| # taz.de -- Bargeldwüste in den Niederlanden: Nur Bares ist Wahres | |
| > Wenn die Karte funktioniert, ist ja alles gut. Wenn nicht, steht man dumm | |
| > da. In der Provinz wie in der Großstadt. Über Bargeld – und die | |
| > Niederlande. | |
| Bild: Was macht mensch bloß, wenn es eines Tages gar kein Bargeld mehr geben w… | |
| Zweimal in den letzten Wochen habe ich Leute völlig ausrasten sehen, weil | |
| sie ihr Zeug nicht mit Karte bezahlen durften. Der eine explodierte auf dem | |
| Dorf vor der Eisdiele, wo er einen bereits verspachtelten Mokkabecher in | |
| bar auslösen sollte – der andere mitten in der Nacht [1][in einem | |
| Neuköllner Späti], wo es wohl um Zigaretten ging. Und an diesen beiden | |
| Enden der bekannten Welt folgten zwei nahezu wortgleiche Gespräche, in | |
| denen jeweils das Wort „Steinzeit“ vorkam, „Scheiße“ und ich glaube au… | |
| „Arsch“. | |
| Ich beobachte diese erstaunliche Gleichförmigkeit mit gehässiger Freude. | |
| Von allen irrationalen Ängsten da draußen war mir die vor der Abschaffung | |
| des Bargelds immer schon die liebste. Und bevor jemand mault: Mir ist klar, | |
| dass es vom Ausschluss marginalisierte Menschen über die Privatisierung des | |
| Geldverkehrs bis zur gläsernen Kund:innenschaft auch [2][eine ganze | |
| Menge Argumente] gegen den Scheiß gibt, die ganz und gar nicht irrational | |
| sind. | |
| Weit beliebiger erscheinen mir hingegen die Vorzüge der Karte, wie sie von | |
| Cashless-Lobby und ihren Opfern gepredigt werden – abgesehen vielleicht von | |
| der Bequemlichkeit. Und von wegen Irrationalität: Dass Bargeld anzufassen | |
| unhygienisch ist, hat mir meine Großtante schon 30 Jahre vor der Pandemie | |
| vorgebetet. Ungefähr zur gleichen Zeit, als Visa in [3][einer strunzdummen | |
| TV-Werbung] klargestellt hat, dass nach einem Tauchgang im Meer nur | |
| diejenige am Strand eine neue Sonnenbrille bezahlen kann, die unterm | |
| Badeanzug eine Kreditkarte am Popo kleben hat. | |
| Sei’s drum. Aufgefallen ist mir die verblüffende Gemeinsamkeit | |
| kleinstädtischer und Neuköllner Befindlichkeiten jedenfalls, weil ich | |
| gerade aus einem Urlaub in Bargeld-Dystopia zurück bin. In den Niederlanden | |
| nämlich, wo ich ein paar Tage zwischen Tilburg und dem Nachbardorf [4][am | |
| Tingeln war]. Busfahren geht da so: Beim Einstieg hält man EC- oder | |
| Kreditkarte unter einen Scanner. Und wer am Ziel auf die gleiche Weise | |
| wieder auscheckt, bekommt eine automatische Abbuchung entsprechend der | |
| jeweiligen Tarifzone. | |
| ## Bargeld gibt es in den Bussen nicht | |
| Das klingt so lange gut, wie die Karte funktioniert. Warum sie’s bei mir | |
| nicht tat, kann keine:r erklären, das Problem aber vor allem auch nicht | |
| lösen. Bargeld gibt es in diesen Bussen nicht, auf den Karten von | |
| Freund:innen kann man wegen der Checkerei nicht mitfahren. Angeblich gibt | |
| es irgendwo Prepaid-Chipkarten zu kaufen, aber erstens nicht hier, zweitens | |
| nicht heute und drittens ist die Grundgebühr auch höher als der Fahrpreis. | |
| Ein anderes Beispiel, das anfängt wie ein Witz: Wie viele Punkrocker | |
| braucht man, um ein Schließfach in Tilburg zu buchen? Ich weiß es nicht, | |
| aber drei sind jedenfalls zu wenig. Beim ersten ist der Handyakku so leer, | |
| dass er das Fach mit seinem Gerät später nicht wieder öffnen können würde. | |
| Der zweite hat keinen der privaten Zahlungsdienstleister gebucht, über die | |
| man das Ding bezahlen kann und der dritte hat so langsames Internet, dass | |
| es Stunden dauert, sich durch den Buchungsvorgang zu klicken. | |
| „Shitty future“ wird dieser Zustand bisweilen genannt, was Dinge meint, die | |
| heute fortschrittsmäßig besser und einfacher sein könnten als früher, die | |
| sich dank proprietärer Kack-Software, privatisierter Infrastruktur und der | |
| Profitinteressen ihrer Eigentümer:innen aber in ein fragiles | |
| Anwendungselend mit der Halbwertzeit von jeweils zwei bis drei Jahren | |
| verwandelt haben. | |
| Vielleicht bin ich einfach zu alt für diesen Scheiß – aber ich war selten | |
| so froh, wieder in meinen gallischen Bargelddörfern zu landen. Ob nun in | |
| jenem an der Ackerkante oder dem anderen in der großen Stadt. | |
| 29 Apr 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jan-Paul Koopmann | |
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