# taz.de -- Barrierefreie Wahllokale in Berlin: Kreuzchen mit Hindernissen | |
> Wählen ist ein Grundrecht, barrierefrei geht es trotzdem nicht immer. | |
> Dieses Jahr sogar noch weniger als sonst. Schuld ist Corona. | |
Bild: Ob diese Schule in Neukölln ein barrierefreies Wahllokal ist? | |
BERLIN taz | Wer Ende September ins Wahllokal geht, um sein Kreuzchen zu | |
machen, sollte in den meisten Fällen problemlos hineingehen können. Wer | |
dahin rollt, kommt im schlimmsten Fall gar nicht erst rein. Rund ein | |
Fünftel der Berliner Wahllokale sind nicht barrierefrei. Dabei lebten im | |
Jahr 2019 in Berlin rund 346.000 Menschen, die als schwerbehindert gelten. | |
Wenn wählen ein demokratisches Grundrecht ist – warum ist es dann nicht | |
wortwörtlich so niedrigschwellig wie möglich, für alle Mitglieder der | |
Gesellschaft? | |
Das Problem ist nicht neu; auch bei den bisherigen Wahlen waren nicht alle | |
Wahllokale barrierefrei. Aber im Vergleich zu Wahlen vergangener Jahre gibt | |
es diesen September weniger barrierefreie Wahllokale. In einigen Bezirken | |
sogar deutlich weniger. | |
Hatte zum Beispiel Spandau laut einem Sprecher vom Bezirk bei der letzten | |
Bundestagswahl 90 Prozent barrierefreie Wahllokale, so sind es in diesem | |
Jahr 78 Prozent. Das schließt bereits die Räumlichkeiten ein, die „mit | |
Hilfsperson“ als barrierefrei gelten – da kann es eine Stufe geben oder | |
eine steilere Rampe als bei komplett barrierefreien Orten. | |
Das liegt – wie so vieles derzeit – zu einem großen Teil an Corona. | |
„Pandemiebedingt sind einige barrierefreie Räume in Gebäude und | |
Einrichtungen, wie etwa Seniorenwohnheime, weggefallen“, sagt ein Sprecher | |
des Bezirks Tempelhof-Schöneberg. „Dies hat entweder mit zu geringen | |
Raumgrößen oder dem Ausschluss der Nutzung der Wahllokale in Alten- und | |
Pflegeeinrichtungen zu tun“, heißt es aus Pankow. | |
Denn gerade Seniorenheime wollen in Pandemiezeiten nicht unzählige Menschen | |
durch ihre Räumlichkeiten schleusen. Zehn Wahllokale sind daher zum | |
Beispiel auch in Charlottenburg-Wilmersdorf weggefallen. | |
## Man braucht Platz wegen der Pandemie | |
Eine Sprecherin des Bezirks Steglitz-Zehlendorf erklärt den Bedarf für mehr | |
Platz: „So muss beispielsweise in Schulen darauf geachtet werden, dass im | |
Idealfall das „Einbahnstrassen-Wegesystem“ zur Vermeidung von Kontakten | |
möglich ist, beziehungsweise dass auf jeden Fall die notwendigen Abstände | |
noch eingehalten werden können“, sagt sie. | |
Mindestabstände, lüften – man braucht also wegen Corona mehr und größere | |
Räume. Zu allem Überfluss ist die Wahl in diesem Jahr besonders | |
umfangreich: Bund, Land und Volksentscheid führen dazu, dass Berlin mehr | |
Wahllokale braucht. Die müssen die Bezirke auftreiben. Dafür gehen | |
Mitarbeiter*innen des Bezirks auf potenzielle Wahllokale zu, leisten | |
Überzeugungsarbeit und verhandeln. Aber nur Reinickendorf hat es geschafft, | |
ausnahmslos barrierefreie Wahllokale einzurichten. | |
Dass dies den anderen nicht gelungen ist, dafür hat Dominik Peter kein | |
Verständnis. Er ist Vorsitzender des Berliner Behindertenverbands. „Da | |
müssen sich die Bezirke eben mal auf die Hinterbeine stellen“, fordert er. | |
„Das ist Manpower, die man investieren müsste“, entweder um beispielsweise | |
