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# taz.de -- Ausstellung „Ghosting“ in Hohenlockstedt: Bleibende Verluste
> Zack, aus, plötzlich weg: „Ghosting“ kennen wir vom Online-Dating. Der
> gleichnamigen Ausstellung zufolge erklärt das Phänomen aber so manches
> mehr.
Bild: Verhangene Fenster: wo der besondere Raum des „white cube“ und die Kl…
Ist es schon ein Buzzword? „Ghosting“ begegnen wir längst auch im
Ratgeberteil von Fernsehzeitschriften, aber eigentlich kennen wir den
Begriff aus der Online-Welt, genauer: der Welt der online erledigten
Beziehungsanbahnung und -pflege. [1][„Ghosting“] ist, wenn einer sich dem
anderen ganz plötzlich entzieht: verstummt, verschwindet, ohne Erklärung,
zack, aus.
Nicht, dass es so was nicht auch vor dem Internet und Datingapps gegeben
hätte. Aber leichter fällt solcher Rückzug wohl, je mehr Beziehung, auch
Beziehungspraxis, sich stützt auf mediale, auf technische Vermittlung – die
ja selbst weiß Gott nicht frei ist von Gespenstischem.
Seinem eigenen Erfinder, [2][Alexander Graham Bell], erschien das Telefon
nicht bloß als wissenschaftlich zu erklärender Apparat. Und nur mit dem
Griff ins Vokabular des Übernatürlichen wäre doch vor zwei, drei
Generationen noch zu erklären gewesen, dass uns die ferne Oma nun im
Bewegtbild erscheinen kann.
Und nun also hat die Arthur-Boskamp-Stiftung im schleswig-holsteinischen
Hohenlockstedt ihr Programm für das laufende Jahr so überschrieben:
„Ghosting“. Und damit zunächst einmal eine Ausstellung in ihrem white cube,
[3][dem Anbau der „Massivbaracke 1“, kurz: M.1], deren Erhalt ja lange die
sichtbarste Aktivität der Stiftung vor Ort war. Ums Beziehungsghosten geht
es da auch – aber nur unter anderem.
## Verweis aufs Ausgesparte
„Wenn man schon mal geghostet wurde“, sagt Agnieszka Roguski, „dann weiß
man: Die Person, die einen ghosted, wird dadurch umso lebendiger.“ Wenn
etwas verschwinde, so die Kuratorin weiter: „Was ist dann das Nachleben?
Wie lebt es auf?“ Es sei damit ja anders als etwa mit einer bloßen
Erinnerung, die auf ein Foto gepackt werden könne oder als Ding in ein
Archiv gelegt. „Es geht um diese Heimsuchungen, die Teil der Gegenwart
sind.“
Wodurch Ghosten und Geghostet-Werden allgemeinere Aussagen ermöglichten
über das Jetzt: Es macht sichtbar und verweist auf das, „was gerne
ausgespart wird, was als Konflikt beiseite geschoben wird, was nicht so
richtig reinpasst: das Abseitige, das Marginalisierte, das, was kein
Zuhause hat, das, was in der Geschichte gerne übersehen wird“.
Da, spätestens, ist die rein romantisch-private Ebene dann verlassen:
Solches Ausblenden, Nicht-so-gerne-Erinnert-Werden gibt es ja auch im
politischen, globalen Rahmen. Und in diesem Sinne handelt „Ghosting“ dann
plötzlich auch vom Absolutheitsanspruch eines „Kapitalistischen Realismus“,
wie ihn [4][der linke Theoretiker Mark Fisher] analysiert hat.
Beim Betreten wird der Besucher vor allem erinnert an die Wurzeln des so
aufgeladenen G-Worts, ans Spuken, an die Gespenster (etwas) anderer Art: Da
sind Möbel, ein ganzer Haufen davon, mit weißem Tuch verhängt, wie sie im
selten oder gar nicht mehr benutzten Flügel eines entlegenen Landhauses
stehen könnten.
Über die Gründe für dieses Stilllegen – hier mal nicht einer Beziehung –
würde etwa in der viktorianischen Spukgeschichte tunlichst nicht
gesprochen, zumindest nicht mit Außenstehenden: Zu schrecklich, was sich
hier zutrug, zu gruselig, was hier seitdem herumspukt.
Beim Herumgehen um das unförmige große weiße Objekt – gestaltet hat diesen
Teil der Ausstellung Martha Schwindling aus Berlin – offenbaren sich eine
Leinwand und ein paar auf sie hin orientierte Stühle, ebenfalls verhängt
mit weißen Laken, also dem elementaren Gespenster-Kostüm.
Hier werden zwei Videoarbeiten gezeigt, noch bis zum 21. Juli sind das „In
My Room“ (2020) von Hannah Quinlan und Rosie Hastings, sowie Natasha
Tonteys „Garden Amidst the Flame“ (2022); zwei formal wie inhaltlich sehr
unterschiedliche Annäherungen an Übergänge und Nachwirkungen.
Und dann gibt es im Raum noch zwei Installationen aus ganz handfesten
Objekten: Orawan Arunraks „After This …“ (2021–2022) und Tra My Nguyens
„Bodies“ (2019–20) – keine „monumentalen Kunstwerke“, sagt Roguski,
„sondern Aufscheinungen“. Wiederum ganz unterschiedliche Befassungen mit
dem Dazwischen, dem Vorläufigen, dem Nicht-ganz-Geklärten. Viel mehr sei
hier gar nicht dargelegt, denn – falls das nicht klar wurde – einen Ausflug
nach Hohenlockstedt, der Kunst wegen, empfehlen wir ganz ausdrücklich.
## „Höger-Bau“ wird renoviert
Und schließlich: Auch die Stiftung selbst … nun, sie stirbt nicht oder
verschwindet komplett aus dem kleinen, so wenig zu diskursiv-ambitionierter
Kunst passenden Hohenlockstedt. Aber ihre Aktivitäten werden absehbar doch
ihre Gestalt verändern, es könnte also wirken, als wäre da etwas weg, das
gerade erst ein paar Jahre lang da war: Man renoviert derzeit [5][den
historischen „Höger-Bau“], ein paar Straßen weiter, das bindet zumindest
für eine Zeit Ressourcen.
Verschwinden und Rückzug, zumindest vermeintlich und, tja, die Hoffnung auf
vielmehr sogar noch gewachsene, wirkungsvollere Anwesenheit: Dinge, die die
Institution und ihre Verantwortlichen derzeit ganz persönlich umtreiben
dürften.
23 Jun 2023
## LINKS
[1] /Archiv-Suche/!5484798/
[2] https://loc.getarchive.net/media/alexander-graham-bell-edward-charles-bell-…
[3] /Irritierende-Kunst-in-der-Kleinststadt/!5844705
[4] /Mark-Fisher/!t5009736
[5] /Schichtenweise-Militaergeschichte/!5920605
## AUTOREN
Alexander Diehl
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Kunst
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