| # taz.de -- Gefangenentheater in Plötzensee: aufBruch statt Ausbruch | |
| > Das Gefängnistheater aufBruch inszeniert Stücke mit Inhaftierten. Derzeit | |
| > läuft „Woyzeck“ in der Justizvollzugsanstalt Plötzensee. | |
| Bild: „Woyzek“ nach Georg Büchner in der JVA Plötzensee | |
| Warum tut jemand das, was er tut? Warum wird einer verrückt und der andere | |
| nicht, einer gewalttätig, eine stark, die andere schwach? „Diese Frage | |
| lässt sich nicht beantworten“, sagt Peter Atanassow, er hat gerade Georg | |
| Büchners Stück „Woyzeck“ inszeniert – die Geschichte eines Soldaten, der | |
| ein Kind hat, unehelich, eine Freundin, die er nicht heiraten kann, einen | |
| Job, aber von dem kann er nicht leben. Um etwas dazuzuverdienen, lässt sich | |
| Woyzeck auf ein medizinisches Experiment ein und isst nur noch Erbsen. | |
| Woyzeck wird erniedrigt, seine Freundin interessiert sich für | |
| Erfolgreichere. Woyzeck geht es immer schlechter, er hört Stimmen. Woyzeck | |
| passt nirgends wirklich dazu. Woyzeck bringt seine Freundin um – warum? | |
| Atanassow hat dieses Stück nicht irgendwo inszeniert, sondern in der | |
| Jugendstrafanstalt Plötzensee. Seit 2005 erarbeitet das Gefängnistheater | |
| aufBruch, zu dem Atanassow gehört, Theaterstücke in Haftanstalten. Acht | |
| junge Straftäter stehen bei „Woyzeck“ auf der Bühne des Gefängnisses, in | |
| das man erst nach einer Sicherheitskontrolle gelangt. Man befindet sich | |
| hier am Stadtrand, am Rand der Gesellschaft. | |
| Zwei der Schauspieler übernehmen Frauenrollen. Sie alle haben den Text aus | |
| dem Jahr 1836 auswendig gelernt, sagen Wörter, die sich fremd anfühlen | |
| müssen: „närrisch“, „Luder“, „Leib“ und „grotesk“. Es gibt Sz… | |
| Befehle ausgeführt werden, eine Gerichtsverhandlung nachgespielt wird mit | |
| Richterperücken und allem, einmal wird [1][Woyzeck] abgeführt, es geht sehr | |
| viel um die Frage: Was ist ein guter Mensch? | |
| „Ein guter Mensch tut das nicht, ein guter Mensch, der sein gutes Gewissen | |
| hat.“ | |
| „Woyzeck, Er hat keine Moral! Moral, das ist, wenn man moralisch ist, | |
| versteht Er.“ | |
| „Jeder Mensch ist ein Abgrund; es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.“ | |
| Trotzdem wirkt nichts an der Inszenierung platt oder zu pädagogisch. Das | |
| gibt auch der Text nicht her, der ein Fragment ist und deshalb offen. Was | |
| ist los mit diesem Woyzeck, mit diesem Opfer-Täter, sind es die Erbsen, die | |
| Verschwörungstheorien, die Erfahrungen im Militär, ist es die Eifersucht? | |
| Warum tut ein Mensch, was er tut, oder eine Nummer kleiner: Warum | |
| inszeniert Atanassow ausgerechnet „Woyzeck“? „Es gibt Parallelen zu den | |
| Jungs, auch sie sind Außenseiter, sie gehören nicht einer Schicht an, wo | |
| man sagt: Da werden Politiker draus oder Führungskräfte. Nein, da wird | |
| Servicepersonal draus, so wie der Woyzeck, der dem Hauptmann die Haare | |
| schneidet. Die Gewalt richtet sich in erster Linie gegen Frauen und Leute | |
| aus demselben Milieu.“ | |
| Die Auseinandersetzung mit dem Stück findet „tröpfchenweise“ statt, sagt | |
| Atanassow. Zuerst versuchen die Schauspieler die Wörter zu verstehen, die | |
| sie nicht kennen, dann die Szenen, dann die Konflikte. Manche waren noch | |
| nie in einem Theater. Mit dem Dramaturgen schreiben sie auch selbst, ein | |
| paar Textauszüge stehen im Programmheft: | |
| „Ich denke, dass Woyzeck Angst vorm Verlassenwerden hat. Er hat in gewisser | |
| Weise Angst vor Marie.“ | |
| „Ein schlechter Mensch hat kein Gewissen.“ | |
| „Was ist das Wichtigste im Leben und was ist, wenn’s das nicht gibt? Will | |
| ich mir nicht vorstellen.“ | |
