# taz.de -- Autor über Angst: „Es hilft nicht, zu erstarren“ | |
> Thorsten Glotzmann hat das Buch „Herr G. hat Angst“ geschrieben. Hier | |
> erzählt er, wie man Ängste besänftigt und was sie mit Freiheit zu tun | |
> haben. | |
Bild: Zwei Anhängerinnen der US-Demokraten am Wahltag: Die Wiederwahl von Dona… | |
taz: Herr Glotzmann, Sie haben [1][ein Buch über Angst] geschrieben. Vor | |
was fürchten Sie sich aktuell am meisten? | |
Glotzmann: Ich trage im Alltag viele Versagens- und Verlustängste mit mir | |
herum. Meine größte Angst aber betrifft unsere Zukunft: die | |
[2][Klimakrise], der [3][Rechtsextremismus], jetzt auch noch [4][Trump] und | |
all die bedrohlichen Szenarien, die in seiner zweiten Amtszeit Wirklichkeit | |
werden könnten. Das sind echte Gefahren und begründete Ängste, die sich | |
nicht so einfach auflösen lassen. Trotzdem gelingt es mir, mich nicht mehr | |
so leicht davon aus der Bahn werfen zu lassen. | |
taz: Und wie stellen Sie das an? | |
Glotzmann: Indem ich einen Schritt zurücktrete und meine Angstgedanken | |
neugierig erforsche wie Wolken am Himmel: Ah interessant, da ist Angst. | |
Indem ich mir bewusst mache: So wie die Angst kommt, wird sie auch wieder | |
gehen. Wie alles im Leben kommt und geht. Und: Gedanken sind nur Gedanken, | |
ich muss nicht alles glauben, was ich denke. Damit sind die Probleme noch | |
nicht gelöst, aber es hilft auch nicht, vor ihnen in Angst zu erstarren. | |
taz: Sondern? | |
Glotzmann: Ich glaube, es geht darum, die Angst als Warnsignal ernst zu | |
nehmen, um sie dann in etwas Positives zu verwandeln. Denn meist liegt ein | |
Wert in ihr: etwas, was mir wichtig ist und wofür ich mich einsetzen will: | |
zum Beispiel unsere Umwelt und ein solidarisches Miteinander. So komme ich | |
raus aus der Lähmung und rein ins Handeln. | |
taz: Um mit Ihrer Angst besser zurechtzukommen, haben Sie oder besser Ihr | |
Alter Ego Herr G. eine Reise unternommen: „durch Philosophie, Wissenschaft | |
und Spiritualität“. Was hat Herr G. von der Philosophie über seine Angst | |
gelernt? | |
Glotzmann: Sehr viel! Und nicht nur Theoretisches. In der Antike haben | |
philosophische Schulen ganz praktische Übungen vorgeschlagen, die zu einem | |
angstbefreiten Leben führen sollen. Unter anderem den Kontrolltest, bei dem | |
man sich bewusst macht, was in der eigenen Macht liegt und was nicht, um | |
sich nicht von unnötigen Sorgen beunruhigen zu lassen. Ein Beispiel: Was | |
ein zukünftiger US-Präsident möglicherweise tun wird, liegt vollkommen | |
außerhalb meiner Kontrolle. Aber ich kann mich auf die Dinge in meinem | |
Einflussbereich konzentrieren: mich zum Beispiel ehrenamtlich in einem | |
Verein engagieren und an meiner mentalen Widerstandskraft arbeiten. | |
Philosophen haben auch viel über den Tod nachgedacht. Oft heißt es ja, das | |
sei die größte aller Ängste. | |
taz: [5][Angst vor dem Tod] ist ja eigentlich schon ein Klischee. Wer hat | |
denn keine Angst vor dem Tod? | |
Glotzmann: Die Stoiker zum Beispiel. Zumindest empfehlen die, sich den Tod | |
– den eigenen und den geliebter Menschen – immer wieder zu | |
vergegenwärtigen. Sie nennen das die „Einübung des Todes“. | |
taz: Das klingt irgendwie makaber. | |
Glotzmann: Erst einmal schon. Aber führt man sich die Unvermeidlichkeit des | |
Todes jeden Tag aufs Neue vor Augen, verliert er seine Bedrohlichkeit. Er | |
ist dann nicht mehr das große Schreckgespenst, sondern der Hafen, in den | |
man eines Tages einfährt, in dem kein Schmerz mehr ist – und auch keine | |
Angst. Bei Montaigne, einem Philosophen aus der Renaissance, gibt es den | |
schönen Satz, man brauche keine Angst vor dem Sterben zu haben, denn die | |
Natur werde die Sache voll und ganz für uns übernehmen. Mich tröstet das. | |
taz: Ist das noch philosophisch oder ist Herr G. schon zur Spiritualität | |
übergegangen? | |
Glotzmann: Ich sehe jedenfalls starke Parallelen zu buddhistischer | |
