# taz.de -- Auswärtiges Amt über die Türkei: Einige Grundrechte „ausgehebe… | |
> „Nahezu vollständig gleichgeschaltete“ Medien und eine „dysfunktionale… | |
> Justiz: Der Lagebericht des Auswärtigen Amts zur Türkei fällt extrem | |
> negativ aus. | |
Bild: Protest für die Pressefreiheit in Silivri bei Istanbul, Archivbild aus d… | |
BERLIN dpa | Das Auswärtige Amt stellt der Türkei bei der Wahrung | |
demokratischer Grundrechte ein vernichtendes Zeugnis aus. „Die türkische | |
Verfassung garantiert Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, [1][Meinungs- | |
und Pressefreiheit]. In der Praxis sind diese Rechte aber weitgehend | |
ausgehebelt“, heißt es in dem vertraulichen „Bericht über die asyl- und | |
abschiebungsrelevante Lage“ in dem Land, der der Deutschen Presse-Agentur | |
in Berlin vorliegt. Die türkischen Print- und TV-Medien werden in dem | |
Papier als „nahezu vollständig gleichgeschaltet“ beschrieben. | |
Die vom Auswärtigen Amt regelmäßig für die wichtigsten Herkunftsländer | |
erstellten Lageberichte sind eine wichtige Entscheidungshilfe im | |
Asylverfahren. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf), | |
Ausländerbehörden, aber auch Gerichte nutzen sie zur Beurteilung der Lage | |
im Herkunftsland. Das 31 Seiten umfassende aktuelle Papier ist auf den 24. | |
August datiert und bildet den Stand vom Juni ab. | |
Knapp 10.800 Türkinnen und Türken beantragten im vergangenen Jahr Asyl in | |
Deutschland. Rund jeder Zweite erhielt hierzulande Schutz, wenn man | |
Entscheidungen ausklammert, die sich etwa aus rein formalen Gründen | |
erledigt haben. | |
## Situation für MigrantInnen wird milder beurteilt | |
Wen die Regierung in Ankara als Anhänger der Gülen-Bewegung einstuft, der | |
muss auch mit juristischer Verfolgung rechnen. Laut Bericht genügt als | |
Indiz bereits ein Abonnement bestimmter Medien, die Nutzung einer | |
bestimmten Bank oder einer [2][speziellen Kommunikations-App]. Die Türkei | |
macht den in den USA lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen für den | |
Putschversuch von 2016 verantwortlich. | |
Auch im Ausland behält die Türkei nach Einschätzung des Auswärtigen Amts | |
Kritiker im Blick. „Es kann davon ausgegangen werden, dass türkische | |
Stellen Regierungsgegner, darunter insbesondere (auch vermeintliche) PKK- | |
und Gülen-Anhänger, im Ausland ausspähen, ebenso wie sie Tätigkeiten von in | |
Deutschland registrierten Vereinen beobachten.“ Die kurdische | |
Arbeiterpartei PKK ist in der Türkei als Terrororganisation eingestuft und | |
in Deutschland verboten. | |
Generell sei die türkische Justiz mit Terrorvorwürfen rasch bei der Hand. | |
Schon „öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in | |
den kurdisch geprägten Gebieten der Südosttürkei“ könne den [3][Tatbestand | |
der Terrorpropaganda] erfüllen. Die Justiz wird als „in weiten Teilen | |
dysfunktional“ und teils politisch beeinflusst beschrieben. „Darüber hinaus | |
wurden einzelne Richter nach kontroversen Entscheidungen suspendiert oder | |
(straf)versetzt, woraufhin andere Richter gegen die gleichen Angeklagten | |
zum politisch opportunen Ergebnis kamen.“ | |
Milder beurteilt das Auswärtige Amt die Situation für Migranten – die | |
Türkei beherbergt laut UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR weltweit die meisten | |
Flüchtlinge und ist ein zwar schwieriger, aber wichtiger Partner für die EU | |
in der Migrationspolitik. Nach offiziellen Angaben leben dort aktuell knapp | |
4 Millionen registrierte Flüchtlinge, davon 3,6 Millionen Syrer, die | |
vorübergehenden Schutz genießen. | |
Die Behörden seien überlastet, wenn es um die Einzelfallprüfung | |
nichtsyrischer Anträge gehe. Registrierte Flüchtlinge haben Anspruch auf | |
medizinische Versorgung und dürfen im Prinzip arbeiten – das sei in der | |
Praxis aber so schwierig, dass die meisten allenfalls schwarz arbeiteten, | |
heißt es weiter. | |
Das Auswärtige Amt verweist auf Berichte von Menschenrechtsorganisationen | |
zu Misshandlungen von Flüchtlingen durch Sicherheitskräfte und über | |
erzwungene Unterzeichnungen einer Erklärung zur freiwilligen Ausreise, | |
merkt aber an: „Es ist nicht erkennbar, dass dies eine systematische Praxis | |
darstellt. UNHCR evaluiert die Flüchtlingspolitik der Türkei auch im | |
internationalen Vergleich tendenziell positiv.“ | |
Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl sieht das völlig anders. „Die Türkei | |
ist eine Blackbox, was den Umgang mit Schutzsuchenden angeht“, beklagt | |
Geschäftsführer Günter Burkhardt. Generell stehen in der Türkei auch | |
Menschenrechtsorganisationen unter staatlichem Druck, was ihre Arbeit | |
erschwert. | |
„Es ist skandalös, dass Deutschland und die EU solch einem Unrechtsregime | |
Schutzsuchende anvertrauen“, erklärte Burkhardt. „Die türkischen Behörden | |
geben Geflüchteten kaum Möglichkeiten, sich registrieren zu lassen. Damit | |
bleiben sie in der Illegalität und sind von Abschiebung permanent bedroht.“ | |
Die Türkei sei kein Rechtsstaat. Das treffe auch Geflüchtete. | |
30 Sep 2020 | |
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