# taz.de -- Berliner Strafvollzug: Isolation als Gefahr | |
> Suizidprävention in Berlins Knästen: Experten fordern vertrauensvolles | |
> Anstaltsklima und „multiprofessionelle“ Verantwortung. | |
Bild: Justizvollzugsanstalt Tegel | |
Bei einem Menschen zu erkennen, ob er suizidal ist, sei ausgesprochen | |
schwierig, sagte Jens Gräbener. „Wenn die betreffende Person das partout | |
verbirgt, wird das keiner merken.“ Gräbener ist Leiter des Berliner | |
Krisendienstes. Am vergangenen Mittwoch gehörte der Psychotherapeut zu den | |
Experten, die zu einer Anhörung im Rechtsausschuss des Abgeordnetenhauses | |
geladen waren: Suizidprävention im Berliner Strafvollzug lautete das Thema. | |
Rund 4.000 Insassen sitzen derzeit in den Berliner Haftanstalten ein. In | |
der weit überwiegenden Zahl sind es Männer. 107 Häftlinge haben sich im | |
Zeitraum 2000 bis 2018 das Leben genommen. In manchen Jahren waren es „nur“ | |
zwei, in anderen Jahren sieben, die Spitze bildet das Jahr 2006 mit zehn | |
Suiziden. Die Rate verlaufe wellenförmig und sei „höchst zufällig“, sagte | |
Katharina Seewald. Die Diplompsychologin des Kriminologischen Dienstes | |
hatte für die Senatsverwaltung für Justiz die entsprechende Studie | |
erstellt. „Zusammenhänge mit der Belegungszahl und Betreuungsdichte“, so | |
Seewald, „konnten wir nicht erkennen.“ | |
Die Prävalenz für Suizid in der Berliner Bevölkerung auf 100.000 Einwohnern | |
lag 2015 bei 13,4 Menschen. Bei 100.000 Gefangenen käme man laut Seewald | |
auf eine durchschnittliche Prävalenz von 120 Suiziden. Drinnen und draußen | |
– das könne man aber nicht vergleichen, betonte die Psychologin. Im | |
Vergleich zum Bundesdurchschnitt sei die Suizidrate in den Berliner | |
Gefängnissen etwas höher. Auch in Berlin selbst gebe es Unterschiede: Mit | |
55 Suiziden in den letzten 19 Jahren sei die JVA Moabit mit Abstand am | |
häufigsten betroffen gewesen. In der JVA Moabit befindet sich die | |
Untersuchungshaftanstalt, dort erfolgten zwei Drittel der Suizide, die | |
übrigen geschahen in Strafhaft. An zweiter Stelle kommt die JVA Tegel mit | |
21 Suiziden. In der JVA Plötzensee, in der auch Ersatzfreiheitsstrafen | |
verbüßt werden, waren es 13, in der Jugendstrafanstalt drei, in der | |
Frauenhaftanstalt und in der JVA Heidering gab es jeweils einen Fall. In | |
diesem Jahr hat sich berlinweit noch kein Gefangener das Leben genommen. | |
Die Schwankungen in der Tabelle habe sie zu interpretieren versucht, sagte | |
Seewald: „Vielleicht liegt es an der schwankenden Wachsamkeit?“ Denn eines | |
habe die Untersuchung gezeigt: „Das Suizidrisiko ist in den ersten Tagen | |
der Inhaftierung am höchsten.“ Auch die erste Phase nach Aufhebung einer | |
besonderen Sicherungsmaßnahme sei höchst sensibel. | |
Ihren Vortrag beendete Seewald mit der Empfehlung, in den Berliner | |
Gefängnissen „eine dauerhafte, präventive Organisationskultur mit | |
multiprofessioneller Verantwortung“ zu etablieren. Konkret sei das so zu | |
verstehen: Gefangene bei der Einlieferung nach Risikofaktoren und früheren | |
Suizidversuchen befragen und die Erkenntnisse im digitalen | |
Gefangenen-Erfassungssystem speichern. Auch die Einrichtung von | |
Fallkonferenzen für Suizidgefährdete und ein dauerhaftes Risikomonitoring | |
seien denkbare Sicherungsvorkehrungen. Die Verantwortung für die Vorsorge | |
könne unmöglich nur auf dem vorhandenen Justizpersonal abgeladen werden, | |
betonte die Psychologin. | |
„Ultima Ratio ist die Unterbringung in einem besonders gesicherten | |
Haftraum“, so Seewald. Aber die Isolierung und die Wegnahme aller Kontakte | |
könne die Gefahr auch vergrößern. „Die meisten Insassen, die sich | |
suizidiert haben, waren nicht in Arbeit.“ | |
Die Psychotherapeutin Maja Meischner-Al-Mousawi ist in der JVA Leipzig für | |
Suizidgefährdete zuständig. „Es gibt nicht die eine Präventionsmethode“, | |
sagte die Expertin bei der Anhörung im Rechtsausschuss. Eine bundesweite | |
Untersuchung habe ergeben, dass 30 Prozent der Suizide in den ersten vier | |
Haftwochen erfolgten. „Diese Zahl könnte man durch ein Screening und | |
spezielle Angebote halbieren“, meinte Meischner-Al-Mousawi. | |
Justizbedienstete müssten durch Fortbildungen zum Erkennen einer | |
Suizidgefahr befähigt werden. „Wenn sie merken, da ist was im Busch, müssen | |
die Insassen einem Arzt oder Psychologen vorgestellt werden.“ | |
Durch bauliche Veränderungen der Zelle könnten die Möglichkeiten | |
eingeschränkt werden. Über 90 Prozent der Suizide im Gefängnis erfolgten | |
durch Strangulation mit Stoffen, Kleidung oder Bettwäsche. „Das kann man | |
den Menschen nicht alles wegnehmen“, betonte Meischner-Al-Mousawi. Aber man | |
könne die Möglichkeiten verringern, indem Gitter und andere Haltekörper | |
abgebaut würden. Ganz wichtig für die Suizidprävention seien die | |
sogenannten „weichen Kriterien“: ein gutes Anstaltsklima etwa, in dem sich | |
die Insassen trauten, über seelische Nöte zu sprechen. | |
Zwischen dem Berliner Krisendienst und dem Strafvollzug gebe es bislang | |
keine Kooperation, sagte der Leiter des Krisendienstes, Jens Gräbener. „Bei | |
der Prävention, die wir machen, sind nicht Mauern das Mittel der Wahl, | |
sondern das Beziehungsangebot. Menschen, die suizidal werden, brauchen ein | |
sofortiges Gesprächsangebot, 24 Stunden um die Uhr.“ | |
11 Mar 2019 | |
## AUTOREN | |
Plutonia Plarre | |
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