# taz.de -- Ausländerbehörde agiert fragwürdig: Schikane per Grundgesetz | |
> Trotz Job, Wohnung und Sprachkurs: Leer verweigert Migranten das | |
> Chancenaufenthaltsrecht – weil sie das Grundgesetz nicht gut genug | |
> kennen. | |
Bild: Feierlicher Schwur oder Lippenbekenntnis? Ausländerbehörden prüfen das… | |
Hannover taz | Sie dachten, sie hätten alles richtig gemacht. Sie haben | |
sich Job, Wohnung und neuen Pass besorgt, Sprachtest und den Test „Leben in | |
Deutschland“ bestanden. Alles so, wie es im Chancenaufenthaltsrecht | |
vorgesehen ist. Doch dann macht ein einziges Gespräch mit dem | |
Sachbearbeiter in der Ausländerbehörde des Landkreises Leer alles zunichte. | |
Statt des erhofften dauerhaften Aufenthaltsrechtes droht nun sogar die | |
Abschiebung. | |
Elf solcher Fälle sind mittlerweile bei Ali Kone vom Verein Afrikanische | |
Diaspora Ostfriesland gelandet – zehn von ihnen stammen aus | |
westafrikanischen Ländern. „Diese Menschen sind verzweifelt, in Panik“, | |
sagt Kone, der sich Hilfe beim Flüchtlingsrat gesucht hat. Und der äußert | |
einen bösen Verdacht: Versucht der Landkreis hier mit einem Trick seine | |
Abschiebequote in die Höhe zu treiben? Spielt Rassismus eine Rolle? | |
In den Augen des Flüchtlingsrates verkehrt der Landkreis die Absicht des | |
Chancenaufenthaltsgesetzes ins Gegenteil. Das zum 31. Dezember 2022 in | |
Kraft getretene Gesetz sollte dafür sorgen, dass Menschen aus der | |
belastenden Situation der Kettenduldungen herauskommen. | |
Es gilt nur für Menschen, die zum Stichtag 1. Oktober 2022 schon länger als | |
fünf Jahre in Deutschland lebten und in dieser Zeit nicht straffällig | |
geworden sind. Es verschafft ihnen 18 Monate Zeit, die Voraussetzungen für | |
ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht zu erfüllen. | |
## Überraschende Befragung am Ende des Prozesses | |
Dazu gehören Sprachkenntnisse auf A2-Niveau, ein bestandener | |
Einbürgerungstest, ein Job, der ausreicht, den überwiegenden Teil der | |
Lebenshaltungskosten zu finanzieren. [1][Für viele Geduldete, die zuvor oft | |
zur Untätigkeit verdammt waren,] ist das ziemlich anspruchsvoll. | |
Im Landkreis Leer ist den Betroffenen allerdings etwas anderes zum | |
Verhängnis geworden: Das geforderte Bekenntnis zur | |
freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Das muss gleich zweimal abgegeben | |
werden: Zum ersten Mal, wenn man das Chancenaufenthaltsrecht beantragt und | |
dann noch einmal, wenn man ein dauerhaftes Bleiberecht beantragt. | |
Meistens sieht das so aus, dass die Antragssteller eine Erklärung | |
unterschreiben, in der sie versichern, auf dem Boden der Freiheitlich | |
demokratischen Grundordnung (FDGO) zu stehen. Damit hat sich der Landkreis | |
Leer auch in der ersten Runde noch zufriedengegeben. | |
Erst am Ende, wenn die Betroffenen alle anderen Integrationsleistungen | |
erbracht hatten und sich kurz vor dem Ziel wähnten, wurden sie noch einmal | |
in die Ausländerbehörde gebeten und befragt. | |
Nach der Darstellung von Ali Kone und den anderen Unterstützern vom | |
Flüchtlingsrat kam diese Befragung überraschend und überforderte die | |
meisten schon vom Sprachniveau her. Anders als bei der Einbürgerung muss | |
man hier ja das Niveau A2 nachweisen: Das reicht für die routinemäßige | |
Verständigung in Alltagssituationen – aber nicht für die Erörterung von | |
