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# taz.de -- Ohne Staatsbürgerschaft kein Wahlrecht: Fremd im eigenen Land
> Millionen sind von der Wahl ausgeschlossen, weil ihnen die
> Staatsbürgerschaft fehlt. Damit stehen sie unter permanenter
> Fremdherrschaft.
Bild: Kundgebung von „Die Vielen“ mit dem Motto „Wahlrecht für alle“ v…
Berlin taz | In wenigen Tagen wird in Deutschland wieder gewählt, die
Bürger:innen dieses Landes können mit ihrer Stimme über die
Zusammensetzung der neuen Regierung und damit auch über ihre eigene Zukunft
bestimmen. Doch nicht allen Einwohner:innen Deutschlands ist dieses
Recht vorbehalten – circa 10 Millionen von den in Deutschland lebenden,
erwachsenen Menschen sind nicht wahlberechtigt.
Das sind 14 Prozent der erwachsenen Bevölkerung Deutschlands, denen ihr
Menschenrecht auf politische Partizipation verwehrt wird, [1][weil ihnen
die deutsche Staatsbürgerschaft fehlt], an welche die Wahlberechtigung
gekoppelt ist. Sie wird damit zu einer nur schwer überwindbaren Mauer im
Landesinneren, die Mitglieder und Fremde definiert und sie voneinander
scheidet.
Diese Fremden sind eigentlich keine Fremden mehr, sondern Menschen, die
ihren Lebensmittelpunkt hierher verlagert haben. Obwohl sie bereits seit
mehreren Jahren in Deutschland leben, arbeiten, Steuern zahlen, ihre Kinder
hier geboren sind und zur Schule gehen, dürfen sie nicht über die Zukunft
des Landes, dessen Gesetzen sie unterworfen sind, mitentscheiden, weil sie
mit ausländischem Pass oder gar als Staatenlose gelistet sind.
EU-Bürger:innen sind immerhin dazu befugt, an Kommunalwahlen teilzunehmen,
Angehörigen von Drittstaaten bleibt auch dies verwehrt. Menschen ohne
deutsche Staatsbürgerschaft, deren Besitz mit Pflichten verbunden ist, aber
auch Rechte und Schutz gewährt, haben somit keinen Einfluss darauf, von wem
sie regiert werden. Damit stehen sie unter permanenter Fremdherrschaft. Die
Initiative „Nicht Ohne Uns 14 Prozent“ kritisiert in ihrem Aufruf auf
change.org genau diesen Umstand und fordert in einer Petition eine Änderung
des Wahlrechts.
## Das Problem mit der „politischen Schicksalsgemeinschaft“
Oft ist der Einwand zu hören, weshalb die Betroffenen nicht einfach die
deutsche Staatsbürgerschaft beantragen, wenn sie über politische Mitsprache
verfügen wollen. Diese kann erst nach 8 Jahren Aufenthalt beantragt werden,
zudem ist ihr Erhalt mit Kosten, Zeit- sowie Kraftaufwand verbunden und für
Migrant:innen und ihre Kinder an Bedingungen geknüpft, die für Deutsche
nicht gelten. Das ist moralisch gesehen eine problematische
Ungleichbehandlung gegenüber denjenigen, denen das Wahlrecht gewährt wird –
also Staatsbürger:innen, dem sogenannten (Wahl)Volk.
Obwohl sich seine Zusammensetzung seit Jahrzehnten gewandelt hat und durch
Einwanderung diverser geworden ist, wird dieses teils noch immer als
„politische Schicksalsgemeinschaft“ begriffen, wie es auch in einem Urteil
des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1990 heißt, das eine Reform des
Ausländerwahlrechts zugunsten von Migrant:innen ablehnte.
Durch dieses Streben nach Einheit wird es nahezu unmöglich, sich in die
[2][„Volksgemeinschaft“] einzufügen. Wie viele Generationen muss Mensch
hier gelebt haben, um wirklich „deutsch“ zu sein? Warum ist ein
Gastarbeiterenkel, der in dritter Generation in Deutschland gelebt hat, zur
Schule gegangen ist und hier gearbeitet hat, vielleicht nicht einmal mehr
die Sprache seiner Großeltern spricht, weniger Teil der Gesellschaft als
eine Emigrantin, die seit 10 Jahren im Ausland lebt, aber zufällig noch
über die deutsche Staatsbürgerschaft verfügt und somit über die Politik in
einem Land bestimmen darf, die sie nicht mehr betrifft?
Warum hat meine Schwester neben ihrer deutschen Staatsangehörigkeit auch
als russische Staatsbürgerin die Möglichkeit in Russland zu wählen, obwohl
sie noch nie dort gelebt hat, nur weil ihre Eltern beide aus Russland
kommen, während jemand, der seit Jahren den politischen Entscheidungen
eines Landes unterworfen ist, aufgrund seines Migrationshintergrunds hier
nicht mitentscheiden kann? Anders als Frankreich zum Beispiel, wo der
Geburtsort die Staatsangehörigkeit definiert, gilt hierzulande noch immer
das Abstammungsprinzip.
