# taz.de -- Barbaros Altuğ über Transnationalität: „Berlin ist ein Sehnsuc… | |
> Autor im Exil: Barbaros Altuğ über die New Wave der türkischen Diaspora, | |
> den Genozid an den Armeniern und warum er Berlin sobald nicht verlassen | |
> will. | |
Bild: Ist in Berlin zu 80 Prozent zufrieden: Barbaros Altuğ | |
Wir treffen uns Ende Februar auf einen Vorschlag von Barbaros Altuğ hin in | |
einem sehr schönen und sehr vollen Café in Mitte. Wir merken jedoch | |
schnell, dass die Lautstärke ungeeignet ist für unser Gespräch. Während der | |
Schriftsteller rasch seinen Milchkaffee austrinkt und die Rechnung auf | |
Englisch verlangt, da die anmutigen Kellnerinnen hier nur Englisch | |
sprechen, streifen wir das Thema Corona. Es ist Partyzeit auf der | |
Berlinale. Altuğ erzählt, dass er dort gerade viele Freunde aus dem Ausland | |
treffe und viel feiere. Den Gedanken an eine Ansteckung schiebe er von | |
sich. Es sei eine Krankheit, die vor allem China betreffe. | |
Ich erzähle ihm, dass es Kollegen in der taz gebe, die an Notfallplänen | |
arbeiteten, wie die Zeitung aus dem Homeoffice entstehen könne, und dass | |
ich dem eher skeptisch gegenüberstehe. Wir verlassen das Café und laufen | |
über die gesamte Friedrichstraße hinunter nach Kreuzberg. Auf der Straße | |
drängeln sich die Menschen aneinander vorbei, es ist etwas kühl, aber | |
sonnig, und die Geschäfte sind voll. In der etwas ruhigeren taz Kantine | |
angekommen, sprechen bei Rotwein und alkoholfreiem Weizen weiter, aber | |
nicht über die Pandemie. Sehen Sie es als Kontemplation in der Krise oder | |
als Gruß aus einer Zeit, die etwas mehr Unbekümmertheit ausstrahlte. | |
taz: Herr Altuğ, in Ihrer Novelle „Es geht uns hier gut“ schrieben Sie 2017 | |
über drei junge Menschen, die an den Gezi-Protesten in Istanbul beteiligt | |
waren und anschließend in Berlin ihr Exil fanden. Ihr neuer Roman „Sticht | |
in meine Seele“ allerdings entscheidet sich für den gegenteiligen Weg: Die | |
französische Protagonistin Derin fährt in die Türkei und findet Zugang zur | |
eigenen Biografie in der jüngeren Geschichte des Landes. | |
Barbaros Altuğ: Derin ist eine französische Journalistin, die in Paris | |
geboren ist und dort lebt. So wie viele Türkeistämmige, die hier geboren | |
und aufgewachsen sind. Als sie von ihrer Redaktion den Auftrag erhält, in | |
die Türkei zu fahren, um den Mord an einem bekannten armenischstämmigen | |
Journalisten zu recherchieren, merkt sie, dass die Redaktion sie wohl wegen | |
ihrer türkischen Herkunft beauftragt hat. Derin war zum letzten Mal als | |
Kind in der Türkei, zur Beerdigung ihres Vaters, vor etwa 20 Jahren. Auch | |
wenn sie noch Türkisch kann, ist es eine Recherchereise in ein ihr | |
bekanntes und gleichzeitig unbekanntes Land. Sie nimmt an dem Begräbnis von | |
Hrant Dink teil, dem Journalisten, der vor seiner Redaktion erschossen | |
wurde. Ihre Recherche führt sie anschließend in die armenische Hautstadt | |
Eriwan, und sie lernt dabei vieles über ihre eigene, persönliche | |
Familiengeschichte, aber auch über die Geschichte des Landes, aus dem ihre | |
Eltern stammten. | |
In beiden Romanen betrachten Sie die jüngere Geschichte der Türkei aus dem | |
Blickwinkel der Diaspora. Können Sie so mehr Abstand zu Ihrem Ursprungsland | |
gewinnen: in der Betrachtung von außen? | |
Die Idee, einen Roman zu schreiben, entsteht ja nicht nur in der | |
