# taz.de -- Ausstellung über den drohenden Kollaps: Im Angesicht des Todes | |
> Seit 30 Jahren produzieren Künstler:innen im Bremer Künstlerhaus und | |
> stellen aus. Die aktuelle Ausstellung fordert einen „Palliative Turn“. | |
Bild: Lebensecht, aber tot, weil aus Metall: Jana Thiel und Volker Grahmanns �… | |
Das Qualitätsurteil „ziemlich“ haben ausstellende Künstler:innen nach | |
eingehender Prüfung und Befragungen dem Künstlerhaus Bremen verliehen: | |
„Ziemlich palliativ“ sei es, unterstütze also [1][„The Palliative Turn�… | |
(TPT), so der Titel der aktuellen Schau. Sie knüpft an [2][Gedanken der | |
Hospizbewegung] an und bezieht sich auf den Wendepunkt im Leben, ab dem es | |
nicht mehr darum geht, eine Krankheit zu heilen, sondern einen würdevollen | |
Umgang mit dem unausweichlichen Tod zu gestalten. | |
Angesichts der Ausbeutungsmechanismen von Mensch und Natur erweitert die | |
„[3][Association for The Palliative Turn]“ (APT) in der 130 Quadratmeter | |
kleinen Galerie den Blick vom individuellen Siechtum unserer Körper zum | |
möglichen Verschwinden von Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur. „Business | |
as usual has nothing to offer anymore “, wie es im APT-Manifest heißt. | |
Die 30 gezeigten Arbeiten illustrieren aber nicht einfach Sensenmänner oder | |
die Apokalypse. Die offene Künstler:innengruppe sucht einen positiven | |
Umgang mit dem prognostizierten „systemischen Kollaps“ und fordert, ab | |
sofort so kollaborativ wie einfühlsam zu zelebrieren, was noch möglich sei. | |
Ein Fest im Angesicht des Todes? Denn das Künstlerhaus selbst steht vor dem | |
Aus? Endet gar die Kunst? „Nein, ich glaube, dass es hier noch lange | |
weitergeht“, zeigt sich Kuratorin Nadja Quante optimistisch. Ihr Vertrag | |
beim Künstlerhaus läuft zumindest noch bis Januar 2025. Und mit „The | |
Palliative Turn“ eröffnet sie die Feierlichkeiten zum 30. Geburtstag der | |
Institution – einem erfolgreich etablierten Konzept staatlich | |
mitfinanzierter und selbstverwalteter Kreativpolitik. | |
## Ausstellungs-, aber auch Produktionsstätte | |
Die einst von Gewürz- und Holzhändlern genutzten 2.200 Quadratmeter der | |
Immobilie wurden 1988 von der Stadt gekauft und später umgebaut – als | |
Ausgleich für die nahe Weserinsel Teerhof. Bis zu ihrer Bebauung hatten | |
sich dort Kulturakteur:innen ausgetobt und suchten eine neue Heimat. | |
[4][Das Künstlerhaus] verfügt über einen Jahresetat von 400.000 Euro, | |
150.000 Euro davon sind durch die institutionelle Förderung der | |
Kulturbehörde gedeckt. Von Beginn an ist es nicht nur eine | |
Ausstellungsstätte, die überregionale Bekanntheit erlangt hat, sondern auch | |
Produktionsstätte, als die der Ort in Bremen wahrgenommen wird. | |
In 17 Ateliers arbeiten derzeit 20 einjurierte Künstler:innen. Zusätzlich | |
haben sich Werkstätten, Kunstverbände, soloselbstständige Fotograf:innen, | |
Designer:innen, Soundkünstler:innen und ein Restaurant eingemietet. | |
Alle 40 Nutzer:innen sind die Mitglieder des Künstlerhaus-Vereins. Mit | |
einfacher Mehrheit werden Entscheidungen getroffen. Gerade geht es um die | |
gendergerechte Umbenennung des Hauses. Wichtig sei allen der gegenseitige | |
Austausch in künstlerischer, handwerklicher, persönlicher Form, so Quante. | |
Zum 20-jährigen Jubiläum hatten Korpys/Löffler den „Geist“ der Instituti… | |
aus der mit Schweißausdünstungen gesättigten Raumluft einer Vernissage | |
destilliert. Wie riecht der Geist des Hauses heute? „Vielleicht nach | |
Essen“, sagt Quante. Schließlich bekochen sich die Nutzer:innen | |
regelmäßig zur Gemeinschaftspflege. | |
Eingegroovt hatten sich einstige Kuratorinnen auf die Idee, junge | |