Rampen zu installieren. Oder um eben doch Räume zu finden, die von sich aus | |
barrierefrei sind. | |
Sein eigenes Wahllokal sei barrierefrei, aber er habe schon oft per | |
Briefwahl gewählt, sagt Peter. Allgemein schätzt er, dass unter Menschen | |
mit Behinderung der Anteil an Briefwähler*innen höher ist als unter | |
Menschen ohne Behinderung. Aber: „Jeder sollte in einer Demokratie in ein | |
Wahllokal gehen können.“ | |
## Briefwahl in leichter Sprache erklären | |
Wer schon mal per Brief gewählt hat, weiß: Die Briefwahl hat ihre Tücken. | |
Man muss alles in die richtigen Umschläge packen, was bei der Dreifach-Wahl | |
in diesem Jahr nicht einfacher werden dürfte. Da tun sich Menschen ohne | |
Behinderung genauso schwer wie mit kognitiven Behinderungen. Der Berliner | |
Behindertenverband hat deswegen schon bei der letzten Wahl eine Broschüre | |
an seine Mitglieder verschickt, die den Briefwahlprozess in leichter | |
Sprache erklärt. | |
Dominik Peter wünscht sich, dass ähnliche Erklärungen direkt mit den | |
Briefwahlunterlagen verschickt werden: „Ein Begleitschreiben in leichter | |
Sprache mit schönen Bildern. Da würden sich die Leute, die leichte Sprache | |
nutzen, nicht ausgeschlossen fühlen.“ Ganz zu schweigen davon, dass auch | |
zum Beispiel Erstwähler*innen oder Briefwahlneulinge davon profitieren | |
könnten. | |
Leichte Sprache ist gerade vor dem Hintergrund eines neuen Urteils | |
entscheidend: Das Bundesverfassungsgericht hatte es vor rund zwei Jahren | |
für [1][verfassungswidrig erklärt], dass Menschen, die voll betreut werden, | |
vom Wahlrecht ausgeschlossen sind. Das betrifft in ganz Deutschland rund | |
81.000 Menschen. Für die Europawahl kam das Urteil sehr knapp, die | |
Betroffenen mussten extra einen Antrag stellen um zu wählen. | |
## Barrierefreiheit für viele | |
Bei der anstehenden Wahl können sie nun zum ersten Mal regulär wählen. Die | |
umfangreiche Wahl macht dieses Jahr auch das Wählen für sehbehinderte und | |
blinde Menschen komplizierter. So stehe für den Allgemeinen Blinden- und | |
Sehbehindertenverein Berlin dadurch mehr Arbeit an, erklärt die | |
Geschäftsführerin Dr. Verena Staats: Zunächst drohten die Wahlschablonen | |
(siehe Kasten) angesichts der vielen Kandidat*innen zu klein zu werden, | |
nun müssen die Informationen für Wahlen zu Bund, Land und Volksentscheid | |
alle eingesprochen und auf genug CDs vervielfältigt werden. | |
„Da die Unterlagen möglichst zeitnah zum Versand der Wahlbenachrichtigungen | |
bei den Betroffenen eingehen sollten, dürfte das für unsere Mitarbeitenden | |
wohl die eine oder andere Sonderschicht bedeuten“, sagt sie. | |
Barrierefreiheit mit all ihren Ausprägungen nutze dabei vielen, etwa auch | |
Senior*innen, betont Kathrin Geyer, Vorsitzende des Landesbeirats für | |
Menschen mit Behinderung: „Barrierefreiheit in allen Formen schadet | |
niemandem, nützt aber vielen.“ | |
Die Chance auf volle Barrierefreiheit beim Wählen verpassen elf der zwölf | |
Bezirke dieses Jahr erneut. Für die Inklusion markieren die Wahlen damit | |
einen Rüschschritt. | |
28 Jul 2021 | |
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[1] /Urteil-zu-inklusivem-Wahlrecht/!5588557 | |
## AUTOREN | |
Cristina Plett | |
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