# taz.de -- Berliner Linksfraktion im Wahljahr: Blaupause für die Klimakrise | |
> Nach vier Jahren Regierungsbeteiligung zieht die Fraktion Bilanz. Und | |
> blickt voraus: Was kann aus Corona für die Klimakrise gelernt werden? | |
Bild: Ein Problem bei digitalen Treffen: die fehlenden Fotos. Deswegen hier ein… | |
BERLIN taz | Als sich die Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus | |
[1][vor fast exakt einem Jahr zur Klausur traf], lag die Zahl der in der | |
Stadt bestätigten Covid-19-Fälle im niedrigen zweistelligen Bereich; in | |
Brandenburg wurde gar erst Patient Nummer zwei vermeldet. Die 27 | |
Abgeordneten, ihre Mitarbeiter*innen und die Presse saßen zwei Tage | |
lang ohne Abstand, Mundschutz oder andere Schutzvorkehrungen im vollen Saal | |
eines Potsdamer Hotels, abends traf man sich leger an der Hotelbar. Das | |
Virus war ab und an Thema bei Gesprächen am Rande der Fraktionsklausur. In | |
den offiziellen Beiträgen kam Corona nicht vor. | |
An diesem Freitag und Samstag nun versammelt sich die Fraktion nur virtuell | |
per stundenlanger Zoomschalte. Und das von den neuen Fraktionsvorsitzenden | |
Anne Helm und Carsten Schatz vorgelegte Thesenpapier beginnt mit dem Satz: | |
„Seit einem Jahr prägt [2][die Coronapandemie] unser gesellschaftliches | |
Leben in so tiefgreifender Art und Weise wie wohl kein anderes Ereignis | |
seit dem Ende der Nachkriegszeit.“ | |
Die Welt ist eine andere geworden und mit ihr die Politik. „An sie werden | |
Anforderungen gestellt, die wir bisher so nicht kannten“, sagt dazu im | |
Eingangsstatement Klaus Lederer, Kultursenator und [3][zugleich | |
Spitzenkandidat der Linken für die Abgeordnetenhauswahl] im September. Er | |
meint damit die Vielzahl der neuen Entwicklungen, neuer Begriffe, die | |
oftmals blanke Not von Bürger*innen und die Dauerbelastung des | |
Gesundheitssystems. | |
Auch der Wahlkampf zur Abgeordnetenhauswahl im September 2021 wird nicht so | |
verlaufen wie frühere. Auf ihrem zweitägigen Treffen möchte die Fraktion | |
den Blick nach vorn richten auf diesen Wahlkampf, aber zugleich eine Bilanz | |
der Pandemie ziehen. Keine leichte Aufgabe, schließlich regiert man seit | |
Dezember 2016 als Teil des rot-rot-grünen Bündnisses in Berlin mit. | |
Dass nicht alles gut gelaufen ist im ersten Coronajahr – durchaus | |
verständlich angesichts der Ausnahmesituation – dafür kann die Linke leicht | |
mit verantwortlich gemacht werden. Und so zieht sich ein | |
Einerseits-Andererseits durch das vorgelegte Papier des Fraktionsvorstands. | |
Zwar habe sich das Gesundheitswesen in Deutschland und in Berlin nochmal in | |
besonderer Form als bemerkenswert anpassungs- und leistungsfähig erwiesen. | |
Gleichzeitig hätten sich im Stresstest der Pandemie „eklatante Probleme“ | |
gezeigt. Auch der Sozialstaat habe zwar auf den ersten Blick „weitgehend | |
stabil“ gewirkt; doch schon bald habe sich das Versprechen, niemanden in | |
der Krise fallen zu lassen, als „brüchig“ erwiesen – besonders für | |
Soloselbständige. | |
Was Letztere betreffe, habe man in Berlin zwar noch versucht, „diese Lücke | |
zu schließen, insbesondere in der ersten Welle der Pandemie“ – ein Lob der | |
Bemühungen vor allem von Kultursenator Lederer. Doch Berlin sei „schnell an | |
seine finanziellen Grenzen“ gestoßen. In dem Papier fordert der | |
Fraktionsvorstand deswegen, Soloselbständige künftig in die | |
Arbeitslosenversicherung einzubinden, auch ein Kurzarbeitergeld sollte es | |
für sie geben. Zu entscheiden hätte dies aber der Bund. | |
„Die Frage, die sich nach dem zurückliegenden ersten Coronajahr stellt, | |
ist: Wie kann die Gesellschaft widerstandsfähiger gegen Krisen werden“, | |
sagt Carsten Schatz zu Auftakt. Dabei hingen Armut und Gesundheit zusammen: | |
