# taz.de -- Atomenergie in Frankreich: Aktenzeichen AKW… ungelöst | |
> Die Hälfte von Frankreichs Atomreaktoren steht still, weil veraltet. | |
> Präsident Macron plant ein Neubauprogramm. Doch Energiekrise ist jetzt. | |
Bild: Die Wiederaufbereitungsanlage (WAA) von Orano in La Hague kann nur einen … | |
PARIS taz | An der Frage der Atomenergie wäre kürzlich vor den | |
Parlamentswahlen in Frankreich um ein Haar die Bildung der linken | |
Wahlallianz „Neue ökologische und soziale Volksunion“ (Nupes) gescheitert: | |
Die Grünen und die France insoumise sind konsequente AKW-Gegner, die | |
Kommunisten sind seit jeher für den Bau und Betrieb der Reaktoren, die | |
Sozialisten mehrheitlich für einen schrittweisen Ausstieg. Schließlich | |
wurde diese Streitfrage aus wahltaktischen Überlegungen einfach | |
ausgeklammert und mit dem Aktenzeichen „ungelöst“ auf später vertagt. Dies | |
ist geradezu typisch dafür, wie in Frankreich das Thema Atomenergie – und | |
vor allem die mit ihr zusammenhängenden Probleme – verdrängt werden. | |
Laut Umfragen wächst in Frankreich die Zustimmung zur Atomenergie. 2021 | |
bewerteten sie 50 Prozent der Befragten als Alternative zu fossilen | |
Brennstoffen in der Klimapolitik als positiv, nur 15 Prozent waren klar | |
entgegengesetzter Ansicht. Zwei Jahre zuvor betrug der Anteil der | |
AKW-Gegner hingegen noch 34 Prozent. | |
Das Resultat der neueren Umfrage freut den Auftraggeber – es handelt sich | |
um die staatliche Firma Orano, die für den gesamten Brennstoffzyklus | |
zuständig ist – und könnte doch in der Tendenz richtig sein. Aus | |
Pragmatismus oder einer gewissen Resignation heraus meinen offenbar viele | |
Französinnen und Franzosen, dass sich die für die Energieversorgung so | |
wichtige Atomenergie bis auf Weiteres nicht durch erneuerbare Energien | |
ersetzen lässt – oder sogar die Lösung für die derzeitigen Probleme sein | |
könnte. | |
Denn zur Erderhitzung und der Notwendigkeit, den CO2-Ausstoß rasch und | |
stark zu vermindern, kommt nun die durch ausbleibende russische Lieferungen | |
entstandene Energiekrise hinzu. Weniger denn je scheint es für Frankreich, | |
das rund 70 Prozent seiner Elektrizität mit Atomreaktoren produziert | |
(sofern sie gerade funktionieren!), in absehbarer Zeit denkbar, den | |
Energiebedarf anderweitig zu decken. | |
Mehr denn je will darum [1][die heutige Staatsführung neue Atommeiler | |
bauen] lassen: Präsident Emmanuel Macron hat gleich sechs vom Typ EPR | |
bestellt und weitere acht für später als Option vorgesehen. Und fast | |
niemand sagt derzeit dazu: Nein danke! Wenigstens könnte man fragen, wie | |
Frankreich die Zeit bis zur Inbetriebnahme dieser neuen Reaktoren zu | |
überbrücken gedenkt. Denn die Energiekrise ist heute und morgen, da helfen | |
keine hypothetischen Reaktionen, die erst in zehn oder gar zwanzig Jahren | |
greifen. | |
Um seine pharaonischen Pläne zu verwirklichen, hat Emmanuel Macron die | |
Verstaatlichung des Energiekonzerns EDF (Électricité de France) | |
angekündigt. Der einstige Monopolbetrieb ist zwar auch heute noch zu 84 | |
Prozent in öffentlichem Besitz, doch mit 100 Prozent des Kapitals müsste | |
der Staat sich von niemandem mehr dreinreden lassen – damit zumindest | |
rechtfertigt die Regierung diese Rückkaufofferte. | |
Sie will pro Aktie 12 Euro bezahlen; die Kleinsparer, die 2005 bei der | |
Teilprivatisierung je 32 Euro bezahlt hatten, fühlen sich heute | |
übervorteilt. Doch auch für den Staat bedeutet der Kauf nicht unbedingt | |
einen tollen Schnitt, muss er doch mit den Aktien auch die Schulden des | |
Energiekonzerns vollumfänglich übernehmen, die sich zum Ende des Jahres auf | |
geschätzte 65 Milliarden Euro belaufen. Allein im ersten Halbjahr 2022 | |
machte EDF 5,3 Milliarden Euro Verlust. Die Investitionen und die Kosten | |
der Entsorgung, die auf das Staatsunternehmen zukommen, drohen noch einmal | |
astronomisch hoch zu werden. Kein Privatunternehmen würde solche Risiken | |
eingehen. | |
Emmanuel Macron will mit dem forcierten Atomprogramm Frankreichs | |
Unabhängigkeit in der Energieversorgung sicherstellen. Tschernobyl und | |
Fukushima sind vergessen, die von Medien wiederholt und ausführlich | |
beschriebenen Pannen und Sicherheitsprobleme der derzeit 56 Reaktoren in | |
Frankreich ebenfalls. Mehr als die Hälfte sind derzeit außer Betrieb, 12 | |
wegen Korrosionsschäden und 18 wegen Wartungsarbeiten und Inspektionen. | |
## Auf Importe aus dem Ausland angewiesen | |
Die Konsequenz: Statt wie in den letzten Jahren Atomstrom zu exportieren | |