Gesetzestexten und Grundrechten. | |
## Inhalt und Form der Prüfung entziehen sich der Kontrolle | |
Der Landkreis erklärt auf Nachfrage, dass auf das Sprachniveau der | |
Antragssteller Rücksicht genommen werde. Wie solche Fragen aussehen, vermag | |
er nicht mitzuteilen. „Es handelt sich hier weder um eine formale Prüfung | |
noch um einen standardisierten Test, sondern um eine Belehrung, ein | |
mündliches, situationsbezogenes Gespräch“, schreibt der Sprecher. Auch | |
könnten anerkannte Dolmetscher hinzugezogen werden. | |
In den Fällen, die dem Flüchtlingsrat vorliegen, ist das nicht geschehen. | |
Damit, sagen Caroline Mohrs und Muzaffer Öztürkyilmaz, die sich mit dem | |
Vorgehen des Kreises beschäftigen, sei der Willkür Tür und Tor geöffnet. | |
Der Sachbearbeiter bestimmt allein, auf welchem Niveau er fragt und ob er | |
die Antworten befriedigend findet. Dieser Befund ist von außen schwer | |
nachzuvollziehen und zu überprüfen. Weder zur Vorbereitung noch zum | |
Nachbessern hat man den Betroffenen Gelegenheit gegeben. | |
Das sei auch im Vergleich zu anderen Ausländerbehörden ungewöhnlich, sagt | |
Mohrs. Da gehe man eher davon aus, dass das schriftliche Bekenntnis und der | |
bestandene Test „Leben in Deutschland“ (der dem Einbürgerungstest | |
entspricht) ausreicht. | |
Eine weitergehende Überprüfung gebe es nur, wenn man irgendwelche Hinweise | |
darauf habe, dass der Antragssteller es mit dem Bekenntnis nicht ernst | |
meint – zum Beispiel, weil er durch extremistische Äußerungen aufgefallen | |
ist oder sich in problematischen Kreisen bewegt. Das soll im Landkreis Leer | |
aber nicht der Fall gewesen sein. | |
## Chancen-Aufenthalt nur zur Pass-Beschaffung benutzt? | |
Für die Betroffenen in Leer ist das auch deshalb so dramatisch, weil sie | |
danach nicht einfach in den Status der Duldung zurückfallen, den sie vorher | |
gehabt haben – obwohl das vom Gesetzgeber ursprünglich eigentlich so | |
vorgesehen war. Statt eine Verbesserung zu erreichen, droht ihnen nun die | |
Abschiebung. | |
Der Landkreis nutzt den Umstand, dass für viele der Betroffenen jetzt zum | |
ersten Mal Pässe vorliegen. Auch das gehörte zu den Aufgaben, die das | |
Chancenaufenthaltsgesetz definiert. Eine, die allerdings von Anfang | |
umstritten war. Bei vielen Geduldeten ist der Vollzug der Abschiebung | |
ausgesetzt, weil keine gültigen Papiere vorliegen. Die werden häufig von | |
Schleppern kassiert oder es wird dazu geraten, sie wegzuwerfen. | |
Eine Neubeschaffung ist oft nicht einfach – dazu benötigt man meist | |
jemanden, der in der Heimat eine Geburtsurkunde besorgt, man braucht einen | |
Termin bei der Botschaft, die für manche afrikanischen Länder in Belgien | |
oder Frankreich ist, was wiederum mit den Reisebeschränkungen, denen man | |
als Geduldeter unterliegt, nicht leicht zu vereinbaren ist. | |
Das alles ist kompliziert, kostet Zeit und Geld, das im | |
Asylbewerberleistungssatz nicht vorgesehen ist. Das | |
Chancenaufenthaltsgesetz sollte Anreize setzen, sich um Papiere zu bemühen | |
– wobei Menschen, die ihre Identität aktiv verschleiert oder falsch | |
angegeben haben, von vorneherein ausgeschlossen sind. | |
## Gericht hat Zweifel an der Rechtmäßigkeit | |
Der Landkreis Leer verkehrt auch diesen Ansatz in sein Gegenteil. Und | |
argumentiert in mindestens einem Fall auch mit einem Zirkelschluss: Einem | |