Wer in beengten Verhältnissen wohne, wer sich FFP2-Masken nicht leisten | |
könne, laufe eher Gefahr, von Covid betroffen zu sein. | |
In ihrem Papier fordern Schatz und Helm außerdem höhere Gehälter und | |
bessere Arbeitsbedingungen vor allem in Kliniken; auch das Land Berlin | |
müsse seine Investitionen in Krankenhäuser erhöhen und die Gesundheitsämter | |
besser ausstatten. Schatz schlägt zudem den Einsatz von Freiwilligen im | |
Gesundheitsbereich vor, wie er etwa bei der Freiwilligen Feuerwehr schon | |
lange Alltag ist. Und nach der Krise brauche es einen „Neustartdialog der | |
Gesellschaft“. | |
## „Klimakrise ist auch eine soziale Frage“ | |
Auffällig aber sind vor allem die ökologischen Ziele in dem Papier, das im | |
Umgang mit Corona eine Blaupause für den Umgang mit der Klimakrise sieht | |
und deutliche Nähe zu Positionen der Grünen aufzeigt. „Wir müssen aus der | |
aktuellen Erfahrung unbedingt Lehren für die Klimakrise ziehen, die sich | |
nicht mehr abwenden lässt“, sagt Fraktions-Co-Chefin Anne Helm, „die | |
Klimakrise ist auch eine soziale Frage.“ | |
Bei Planung und Bau neuer Häuser oder ganzer Viertel müsse laut dem Papier | |
auf gesunde Wohnverhältnisse geachtet werden: „Mit Blick auf die | |
Klimaerwärmung gilt es bereits heute deren mögliche Effekte in 20, 30 oder | |
50 Jahren zu berücksichtigen.“ | |
Der Erhalt großer Grünflächen – wobei insbesondere das Tempelhofer Feld | |
gemeint ist – sei nicht nur für ein gesundes Klima in der Stadt wichtig, | |
sondern auch als Möglichkeit, sich in einer Pandemie sicher draußen | |
aufhalten zu können. Es gehe eben nicht einfach nur um den SPD-Slogan | |
„Bauen, Bauen, Bauen“, sagt Lederer. Die Coronakrise habe deutlich gezeigt, | |
wie wichtig eine lebenswerte Stadt und notwendige Strukturen im Kiez seien, | |
zum Beispiel Ärzte, Geschäfte, Parks und auch Clubs. Das müsse bei den | |
Planungen beachtet werden. | |
Die vom grün regierten Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg erfundenen | |
Pop-up-Radwege werden in dem Papier als Beispiel für die „notwendige | |
Umgestaltung des Straßenverkehrs“ gewertet. Dabei müssten vor allem der | |
motorisierte Individualverkehr „immer weiter zurückgedrängt werden | |
zugunsten von klima- und eben auch gesundheitsfreundlichen Alternativen“, | |
insbesondere Bussen und Bahnen. | |
Einig sind sich die Redner*innen an diesem Freitagnachmittag in ihrer | |
Kritik am Bund, was den Umgang mit der Coronakrise angeht. Oder wie es der | |
langjährige Fraktionschef und jetzige Bundestagskandidat Udo Wolf | |
formuliert: „Wir müssen uns im Wahlkampf als Koalition und auch als Linke | |
deutlich von Missmanagement des Bundes in Sachen Corona absetzen.“ Dass | |
ausgerechnet die Minister Andreas Scheuer (CSU) und Jens Spahn (CDU) nun | |
das Konzept für die flächendeckenden Tests der Bevölkerung ausarbeiten | |
sollen, sei ein „absurder Vorgang“, sagt Wolf. | |
## Scharfe Kritik an Coronapolitik des Bundes | |
Auch Lederer rügt die Bundesregierung harsch angesichts der langsam und | |
verspätet ausgezahlten Bundeshilfen: „Da muss man sich nicht wundern über | |
den Druck aus der Bevölkerung, die Maßnahmen zu lockern: Vielen geht es | |
einfach ums Überleben.“ | |
Parteichefin Katina Schubert äußert sich ähnlich, mahnt jedoch zugleich: | |
„Den Bürger*innen ist es egal, wer versagt, ob auf Bundes- oder | |
Landesebene. Die Menschen wollen, dass der Staat funktioniert.“ | |
Anschließend daran fordert die langjährige Co-Fraktionschefin Carola Bluhm | |
eine höhere Verlässlichkeit der Verwaltung und erinnert an das eigene | |
Wahlversprechen vom Beginn der Legislaturperiode, dass innerhalb von 14 | |
