# taz.de -- Brasilianischer Fußballrebell Afonsinho: „Aufmüpfigkeit ist not… | |
> Afonsinho, der sanfte Rebell des brasilianischen Fußballs, über den | |
> Spielstil der Seleção, seinen Kampf gegen die Vereinsbosse und sein | |
> Fußballteam in den 70er Jahren. | |
Bild: „Für mich ist Widerspenstigkeit ein wichtiger menschlicher Wert“, sa… | |
taz: Herr Afonsinho, was für ein Fußballer waren Sie? | |
Afonsinho: Ich war ein Spielmachertyp, der Chancen für die Stürmer kreiert | |
hat und Pässe in die Tiefe des Raums spielen konnte. Ich habe den Rhythmus | |
des Spiels bestimmt, je nach Situation und Gegner. Wobei das von mir | |
bevorzugte Spieltempo schon einen langsameren Rhythmus hatte. | |
Anthropologen Ihrer Heimat sehen gerade in dem langsamen Rhythmus das | |
Besondere des brasilianischen Fußballs, bei dem man nicht so viel rennt, im | |
Gegensatz zum europäischen Kraftfußball. | |
Das stimmt. Was ich am Fußball jedenfalls am meisten mag, ist es, mit dem | |
Ball zu spielen, ihn in der Luft zu halten, Tricks zu machen, ohne dabei | |
das Gleichgewicht zu verlieren. Das faszinierte mich ich schon als Kind, | |
und darum bin ich auch Fußballer geworden. | |
Auch abseits des Platzes haben Sie für Furore gesorgt. In einer Zeit, als | |
Fußballer in Brasilien noch wie Leibeigene behandelt wurden, haben Sie sich | |
für die Rechte der Spieler eingesetzt. | |
Es gab den Spielerpass. Durch den waren die Fußballer an ihren Verein | |
gebunden – man könnte auch sagen „gekettet“. Mehr noch: In der Regel | |
erhielt ein Spieler, wenn er verkauft wurde, nur 15 Prozent der | |
Transfereinnahmen, der Verein dagegen die restlichen 85 Prozent. Ich war | |
der Erste, der sich vor Gericht das Recht erkämpft hat, frei über seinen | |
eigenen Spielerpass bestimmen zu können. Das bedeutete, dass ich mir meinen | |
Verein nun selber suchen konnte. In Europa ist es dazu erst viel später | |
gekommen, durch das Bosman-Urteil von 1995. | |
Warum haben Sie diesen schwierigen Kampf gegen die allmächtigen „Cartolas“, | |
die Vereinsfunktionäre, auf sich genommen? | |
Es begann damit, dass es bei Botafogo einen Trainerwechsel gab. Vorher war | |
ich Stammspieler, doch ich passte nicht ins Konzept des neuen Trainers. Das | |
war der zweifache Weltmeister Mário Zagallo, und er stellte mich nicht mehr | |
auf. Aber ich wollte weiter spielen und darum den Verein wechseln. Mir | |
lagen auch mehrere gute Angebote vor, doch wegen des Spielerpasses durfte | |
ich Botafogo nicht verlassen. | |
Spielten die damaligen Zeitumstände auch eine Rolle, die Jahre um 1970 | |
waren ja die Hochzeit der Militärdiktatur? | |
Natürlich. Überall in der Welt gab es Studentenunruhen, während in | |
Brasilien weiter das Militär herrschte. Die sozialen Beziehungen waren | |
daher sehr autoritär geprägt, was sich auch im Fußball widerspiegelte. Ich | |
trug damals lange Haare und einen Bart, zudem studierte ich Medizin an der | |
Universität, das alles sah man gar nicht gern. Ein Spieler sollte sich um | |
Fußball kümmern und sonst nichts. | |
Wurde es ein langer Prozess? | |
Die ganze Auseinandersetzung zog sich fast drei Jahre hin, von Ende 1968 | |
bis März 1971. Aber am Ende gewann ich den Prozess. Allerdings hatte ich | |
danach zunächst Schwierigkeiten, bei anderen Mannschaften einen Vertrag zu | |
erhalten. Erst habe ich bei dem kleinen Verein Olaria gespielt, einem | |
industriellen Vorort Rio de Janeiros, anschließend aber auch bei großen | |
Mannschaften wie Santos, Flamengo und Fluminense. Es dauerte schließlich | |
noch fast 30 Jahre, bis 1998 von Pelé, als er Sportminister war, ein Gesetz | |
erlassen wurde, durch das die restriktiven Regelungen des Spielerpasses in | |
Brasilien endgültig abgeschafft wurden. | |
1967 und 1968 haben Sie mit Botafogo zweimal die Stadtmeisterschaft von Rio | |
de Janeiro gewonnen. Es waren Ihre besten Jahre als Fußballer, als die | |
Auseinandersetzung um Ihren Spielerpass begann. Ihre Karriere hat darunter | |
zweifellos gelitten. Bereuen Sie das heute manchmal? | |
Nein. Es war sowohl eine Zeit der politischen Unterdrückung wie auch des | |