Betrachtung des Selbst. Sondern auch in der Betrachtung der Gesellschaft, | |
aus der man stammt. Und Gesellschaften wie die Türkei sind sehr gut darin, | |
die Geschichte zu einem willkürlichen Zeitpunkt beginnen zu lassen und uns | |
glauben zu machen, dass die offizielle Geschichtsschreibung ein genaues | |
Abbild der Vergangenheit sei. Irgendwann im Erwachsenenalter glaubt man | |
dieser offiziellen Variante nicht mehr. Deshalb will ich mit meinem Roman | |
erreichen, dass wir schauen, was der Staat seinen Bürgerinnen und Bürgern | |
antun kann, dass der Staat Verbrechen begehen und diese negieren kann. Das | |
war sowohl in meinem ersten Buch so, in dem ich die Reaktion der türkischen | |
Regierung auf die Gezi-Proteste nachzeichnete, als auch in diesem Buch, in | |
dem ich den Genozid an den Armeniern betrachte. | |
Interessant. Sie sagen Genozid und nicht der sogenannte Genozid, wie es | |
noch oft in der Türkei, auch in der intellektuellen Linken, praktiziert | |
wird. Ein Tabuthema durch fast alle Schichten hindurch. | |
In der Türkei ist es eine Straftat, dieses Verbrechen als Genozid zu | |
bezeichnen. Ich kann Ihnen dazu eine passende Anekdote erzählen: Eine | |
sehr, sehr gute Freundin von mir, eine preisgekrönte Schauspielerin, deren | |
Familie schon seit Generationen links denkt und auch auf viele Mitglieder | |
in der Kommunistischen Partei verweisen kann – diese Freundin also sagte | |
während eines gemeinsamen Essen zu mir, dass es keinen Genozid an den | |
Armeniern gegeben hätte, als ich ihr von meiner Buchidee erzählte. Und ich | |
sagte, doch. Ich erzählte ihr von meinen Besuchen in den Archiven und | |
Museen und wollte es eigentlich auch dabei belassen, wir waren ja | |
eigentlich zu einem gemütlichen Essen verabredet. Aber sie schrieb mir bis | |
in die Morgenstunden Nachrichten, dass ich auf dem falschen Dampfer | |
unterwegs wäre und bitte über ein anderes Thema schreiben sollte. Das | |
schrieb mir eine Intellektuelle! Und genau hier muss ich wohl ansetzen. | |
Sie haben über zwei Jahre für das Buch recherchiert und waren mit einem | |
Stipendium in Eriwan, im Archiv des Armenischen Genozidmuseums. | |
Weil ich mir vollkommen sicher sein wollte. Das ist ja kein Roman im | |
eigentlichen Sinne, wo ich aus meinem eigenen Erleben heraus einen Stoff | |
entwickle. Der Stoff ist da, es gibt eine historische Realität. Die kann | |
ich aber nicht aufschreiben, als wäre es ein Wikipedia-Artikel. Deshalb | |
dann so: Eine türkeistämmige Protagonistin, die sich nicht sehr gut mit der | |
türkischen Geschichte auskennt, verändert im Fluss des Romans ihre Haltung | |
von der einer Unwissenden zu der einer Fragenden und Suchenden. Zumindest | |
wäre das mein Wunschdenken. | |
Wie wurde die Verleugnung des Genozids aufrechterhalten? Allein mit den | |
Lehrplänen in den Schulen kann es doch nicht getan gewesen sein. | |
Erziehung, ganz klar. Es gibt immer noch diesen furchtbaren Ausspruch, den | |
bestimmt jeder kennt: Früher war alles besser. Wir wussten noch nicht | |
einmal, dass unsere Nachbarn Aleviten oder Kurden waren, das war uns nicht | |
wichtig. | |
Oh ja, das kenne ich auch. | |
Und hier beginnt genau das Problem. Weil die Minderheiten ihre Herkunft | |
verleugnen mussten. Viele der Armenierinnen und Armenier in der Türkei | |