Ivorer, der versucht, gerichtlich gegen seine drohende Abschiebung | |
vorzugehen, bescheinigte man, er dürfe ja jetzt gar nicht mehr arbeiten – | |
aber weil er damit nun seinen Vollzeitjob als Lagerarbeiter verloren hat, | |
erfülle er auch die Voraussetzungen für ein Bleiberecht nicht mehr. | |
Das gehörte allerdings zu den Punkten, bei denen das Verwaltungsgericht | |
Oldenburg hellhörig wurde. Weil ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit | |
des angegriffenen Verwaltungsaktes bestünden, setzte das Gericht mit einem | |
Beschluss im Eilverfahren die Abschiebung einmal aus – bis sich die Sache | |
in einem Hauptverfahren klären ließe. | |
Der Landkreis zeigt sich davon nicht besonders beeindruckt: Eine | |
[2][Pressemitteilung des Flüchtlingsrates, in der von Willkür und | |
Rassismus] die Rede war, wies der Landrat scharf zurück. Vorher hatte er | |
schon zahlreiche Bemühungen um ein direktes Gespräch mit den Betroffenen | |
und ihren Unterstützern abgeblockt. Einen vereinbarten Termin sagte er so | |
kurzfristig ab, dass die Flüchtlingsratsmitarbeiter schon aus Hannover | |
angereist waren. | |
Auch eine taz-Anfrage nach statistischen Daten vermochte der Landkreis | |
nicht zu beantworten. Ablehnungsquoten, die einen Vergleich mit anderen | |
Landkreisen ermöglicht hätten, könne man nicht mitteilen, weil eine solche | |
Statistik nicht geführt werde. | |
Aber rassistisch sei man in keinem Fall, betonte der Landkreis gegenüber | |
der dpa: Erst letzten Donnerstag habe ein Mann von der Elfenbeinküste | |
problemlos sein aktives Bekenntnis zur FDGO ablegen können. | |
## Verwaltungsgericht rügt ähnliches Vorgehen in Peine | |
Vom [3][Verwaltungsgericht Braunschweig wurde der Landkreis Peine am 20. | |
Februar für ein ganz ähnliches Vorgehen gerügt]. In diesem Fall ging es | |
sogar um eine Einbürgerung, also einen Vorgang für den eigentlich ein | |
strengerer Maßstab anzulegen wäre als für das Aufenthaltsrecht. | |
Geklagt hatte ein Libanese, der sich seit 2013 rechtmäßig in Deutschland | |
aufhält und mit einer deutschen Frau verheiratet ist. Obwohl er alle | |
sonstigen [4][Voraussetzungen für die Einbürgerung] erfüllte, lehnte der | |
Landkreis Peine diese nach einem 23-Fragen-Quiz zum Grundgesetz ab. | |
Der Mann habe die Fragen nicht vollständig und teilweise falsch | |
beantwortet, hieß es. Das Verwaltungsgericht hielt dagegen schon die Form | |
der Befragung für unzulässig, weil es vorher überhaupt keine Hinweise auf | |
mangelnde [5][Verfassungstreue] gegeben habe. Außerdem sei das Sprachniveau | |
des Klägers nicht hinreichend berücksichtigt worden. | |
Wegen der grundsätzlichen Bedeutung hat das Verwaltungsgericht allerdings | |
die Berufung beim Oberverwaltungsgericht und die Sprungrevision zum | |
Bundesverwaltungsgericht zugelassen. Eine endgültige Entscheidung könnte | |
also noch ein Weilchen auf sich warten lassen. | |
22 Feb 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Aufenthalt-in-Deutschland/!6020085 | |
[2] https://www.nds-fluerat.org/61437/aktuelles/rassismus-und-willkuer-fluechtl… | |
[3] https://verwaltungsgericht-braunschweig.niedersachsen.de/startseite/aktuell… | |
[4] /Einbuergerungen-und-Wahlrecht/!6070651 | |
[5] /Debatte-um-Berufsverbot-in-Bayern/!6066480 | |
## AUTOREN | |
Nadine Conti | |
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