und auf dem eigenen Markt den Konsumenten die Kilowattstunden zu | |
regulierten Festpreisen vergleichsweise günstig verkaufen zu können, muss | |
Frankreich jetzt Elektrizität (aus Kohlekraftwerken!) aus dem benachbarten | |
Ausland importieren. Und auch im kommenden Winter dürfte die Kapazität der | |
Atomkraftwerke bei der Stromproduktion lediglich bei ungefähr 55 Prozent | |
liegen. So stellt man sich die von Macron beschworene „Souveränität“ bei | |
der Stromversorgung nicht vor. | |
Vorgesehen ist freilich, dass im kommenden Jahr in Flamanville in der | |
Normandie endlich Frankreichs erster EPR, ein Druckwasserreaktor der | |
dritten Generation, den Betrieb aufnimmt. Eigentlich hätte dieser | |
1.650-Megawatt-Reaktor schon vor zehn Jahren ans Netz gehen sollen. Doch | |
wegen Problemen, zuerst mit mangelhaftem Stahl, dann mit dem Beton und | |
danach mit beanstandeten Schweißarbeiten, musste der Start immer wieder | |
hinausgeschoben werden. Jetzt gibt es laut der Zeitung Libération, die sich | |
auf interne Informationen von Ingenieuren in Flamanville beruft, zudem noch | |
neue Sorgen mit zwei Steuerungssystemen, die es erlauben sollten, mit | |
Sonden den Ablauf der radioaktiven Prozesse zu überwachen. | |
Andere nicht abschließend geklärte Probleme mit übermäßigen Vibrationen von | |
Leitungen im Primärkreislauf des EPR wurden angeblich provisorisch mit | |
„Stoßdämpfern“ etwas vermindert. Der Energiekonzern EDF kann nicht | |
garantieren, dass Flamanville-3 im zweiten Halbjahr 2023 die Produktion | |
aufnimmt. Das Einzige, was den unbeirrbaren Befürwortern der Atomenergie in | |
Frankreich als „Lösung“ einfällt, ist eine Laufzeitverlängerung für die… | |
Teil schon 40 Jahre alten Anlagen. Sie sollen nach regelmäßigen | |
Inspektionen und Wartungen mindestens 10 Jahre länger funktionieren. | |
Auch bis dahin hat Frankreich jedoch keine finale Lösung für den Umgang mit | |
hochradioaktiven Rückständen. Die Wiederaufbereitungsanlage (WAA) von Orano | |
in La Hague kann nur einen kleinen Teil für eine Wiederverwendung in | |
(plutoniumhaltiges) Mischoxid umwandeln. Nur 10 Prozent des nuklearen | |
Brennstoffs der Reaktoren kommen aus der WAA. | |
Zudem sind die Kapazitäten der Zwischenlagerung bereits weitgehend | |
ausgeschöpft und die Einrichtungen veraltet. In einem Bericht der | |
Aufsichtsbehörde IRSN steht, dass der 2016 noch verfügbare Platz für die | |
verbrauchten Brennstäbe auf 7,4 Prozent der Kapazitäten geschrumpft war. | |
Der Bau eines neuen „Pools“ für die Zwischenlagerung ist geplant, er kann | |
aber frühestens 2034 benutzt werden. | |
Ohnehin muss für den großen Rest des hochaktiven Atommülls eine Lösung | |
gefunden werden. Die französische Atomindustrie hat bisher nur einen | |
Vorschlag: die Endlagerung unter Tage in geologisch stabilen Schichten. Den | |
Standort dafür glaubt die nationale Agentur für die Atommüllentsorgung | |
(Andra) in Bure, einem kleinen Dorf am Rand der Vogesen, gefunden zu haben. | |
Ein Versuchslabor bohrt, gräbt Tunnel und macht geologische Tests, um den | |
Aufsichtsbehörden zu beweisen, dass dort eine Endlagerung von Tausende | |
Jahre radioaktiven Rückständen verantwortbar sei. Bisher hat die Andra | |
allerdings noch nicht einmal eine Baubewilligung, vor 2035 oder 2040 können | |
keine Container mit hochradioaktiven Rückständen in Bure verbuddelt werden. | |
Seit Jahren [2][versucht zudem der lokale Widerstand, das Vorhaben zu | |
stoppen]. Doch der Staat will in Bure bis ins Jahr 2150 trotz aller | |
Einwände Frankreichs gefährlichsten Atommüll 500 Meter unter der Erde | |
vergraben – mit besten Grüßen für die kommenden Generationen und zuvor | |
schon mit einer Rechnung für die Schaffung der unterirdischen | |
Atommülldeponie, die bisherige Schätzungen von 50 Milliarden Euro | |
überschreiten könnte. | |
An guten Gründen, sich angesichts der vielfältigen ungelösten Probleme mit | |
der Atomenergie von heute und morgen nach dauerhaften Alternativen | |
umzusehen, mangelt es also nicht. Dennoch setzt Frankreich mit dem | |
Argument, dass Reaktoren den CO2-Ausstoß vermindern und die Klimaziele | |
einer geringeren Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen erreichbar machen, | |
weiter auf seine Atomkraftwerke. | |
6 Aug 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Plaene-fuer-neue-Druckwasserreaktoren/!5834407 | |
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## AUTOREN | |
Rudolf Balmer | |
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