haben türkische Rufnamen. Ich habe erst sehr spät erfahren, dass einer | |
meiner besten Freunde Armenier ist. Er heißt Yaşar. Wie hätte ich das also | |
wissen sollen? Er musste es verstecken. Kann man das erklären? | |
Kann man? | |
Ich kann es nur versuchen. Die türkische Republik fußt auf dieser | |
Gleichmachung. Und wenn wir das antasten und sagen, nö, hier leben Kurden | |
und Aleviten und Armenier, dann passiert Folgendes: Zweifel an diesem | |
Glaubenssatz, der zu den Fundamenten dieses Staates gehört, könnten, so | |
glauben viele, das Fundament erschüttern und die Republik ins Wanken | |
bringen, wenn nicht sogar zerstören. Aber das wird nicht passieren. Ein | |
Staat und eine Gesellschaft, die ihre Verbrechen in der Vergangenheit | |
anerkennen und diese öffentlich bereuten, wären zumindest nicht so | |
vulnerabel, wie es uns glauben gemacht wird. | |
Gab es denn Momente in der türkischen Geschichte, dass Sie das Gefühl | |
hatten, diese Aufarbeitung der Geschichte passierte? | |
Ja, leider waren die Anfangsjahre der jetzigen Regierungspartei AKP | |
hoffnungsvolle Jahre. Sie kamen mit dem Versprechen, Freiheiten zu | |
gewähren. Sogar Recep Tayyip Erdoğan referierte in einem Fernsehinterview | |
über Freiheiten und Rechte für Homosexuelle. Und sie sprachen vom Genozid. | |
Erst viel später bemerkten wir, dass das auch wieder nur ein Mittel war, um | |
an die Macht zu gelangen. | |
Wie hoffnungslos ist die Lage der Türkei auf einer Skala von eins bis zehn? | |
Ach, die Türkei ist immer für eine Überraschung gut. Das konnte man doch | |
gut an den Gezi-Protesten sehen. Und auch wenn der Braindrain aus der | |
Türkei noch immer anhält, ist sie immer noch ein Land mit einer | |
durchschnittlich sehr jungen Bevölkerung. Ich bin da nicht hoffnungslos. | |
Apropos Braindrain. Seit einigen Jahren ist Berlin Ihr Wohnort. Sind Sie | |
ein Berliner? | |
(lacht) Oh, das weiß ich noch nicht. Aber ich glaube schon. Ich liebe | |
Großstädte – und dass man in ihnen verloren gehen kann, wenn man will, und | |
dann auch wieder sehr präsent sein kann, wenn man das will. Ich habe ja das | |
Wohnen ausprobiert in anderen Städten, in London, Paris und New York, aber | |
nirgendwo war ich so grundzufrieden wie in Berlin. | |
Ach was. | |
Ja, wirklich. Ich glaube, dass Berlin noch immer von der intellektuellen | |
Hochzeit aus den 1920er Jahren zehrt. Es interessiert hier niemanden, ob du | |
eine Rolex trägst oder ein Abendkleid. Dann gibt es hier Stipendien für | |
Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt, damit sie Ihre Kreativität in | |
ihren eigenen Sprachen ausdrücken können – das gibt es nirgendwo sonst auf | |
der Welt. Berlin ist eine Kunst-und Kulturstadt, wo jeder so sein darf und | |
kann, wie er will. Das gibt es in den anderen europäischen Großstädten in | |
dieser Form nicht. | |
Also hat sich das erst im Laufe der Jahre herauskristallisiert, dass Sie in | |
Berlin vielleicht alt werden? | |
Ich habe schon mit neun Jahren gewusst, dass Berlin meine Stadt ist. Meine | |
frühesten Erinnerungen, die ich an Berlin habe, sind die Postkarten mit den | |
verschiedenen Kästchen drauf, dem Funkturm und der Mauer und allem, was es | |
da zu sehen gab. Meine Cousins wohnten hier und haben mir lange Jahre | |
Briefe und Postkarten geschrieben. Später kam ich in den Sommerferien oft | |
nach Berlin und schaute mir die Orte von den Postkarten an. Berlin habe ich | |
