kappen und | |
Hoodies das Logo des Kollektivs sichtbar ist. | |
## Versuchsraum für nachhaltige Ideen | |
Auch Antonella Bundu setzt sich für die Forderungen der Arbeiter*innen | |
ein. Bundu ist Mitglied des florentinischen Stadtrats, als linke Aktivistin | |
hat sie die Demonstrationen des Kollektivs begleitet. Für sie seien die | |
wichtigsten Fragen im Moment, wie öffentliche Gelder für die | |
Arbeiter*innen bereitgestellt werden könnten und was der Besitzer mit | |
der Fabrik wirklich vorhabe. Denn trotz der großen Solidarität und | |
konkreter Pläne der Besetzer*innen liegt es letztendlich in der | |
Verantwortung des Besitzers Borgomeo, Investor*innen für das Werk zu | |
finden. | |
Nach anderthalben Jahren Kampf merkt man den Arbeiter*innen eine | |
gewisse Müdigkeit an. „Ich habe keine Routine mehr, ich weiß nicht, wann | |
ich Zeit habe zu essen“, sagt Ieraci. Noch wollen sie die Fabrik mit all | |
ihren Bestandteilen nicht aufgeben und an ihrem Plan für eine nachhaltige | |
Verkehrswende festhalten. Sollte das nicht funktionieren, können Sie sich | |
vorstellen, als Genossenschaft weiterzuarbeiten und andere Fabriken zu | |
unterstützen, die von der Schließung bedroht sind. „Wir sind als Kollektiv | |
miteinander gewachsen. Wir können ein Vorbild sein“, sagt Ieraci. | |
Die Arbeiter*innen finanzieren ihren Protest durch ein | |
Transformationsgeld, das Borgomeo ihnen bis November 2022 auszahlte, | |
außerdem mit Spendengeldern und einer Gemeinschaftskasse. In die zahlt ein, | |
wer kann. Beispielsweise diejenigen mit neuen Jobs. | |
Vor den Eingängen zur Betriebshalle hängt Absperrband, doch innen sieht es | |
aus, als könnte es sofort weitergehen: Noch immer blinken Monitore und | |
Kontrollleuchten, die Lüftung läuft und die Glocke zum Schichtwechsel | |
klingelt zweimal am Tag. „Die Maschine hier ist 4 Millionen wert“, sagt | |
Ieraci und zeigt auf einen kleinen Roboterarm. Wir beim Collettivo di | |
Fabbrica achten darauf, dass nichts kaputtgeht.“ | |
FFF hofft, dass die Fabrik ein Versuchsraum für nachhaltige Ideen bleiben | |
kann. Auch in Deutschland schaut man nach Florenz. Eine Arbeitsgruppe aus | |
Jena möchte das Collettivo di Fabbrica dieses Jahr nach Deutschland | |
einladen. Hier will das Kollektiv Fabriken besuchen, die ökosozialistische | |
Visionen aus Italien ebenso gut gebrauchen könnten. | |
11 Jan 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.popoffquotidiano.it/wp-content/uploads/2022/03/Piano_FINALE_10.… | |
[2] /Energiewende-in-Deutschland/!5903340 | |
[3] /Schwerpunkt-Fridays-For-Future/!t5571786 | |
## AUTOREN | |
Ann-Kathrin Leclère | |
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