# taz.de -- Arte-Produktion mit Cohn-Bendit: Ein Bus namens Sócrates | |
> Natürlich auch mit Pathos: Daniel Cohn-Bendit dreht während der WM ein | |
> brasilianisches Roadmovie – auf der Suche nach dem politischen Fußball. | |
Bild: Der brasilianische Mannschaftskapitän Sócrates bei der WM 1982 in Spani… | |
Hör mal, Doutor, sagte Daniel Cohn-Bendit am Telefon zu Sócrates. Da war | |
der legendäre Kinderarzt und Kapitän der brasilianischen WM-Mannschaft von | |
1982 gerade aus dem Krankenhaus zurück. Er wolle einen Fernsehfilm über die | |
WM 2014 drehen, sagte der grüne Europapolitiker und Anführer der Pariser | |
Studentenrevolte von 1968. Eine Art brasilianisches Roadmovie. | |
Er fahre mit einem Campingbus durch Brasilien und werde die besondere | |
Verbindung zwischen Fußball und Politik suchen, die er für weltweit | |
einzigartig halte, seit der Doutor als Spieler von Corinthians São Paulo | |
die Democracia Corinthiana eingeführt hatte; eine basisdemokratische | |
Struktur innerhalb eines Profifußballclubs, in der die Spieler | |
mitbestimmten und sich öffentlich gegen die damalige Diktatur engagierten. | |
Ob er, Sócrates, mit ihm auf die Suche nach dem politischen Fußball gehe? | |
„Großartig“, brummte der Doktor in den Hörer. „Ich bin dabei.“ | |
Das war im Herbst 2011. Wenige Woche später war Sócrates Brasileiro Sampaio | |
de Souza Vieira de Oliveira tot. Zu viel Alkohol. Organversagen. | |
Am Pfingstmontag ist Cohn-Bendit an der Copacabana von Rio de Janeiro | |
losgefahren. Mit einem Filmteam, seinem älteren Sohn als Regisseur und | |
einem Bus, dem er den Namen Sócrates gegeben hat, weil er den Geist des | |
Fußballsozialrevolutionärs um sich haben will. Am Ende wird ein | |
90-Minuten-Film für den deutsch-französischen Sender Arte stehen, der die | |
Sozialproteste der wütenden Brasilianer, ihre besondere Beziehung zum | |
Fußball und Cohn-Bendits innere Reise zusammenbringen soll. | |
## Pathos und Gegenkultur | |
Selbstverständlich neigt Cohn-Bendit, 69, zum Pathos. Erstens hat ihn das | |
seit den flammenden Reden auf den Pariser Barrikaden im Mai 1968 weit | |
gebracht. Zweitens entspricht ihm das. Also hat er „Sócrates“ in Rio als | |
Erstes auch noch von einem Straßenkünstler bemalen lassen, eine sicher | |
nicht zufällige Hommage an „Further“, jenen Bus, mit dem Ken Kesey und die | |
Merry Pranksters in den 60ern durch die Vereinigten Staaten fuhren, um die | |
Gegenkultur zu erfinden und auf Film festzuhalten. | |
Gerade war er noch einmal auf dem Cover des Magazins von Le Monde, das | |
seine zwanzig Jahre im Europaparlament würdigte, die letzten zwölf als | |
Fraktionsvorsitzender der Grünen. Und Jean-Luc Godard, einer der größten | |
Regisseure Frankreichs, brummte: Nun habe man mal einen Politiker, der in | |
Europa durchblicke, und dann gehe der in Rente. So was, aber auch. | |
Es freut Cohn-Bendit mehr, als er zugeben würde, dass fast alle sagen: Du | |
darfst nicht gehen. Aber im Grunde war er seit Längerem im Kopf schon bei | |
seinem Film. Bei seinem Abschiedsfest in Brüssel war auch Rai da, der | |
Bruder von Sócrates und der Kapitän, mit dem Brasilien in die WM 1994 ging. | |
Als Uefa-Präsident Michel Platini sagte, die Brasilianer sollten doch nach | |
der WM demonstrieren, entgegnete Rai: „Wenn er in Brasilien im Krankenhaus | |
auf dem Flur liegen würde und auf einen Platz warte, hätte er vielleicht | |
eine andere Auffassung.“ | |
Rai wird genauso in den magischen Bus steigen wie andere Protagonisten des | |
sozialpolitischen Fußballs, etwa Corinthians-Rekordspieler Wladimir. Der | |
Erste, der ein Stück des Weges mitfuhr, war am Montag der | |
Che-Guevara-Lookalike Afonsinho. Fußballer, die wirklich sozial und | |
politisch engagiert sind, auch im Widerstand zu den herrschenden | |
Verhältnissen: Cohn-Bendit nennt das „die brasilianische Ausnahme“. In | |
Frankreich gibt es Lilian Thuram, immerhin. In Deutschland gibt es solche | |
Spieler nicht. Auch nicht Paul Breitner, dessen angebliches | |
Sozialrevoluzzertum die bizarrste Falschdarstellung der Fußballgeschichte | |
sein dürfte. | |
Sócrates agitierte nicht nur im Stadion die Leute für die Demokratie. Er | |
spielte auch einen Fußball, der die Herzen erreichte, jedenfalls wenn einen | |
die Erinnerung an die WM 1982 nicht trübt, als er zwar an den kalten | |
Italienern scheiterte, aber den ästhetischsten Stil zelebrierte. Die trübe | |
nicht, die Erinnerung, findet Cohn-Bendit. „Das war linker Fußball im Sinne | |
César Luis Menottis, für das Volk, gegen die Diktatur.“ | |
## Herz für Proteste | |
Geht es ihm nun um den Fußball oder um die Sozialproteste? „Die Menschen, | |
die dagegen sind, die haben auch ein Herz für Fußball. Und die, die für | |
Fußball sind, haben ein Herz für die, die dagegen ist. Mit dieser naiven, | |
optimistischen Einstellung fahren wir los“, sagt er am Telefon aus Rio kurz | |
vor der Abfahrt. Er wolle sehen und verstehen, wie das zusammenkomme. | |
Die Reise führt den Bus namens Sócrates nach São Paulo, Brasília, Salvador, | |
Belo Horizonte und zurück. Am 13. Juli will er zum Finale wieder in Rio | |
sein. Dort spielt dann, wenn es nach ihm geht: Brasilien gegen Argentinien. | |
„Weil dann ein ganzer Kontinent beben wird. Das ist Real gegen Barca hoch | |
zehn.“ | |
1984 trafen sich Cohn-Bendit und Sócrates in São Paulo zum ersten Mal, | |
setzten sich auf den Rasen des leeren Corinthians-Stadion und redeten über | |
die Verbindung von schönem Fußball und gerechter Gesellschaft. Sie und | |
viele andere trugen damals gelbe Bändchen am Handgelenk und das hieß: Freie | |
Wahlen jetzt. Sócrates sagte: „Dany, was ihr im Mai 1968 gemacht habt, das | |
passiert jetzt und hier in Brasilien.“ | |
Ein Jahr später war die Militärdiktatur zu Ende. | |
11 Jun 2014 | |
## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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