Shootingstars der internationalen Kunstszene nach Bremen zu holen. | |
Einerseits erwies sich das als Karrierebeschleuniger für die | |
Ausstellungsmacher:innen, andererseits wollten sie so die lokale Szene | |
global vernetzen. Quante argumentiert gegen die Altersdiskriminierung | |
dieser Programmatik und den kapitalistischen Wettlauf um stets neue, | |
marktgängige Namen. | |
## Ressourcenarmes kuratorisches Arbeiten | |
Der Kulturwissenschaftlerin sind ästhetische und gesellschaftliche | |
Fragestellungen wichtiger – etwa wie Performances auszustellen sind oder | |
wie kuratorisches Arbeiten ressourcen- und CO2-arm möglich ist. Man könne | |
nicht zu jeder Biennale fliegen und dann mangelhafte Maßnahmen gegen den | |
Klimawandel kritisieren, so Quante. „Auch müssen wir nicht alle vier Wochen | |
eine neue Schau raushauen.“ Drei, vier Ausstellungen pro Jahr reichten | |
völlig aus. | |
Bereits jetzt zeichne sich ab, dass die Vor-Corona-Zahlen von je 300 bis | |
400 Besuchern wieder erreicht werden. Nur mit dem Geldzufluss hadert | |
Quante. „12.000 Euro habe ich für alle Ausstellungen pro Jahr, ohne | |
Drittmittel und die solidarische Unterstützung der Bremer Kulturszene geht | |
da nichts.“ | |
Jetzt also TPT. Mit Bremer Beteiligung. Laura Pientka verknüpft den | |
wachsenden Schmerz des nahenden Ablebens mit der Entgrenzung des Alltags in | |
schmerzlustvollen Sex-Praktiken – indem sie eine schwarze Kerze in einen | |
keramischen Männerarsch züngeln lässt. Richtig Appetit machen Jana Thiel | |
und Volker Grahmann. Servieren sie doch ein Büffet mit lebensechten | |
Metallabgüssen von Würmern, Algen, Tintenfischen, Kraken und Krebsen, dazu | |
ist einem Hör-Monolog zu lauschen zur These, der Kern jeder Utopie sei die | |
Abschaffung des Todes. | |
Olav Westphalen, einer der beiden Zeichner, die unter dem Pseudonym | |
Rattelschneck ihre Cartoons und Comics veröffentlichen, musste sich nach | |
einer Krebsdiagnose „plötzlich und unerwartet“ mit dem Tod | |
auseinandersetzen und wurde 2020 Mitbegründer von ATP. In Bremen zeigt er | |
fotografisch, wie ihm seine Mutter ein „Mom“-Tattoo in den Arm ritzt, sich | |
also in seinen Körper einschreibt – um auf diese Art fortzuleben? Karin | |
Kytökangas (Schweden) hinterließ einen riesigen Wasserball in der Galerie – | |
fürs spielerische Existieren am Strand des Lebens. | |
Die empathischen Dienste des Umzugsunternehmens „Pläsnt Dschörnie“ bietet | |
Ethan Hayes-Chute (USA) an einem improvisierten Messestand an – was gerade | |
Übersiedler ins Jenseits interessieren dürfte. Eindrücklich ist auch ein | |
Ölgemälde des in elterlicher Pflege erfahrenen Teal Griffin | |
(Großbritannien). Plastikhandschuhe wie sie Pfleger vor jeder Berührung von | |
Todkranken überstreifen, verschließen den Blick in die Bildtiefe – wie ein | |
Theatervorhang nach der Dernière einer Inszenierung (des Daseins). | |
Es sind solche Assoziationsreize, mit denen die Ausstellung das schwere | |
Ende leicht machen will. Dabei wird traurig gedacht, aber stets freundlich | |
– und mit hintersinnigem Humor. „The Palliative Turn“ funktioniert ziemli… | |
gut als Prolog für die Geburtstagsschau „Künstlerische Auseinandersetzungen | |
mit der Geschichte und dem Archiv des Künstlerhauses Bremen“. | |
11 Sep 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.kuenstlerhausbremen.de/de/ausstellung/the-palliative-turn/ | |
[2] /Bremen-baut-Palliativbetreuung-aus/!5322862 | |
[3] https://www.palliativeturn.org/ | |
[4] https://www.kuenstlerhausbremen.de/de/das-haus/ueber-uns/ | |
## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
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