## Volk und Nation
Das ist nur schwer nachvollziehbar, betrachtet man zum Beispiel die
Geschichte des politischen Diskurses um die Zuwanderung in die
Bundesrepublik zwischen den 70er und 90er Jahren. Die Verweigerung von
Seiten der Öffentlichkeit und politischer Akteure, Zugewanderte als
vollwertige Mitglieder der Gesellschaft zu akzeptieren, führte zu
integrationspolitischen Verwerfungen und Unterlassungen.
Und das, obwohl zu keinem Zeitpunkt die liberale Verfasstheit oder der
Zusammenhalt der deutschen Gesellschaft durch zu viel Zuwanderung gefährdet
und diese auch damals schon kulturell heterogen war. Viel eher hat die
deutsche Gesellschaft von der Zuwanderung bis heute profitiert.
Seither hat sich die Zusammensetzung der deutschen Gesellschaft weiterhin
gewandelt, nur der Begriff von Nation und Volk scheint immer noch der alte.
Zeitgemäß ist er nicht. Diejenigen, über deren Aufnahme in die
Volksgemeinschaft entschieden werden soll, dürfen nicht mitreden.
Als Bedingung zur Erteilung der Staatsbürgerschaft wird stets eine
gelungene Integration verlangt. Doch was versteht man eigentlich darunter
und wo hinein soll man sich integrieren? Viel mehr wird eine Art
Assimilation an die jeweilige „Leitkultur“ gefordert, im Falle Deutschlands
fällt in Verbindung damit oft das Adjektiv „christlich-abendländisch“.
## Rassistische Vorurteile
So wird bei Migras besonders und stärker als bei deutschen
Staatsbürger:innen darauf geachtet, ob sie und ihre Kinder über gute
Sprachkenntnisse, finanzielle Mittel und einen sicheren Job verfügen. Sie
müssen sich zum Grundgesetz bekennen, „in deutsche Lebensverhältnisse
einordnen“, einen Einbürgerungstest absolvieren und dürfen über keine
Vorstrafen verfügen – all diese Bedingungen gelten für Deutsche nicht, um
zur Wahl zugelassen zu werden.
Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen sehen sich Anwärter:innen für
die deutsche Staatsbürgerschaft sowohl gesellschaftlich als auch behördlich
nicht selten mit rassistischen Vorurteilen konfrontiert.
Außerdem muss man zum Erhalt der deutschen Staatsbürgerschaft seine alte
ablegen – auch das kann mit vielen Nachteilen verbunden sein. Obwohl der
deutsche Pass als der weltweit stärkste Pass gilt, benötigt man dennoch zum
Besuch einiger Länder ein Visum. Würde sich beispielsweise mein Vater, der
seit 23 Jahren in Deutschland lebt, dazu durchringen, seine russische
Staatsbürgerschaft zugunsten einer deutschen abzugeben, könnte er seine
Verwandtschaft und Heimat nur noch mit einem Visum besuchen. Außerdem würde
er vom dortigen politischen Leben ausgeschlossen und verlöre eventuell
seinen Anspruch auf Rente.
Die Staatsbürgerschaft dient schließlich als „Belohnung“ für ausreichende
Assimilation, bis zu diesem Punkt werden integrierungsfähige und -willige
Menschen auf Distanz gehalten und ausgeschlossen, egal, wie sehr sie sich
bereits politisch und sozial engagiert haben. Aktuelle Zahlen belegen, dass
immer weniger Ausländer:innen, die alle Voraussetzungen für die
Staatsbürgerschaft erfüllen, sie auch tatsächlich beantragen. Kein Wunder.
## Deutschland diskreditiert sich selbst
Der Ausschluss von Migrant:innen aus dem politischen Leben und das
grundlegende Misstrauen ihnen gegenüber stellen offensichtlich ein
Hindernis für das Einfinden und Wohlfühlen in einer Gemeinschaft dar. Würde
man hingegen einer Person, die vorhat sich in Deutschland dauerhaft
niederzulassen, die Möglichkeit und das Vertrauen an politischen
Entscheidungen teilnehmen und sich als Mitglied der Gesellschaft beweisen
zu können zusprechen, könnte man vorherrschende Distanzen und Vorurteile
abbauen, anstatt sie zu vertiefen und damit die Entstehung von
Parallelgesellschaften zu begünstigen.
Möglich wäre zum Beispiel eine Erleichterung der Kriterien zur Erlangung
der Staatsbürgerschaft oder die Entkoppelung von Wahlrecht und
Staatsbürgerschaft.
Ein dauerhafter Ausländerstatus ist nicht nur mit einem
freiheitlich-demokratischen Gemeinschaftsverständnis unvereinbar, er stellt
überdies auch eine Verletzung grundlegender Menschenrechte dar. Wenn alle
Macht vom Volke ausgeht, müssen all diejenigen, die de facto dazugehören
und den Gesetzen eines Staates dauerhaft unterworfen sind, auch die
Möglichkeit haben, über sie bestimmen zu dürfen. Das ist einer der
Kerngedanken von Demokratien.
Staaten, die sich als solche verstehen, diskreditieren sich selbst, wenn
sie Menschen, die moralischen Anspruch auf politische Teilhabe haben,
dieses Recht vorenthalten.
25 Sep 2021
## LINKS
[1] /Bundestagswahl-2021/!5797899
[2] /Historiker-ueber-Volksgemeinschaft/!5319104
## AUTOREN
Anastasia Tikhomirova
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