| Die Leute von aufBruch [2][wissen nicht, was ihre Schauspieler verbrochen | |
| haben]. Sie wollen es auch nicht wissen. Einer war vor zwei Jahren schon | |
| mal dabei, dann war er frei, jetzt sitzt er wieder. Die Probenzeit ist kurz | |
| und intensiv, sieben Wochen, 20 Stunden pro Woche, und das neben der | |
| Arbeit. Die Jungs sollen trainieren, sich zu öffnen, sich zu exponieren, | |
| etwas durchzuhalten, sieben Wochen lang. Immer wieder dasselbe tun, das ist | |
| fast das Schwierigste. | |
| Während der Vorstellung ist das Gefängnis mal sehr präsent, dann tritt es | |
| wieder in den Hintergrund. Woyzeck kauft ein Messer – der Schauspieler hat | |
| nichts in der Hand, das Messer muss man sich dazudenken. Die Flasche | |
| Schnaps ist aus Plastik. Woyzeck im Gericht, Woyzeck bekommt die | |
| Todesstrafe – wie war die Verhandlung dieser Jungs, warum sind sie hier? | |
| Am Ende der Generalprobe sind die Schauspieler glücklich, stehen in | |
| Grüppchen auf der Bühne und reden durcheinander. Die „Jungs“, so nennen s… | |
| die Leute von aufBruch, freuen sich über Lob, sie kriegen Anerkennung von | |
| Leuten, die ihnen sonst vielleicht aus dem Weg gehen würden, vielleicht | |
| würde deren Weg ihren auch einfach nicht kreuzen. | |
| Eine Frau sammelt Autogramme im Programmheft. Wie unterschreibt man, wenn | |
| man seinen vollen Namen nicht preisgeben will? Ein Schauspieler erzählt, | |
| dass er schüchtern war zu Beginn und dass er jetzt viel offener ist. Dass | |
| er fast rausgeflogen wäre, weil er „Scheiße gebaut“ habe, aber ein Anruf | |
| von den Theaterleuten habe gereicht, dass die Anstalt ihn weitermachen | |
| ließ. „Ich habe noch nie solche Leute getroffen“, erzählt er. „Die haben | |
| hier sogar Döner reingebracht“. Und weiter: „Das ist hier nicht wie | |
| draußen. Die Leute im Knast sind streng, behandeln uns wie Köter, aber hier | |
| sind wir wie eine Familie.“ | |
| Eine Frau von aufBruch sagt, es werden auch noch Plakate gedruckt für das | |
| Stück. „Ich freu mich übertrieben“, antwortet ein Schauspieler, „das h�… | |
| ich mir gleich in meine Zelle.“ Zelle, wieder so ein Wort, das einen daran | |
| erinnert, wo man ist. | |
| 7 Nov 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Wichtigster-Literaturpreis-Deutschlands/!5611295&s=woyzeck/ | |
| [2] /Debatte-um-Schwarzfahrer/!5568807&s=jva+pl%C3%B6tzensee/ | |
| ## AUTOREN | |
| Viktoria Morasch | |
| ## TAGS | |
| JVA Plötzensee | |
| Georg Büchner | |
| Knast | |
| Theater | |
| Strafvollzug | |
| Dirk Behrendt | |
| Knast | |
| Strafvollzug | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Gefangenentheater in Berlin: Ein bezwingendes Spiel | |
| Das Gefangenentheater aufBruch spielt in der JVA Plötzensee „Die Gerechten“ | |
| von Albert Camus. Ein beeindruckendes, steinerweichendes Erlebnis. | |
| Gefangenentheater in Berlin: „Da-da-da-daaaa!“ | |
| Das Gefangenentheater aufBruch hat in Kooperation mit der Philharmonie | |
| „Fidelio“ von Ludwig van Beethoven auf die Knastbühne gebracht. | |
| Berliner Strafvollzug: Durchgeätzte Gitterstäbe | |
| Ausbruchsversuch aus der JVA Tegel gescheitert. Zitronat und Batterien | |
| verwendet. Justizsenator schildert im Parlament die Details. | |
| Pioniere der digitalen Resozialisierung: Von Haft-Blogs und Knast-Leaks | |
| Nie zuvor drangen so viele Informationen aus Gefängnissen nach draußen – | |
| via Internet und Handy. Doch deren Nutzung ist im Knast stark | |
| eingeschränkt. | |
| Berliner Strafvollzug: Isolation als Gefahr | |
| Suizidprävention in Berlins Knästen: Experten fordern vertrauensvolles | |
| Anstaltsklima und „multiprofessionelle“ Verantwortung. |