Tagen Termine auf Ämtern möglich sein müssen. Unter Rot-Schwarz war zuvor | |
eine Wartezeit von mehreren Monaten nichts Ungewöhnliches. | |
Allerdings hat Rot-Rot-Grün diese Ankündigung nicht dauerhaft umgesetzt, | |
wie Bluhm aus eigener Erfahrung berichtet. „Das mit den 14 Tagen | |
funktioniert nicht.“ Manchmal sei es möglich, manchmal aber eben auch | |
nicht. „Da müssen wir weiter kommen.“ | |
Bluhm spricht im Zusammenhang mit Corona von einem „Schwund an | |
Gewissheiten“ im Alltag und einer Überforderung vieler Menschen, etwa durch | |
Homeschooling, was noch überraschende Folgen in dem Wahljahr haben könnte. | |
Denn: „Was das mit den Menschen macht, wissen sie oft selbst noch nicht.“ | |
Klaus Lederer erwähnt den seit Sommer laufenden Streit in der Verwaltung | |
über das zu verwendende Videokonferenzprogramm. Und bilanziert: „Was | |
moderne Verwaltung angeht, sind wir weiterhin nicht an dem Punkt, an dem | |
wir sein müssten, und weiter davon entfernt, als wir 2020 gedacht haben.“ | |
## Linke stellt Gesetzentwurf zur Vergesellschaftung vor | |
Die Klausur der Linksfraktion wird am Samstag fortgesetzt. Dann soll laut | |
Tagesordnung über den Entwurf eines Gesetzes zur Vergesellschaftung von | |
Wohnungen diskutiert werden, auch mit Vertreter*innen der Initiative | |
[4][Deutsche Wohnen und Co. Enteignen]. Diese strebt einen Volksentscheid | |
parallel mit der Abgeordnetenhaus- und Bundestagswahl an; die Linke | |
unterstützt das Vorhaben. | |
Zudem steht die Frage auf dem Programm, wie die Folgen der Coronakrise | |
finanziert werden sollen. Der Konsens dazu war bereits am Freitag zu | |
erkennen: kreditfinanzierte Investitionen statt Sparkurs. | |
Die Ergebnisse der Debatten der Klausur sollen vor dem Sommer in einen | |
Maßnahmenplan münden, kündigt Carsten Schatz an. „Den nehmen wir mit in die | |
nächste Legislatur.“ Die Linke würde dann gerne die rot-rot-grüne Koalition | |
in Berlin fortsetzen. [5][Aktuelle Umfragen] zeigen, dass dies möglich | |
wäre. | |
5 Mar 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Berliner-Linksfraktion-in-Klausur/!5666977 | |
[2] /Schwerpunkt-Coronavirus/!t5660746 | |
[3] /Berlins-Kultursenator-Lederer-zu-Corona/!5746456 | |
[4] /Deutsche-Wohnen-und-Co-enteignen/!t5562213 | |
[5] https://www.wahlrecht.de/umfragen/landtage/berlin.htm | |
## AUTOREN | |
Bert Schulz | |
## TAGS | |
Die Linke Berlin | |
Schwerpunkt Rot-Rot-Grün in Berlin | |
Abgeordnetenhauswahl 2021 | |
Berlin | |
Abgeordnetenhaus | |
Klausur | |
Pandemie | |
Die Linke Berlin | |
Solidarität | |
Die Linke Berlin | |
Die Linke Berlin | |
Die Linke Berlin | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Berliner Debatte um Enteignung von Wohnraum: Linke legt Gesetzentwurf vor | |
Wie kann die Vergesellschaftung von großen Immobilienfirmen rechtlich | |
funktionieren? Berlins Linksfraktion diskutiert über einen Entwurf. | |
Berlins Kultursenator Lederer zu Corona: „Keine Trendwende bis Ostern“ | |
Die Lage sei viel zu ernst für Lockerungen, sagt Klaus Lederer (Linke). Mit | |
einer Normalisierung bei der Kultur rechnet er erst 2022. | |
Parteitag der Berliner Linken: Langsam kommt Lederer in Fahrt | |
Linken-Spitzenkandidat Klaus Lederer geht erstmals im Wahlkampf auf Angriff | |
– aber dezent. Die Partei bestätigt Katina Schubert als Vorsitzende. | |
Vor Linken-Parteitag in Berlin: Schubert kritisiert Corona-Regeln | |
Am Samstag will Katina Schubert als Berliner Linkenchefin wiedergewählt | |
werden. Im Vorgespräch nennt sie die 15-Kilometer-Regelung „überflüssig“. | |
Berliner Linksfraktion in Klausur: Wie weiter nach dem Mietendeckel? | |
Enteignung wäre machbar: Die Linksfraktion diskutiert über die Koalition, | |
die Verkehrswende und die Vergesellschaftung von Immobilienkonzernen. |