in der intellektuellen Auseinandersetzung verehrt und guckte Filme, die in | |
Berlin spielten, oder las Bücher mit Berlinbezug. Eigentlich habe ich mich | |
schon seit meiner Kindheit darauf vorbereitet, hier zu leben. | |
Berlin als Sehnsuchtsort und Paradies. Schön. | |
Na, eher eine bewusste Entscheidung. Mit meinem Boyfriend lebte ich davor | |
zwei Jahre in Paris und habe ihm das Versprechen abgerungen, nach seinem | |
Projekt, an dem er arbeitete, hierherzuziehen. Wie das Schicksal es wollte, | |
trennten wir uns, und ich bin allein hergekommen. Mein erstes Buch spielt | |
nicht umsonst in Berlin. Diese Stadt ist immer noch für viele junge | |
Menschen aus der Türkei genau dieser Sehnsuchtsort. | |
Ist es etwas anderes, sich als Mensch in mittleren Jahren, also mit | |
vierzig, zu entscheiden, nach Berlin zu ziehen, oder mit Anfang oder Mitte | |
zwanzig, wie die jungen Akademiker*innen aus der Türkei, die auch New | |
Wave genannt werden? | |
Klar. Vielleicht könnte man das mit einer Ehe vergleichen, die man in | |
meinem Alter noch eingeht. Ich habe viele Städte gesehen, habe einiges | |
erlebt, und in Berlin finde ich zwar keine vollkommene Befriedigung und die | |
Erfüllung aller meiner Wünsche, aber zu 80 Prozent bin ich zufrieden. Bei | |
den jungen Menschen aus der Türkei ist das naturgemäß anders. Das war ja | |
größtenteils keine rationale Entscheidung, sie flohen nach dem | |
Militärputschversuch 2016 in Scharen aus dem Land. Und kamen mit großen | |
Träumen im Gepäck: Sie hofften darauf, dass man sie hier mit offenen Armen | |
empfängt, dass sie so leben und arbeiten können, wie sie es möchten. So ist | |
das halt, wenn man jung ist, man denkt, es funktioniert einfach so. Aber | |
dass es hier auch ein bestimmtes System gibt und Regeln, die man nicht | |
kennt, sehen viele erst viel später, und es führt teilweise zu großen | |
Enttäuschungen. | |
Haben Sie Kontakt zu Exilierten in anderen deutschen Städten? Sind | |
Enttäuschungen in der anonymen Großstadt vielleicht in einer Kleinstadt zu | |
minimieren? | |
Wir tauschen uns ja oft aus in Foren in den sozialen Medien, die auch | |
wirklich den Namen New Wave tragen. Ja, dort liest man einiges: dass in den | |
Kleinstädten eher darauf geachtet wird, wie sich die Neuankömmlinge | |
anpassen; oder auch, dass sofort eine Adaptation an das System erwartet | |
wird. Es wird erwartet, dass man von jetzt auf gleich der perfekte Deutsche | |
wird. | |
Nicht dass Sie jetzt zum perfekten Deutschen mutieren, aber wird man im | |
Exil ein anderer Mensch? | |
Darüber habe ich mich erst letztens mit meinen Freunden unterhalten, die | |
noch in der Türkei leben. Einer erzählte, dass er nachts nur zwei bis drei | |
Stunden schliefe, das ginge nun schon seit Jahren so. Die Atmosphäre des | |
Landes bestimmt auch den Schlafrhythmus. Um den Schlaf gebracht zu werden | |
aufgrund der politischen Situation, das kannte ich auch. Mir war das | |
nicht bewusst, aber als ich noch in der Türkei lebte, hatte ich | |
Schlafstörungen. Das ist mir erst im Exil aufgefallen. | |
Und hier schlafen Sie besser? | |
Und wie! Ich wohne in einer der ruhigsten Wohnungen Berlins. Ich kann gut | |
schlafen und arbeite deshalb auch wieder am nächsten Roman. | |
5 Apr 2020 | |
## AUTOREN | |
Ebru Tasdemir | |
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