Spiritualität, die letztlich auch nichts anderes ist als aufmerksame | |
Selbstbeobachtung – mit dem Ziel, Geisteszustände wie eben Angst zu | |
überwinden. Die neueren Ansätze der kognitiven Verhaltenstherapie, die bei | |
Angststörungen empfohlen ist, beziehen übrigens auch buddhistische | |
Praktiken mit ein. | |
taz: Welche wären das? | |
Glotzmann: Vor allem Achtsamkeitsübungen. Ich weiß, dass es Abwehrreflexe | |
gibt, wenn Begriffe wie „Achtsamkeit“ oder „Mindfulness“ fallen. Aber | |
letztlich sind das sehr hilfreiche Übungen, die die Aufmerksamkeit schulen. | |
Ich gebe ein Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie sitzen an einem Fluss, und | |
immer wenn ein Angstgedanke auftaucht, legen Sie ihn auf ein Laubblatt und | |
lassen ihn den Fluss hinunterfließen. Ziel dieser Übungen ist es, sich aus | |
Grübelschleifen und Sorgenspiralen zu befreien, was alles passieren könnte. | |
taz: Und das gelingt Ihnen auch in Momenten akuter Panik? | |
Glotzmann: Nicht immer, aber ich finde es hilfreich, mir zu | |
vergegenwärtigen, dass es sich dabei um eine Stressreaktion des Körpers | |
handelt, und zu wissen, was da konkret im Körper vorgeht. Auch zu wissen, | |
dass es vorübergeht. In akuten Panikmomenten hilft es mir aber auch, meine | |
besten Freund:innen anzurufen oder Sport zu machen. | |
taz: Mittlerweile belegen Studien, [6][dass regelmäßige Bewegung bei | |
Depressionen hilft]. Wie ist das bei Angstzuständen? | |
Glotzmann: Auch da gibt es Studien, die zeigen, dass Bewegung hilft. Bei | |
mir ist es vor allem das Laufen. Ich habe jedenfalls den Eindruck, dass ich | |
die Angst und den Stress aus meinem Körper herauslaufen kann. Außerdem muss | |
ich mich beim Laufen auf meine Atmung konzentrieren, was zur Folge hat, | |
dass mein Kopf klarer und meine Gedanken ruhiger werden. | |
taz: Um Unruhe oder Missstimmung zu kompensieren, wird ja auch gern zu | |
Alkohol oder anderen Substanzen gegriffen. Wie steht denn Herr G. dazu? | |
Glotzmann: Alkohol und andere Substanzen bieten für Herrn G. keine | |
Lösungen, sie machen alles nur noch schlimmer. Im Augenblick [7][laufen | |
zwar spannende Studien mit dem Wirkstoff Psilocybin], der in bestimmten | |
Pilzen vorkommt und der in der Therapie bei Angststörungen und Depressionen | |
helfen könnte, aber das ist für Herrn G. bisher keine Option. | |
taz: Also wird es erst mal kein Buch mit dem Titel „Herrn G.s Reise ins | |
Unbewusste“ geben. Würden Sie denn sagen, dass Herrn G.s Droge die Musik | |
ist? | |
Glotzmann: Auf jeden Fall. Sowohl beim Musikmachen als auch beim Musikhören | |
hat Herr G. das Gefühl, dass sich Ängste beruhigen. Das kennen sicher | |
viele: diesen Moment, in dem man sich selbst vergisst und ganz in der Musik | |
aufgeht. In der Angst fühlen wir uns allein, in der Musik sind wir | |
verbunden. | |
taz: Besonders eindrücklich in ihrem Buch fand ich den Zusammenhang | |
zwischen Freiheit und Angst, wie ihn beispielsweise Søren Kierkegaard und | |
auch Jean-Paul Sartre erkannt haben. Heißt das, je freier der Mensch ist, | |
desto ängstlicher wird er? | |
Glotzmann: Gut möglich. Angst scheint tatsächlich eng mit unserer | |
menschlichen Freiheit verknüpft zu sein: mit der Freiheit, eine | |
Entscheidung zu treffen, die falsch sein kann. Mit der Möglichkeit, sich | |
schuldig zu machen, andere zu enttäuschen und sich selbst zu verfehlen. | |
Wenn wir nur einer vorherbestimmten Route folgen würden und nicht die | |
Fantasie hätten, uns in eine offene Zukunft hinein zu entwerfen, wäre da | |
nicht diese monströse Angst, die alle möglichen und unmöglichen | |
Zukunftsszenarien durchspielt. Ich denke, deshalb ist sie auch so eng mit | |
dem Menschsein verwachsen, wir werden sie nie ganz los. Umso wichtiger ist | |
es, dass wir lernen, gut mit ihr umzugehen und sie zu besänftigen. | |
22 Nov 2024 | |
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## AUTOREN | |
Sophia Zessnik | |
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