Aufbruchs. Und im Nachhinein hat sich auch gezeigt, dass ich mit meiner | |
Forderung im Recht war, freie Verfügung über meinen Spielerpass erlangen zu | |
wollen. | |
Inwiefern? | |
Nach dem Sieg bei der WM 1970 in Mexiko hat Brasilien 24 Jahre keinen | |
wichtigen Titel mehr gewonnen. Mein Verhalten war eine Reaktion auf die | |
verkrusteten Strukturen, die zu der langen Erfolglosigkeit der | |
brasilianischen Nationalmannschaft geführt haben. Vielleicht hätte ich als | |
Spieler mehr erreichen können. Aber dafür habe ich Dinge erfahren, die | |
wichtiger im Leben sind, von seinen Mitmenschen mit Respekt behandelt zu | |
werden zum Beispiel. Obwohl ich meine Karriere vor über 30 Jahren beendet | |
habe, werde ich immer noch auf der Straße mit den Worten angesprochen: | |
„Glückwünsche, Herr Afonsinho!“ | |
Ein Preis, den Sie dafür bezahlt haben, ist, dass Sie nie im Nationalteam | |
gespielt haben? | |
Es gab mit Sicherheit Momente in meiner Karriere, wo ich einer der besten | |
Mittelfeldspieler Brasiliens war, gerade in der Zeit nach der WM 1970. Mein | |
Trainer bei Botafogo, Mário Zagallo, wurde ja auch Trainer der Seleção, | |
nachdem die Militärs dafür gesorgt hatten, dass sein Vorgänger João | |
Saldanha abgesetzt wurde, weil er Mitglied der Kommunistischen Partei | |
Brasiliens war. | |
Pelé antwortete damals auf die Frage, wer im Fußballgeschäft wirklich frei | |
sei: „Ich kenne nur einen Einzigen, Afonsinho.“ Sie sahen seinerzeit mit | |
Ihrem langen Bart aus wie ein Che Guevara des Fußballplatzes, und in Ihrer | |
Heimat wurden Sie oft als „Rebell“ bezeichnet. Mögen Sie diesen Ehrentitel… | |
Für mich ist Widerspenstigkeit ein wichtiger menschlicher Wert. Die | |
Gesellschaft verändert, entwickelt sich und muss sich verändern. Darum ist | |
Aufmüpfigkeit manchmal notwendig. Ich denke schon, dass ich mich selbst als | |
Rebellen bezeichnen kann, denn ich habe mich gegen gewisse Dinge zur Wehr | |
gesetzt. Nur verbindet man mit dem Wort rebellisch häufig etwas Aggressives | |
– und das bin ich nicht, im Gegenteil: Ich halte die Fahne der Sanftheit | |
hoch. | |
Einer, mit dem Sie zu Karrierebeginn bei Botafogo noch zusammengespielt | |
haben, war der legendäre Garrincha. Wegen seines unsteten Lebenswandels | |
stand der Dribbelkünstler immer wieder in der Kritik. | |
Für mich war Garrincha kein umstrittener Spieler. Als Fußballer war er ein | |
Genie. Und auch als Mensch hatte er eine unglaubliche Sensibilität. Deshalb | |
haben wir die Mannschaft, die ich mit Freunden gegründet habe, „Trem da | |
Alegria“, „Zug der Freude“, genannt, als Hommage an ihn. Denn Garrincha | |
wurde von vielen „Alegria do Povo“ gerufen, die „Freude des Volkes“. Das | |
zeigt die grenzenlose Bewunderung für Garrincha, nicht nur für den | |
Fußballer, sondern auch für den liebenswürdigen Menschen, der er war. | |
Der „Zug der Freude“, was war das für eine Mannschaft? | |
Mitte der 70er Jahre, als wir den Trem da Alegria gegründet haben, gab es | |
viele junge Spieler, die arbeitslos wurden. Zusammen mit einigen anderen, | |
die wie ich Verfügung über ihren Spielerpass erkämpft hatten oder am Ende | |
ihrer Karriere standen, formierten wir den „Zug der Freude“. Wir nahmen | |
zwar nicht am Ligabetrieb teil, spielten aber professionell und verdienten | |
Geld damit. Zwischen 1976 und 1979 tourten wir nicht nur durch ganz | |
Brasilien, sondern sogar bis nach Angola. | |
Es gibt ein Foto von Ihnen und Sócrates, einem anderen „Rebellen“, mit dem | |
Sie gemeinsam Bier trinken. | |
Wir waren Brüder im Geiste. Sócrates war ja Mediziner wie ich auch, und wir | |
beide haben uns für Dinge außerhalb des Fußballs interessiert und | |
engagiert. Im Übrigen stimmt es nicht, dass Sócrates so viel Alkohol | |
getrunken hat, wie es immer heißt. | |
Unbestritten ist aber, dass Sócrates eine wichtige Rolle in der Bewegung | |
„Democracia Corinthiana“ gespielt hat, die am Ende der Militärdiktatur 1982 | |
freie Wahlen forderte. Nach seinem Tode 2011 haben Sie Sócrates’ Kolumne in | |
der Zeitschrift Carta Capital übernommen. Dort haben Sie vorgeschlagen, | |
dass der WM-Ball nicht „Brazuca“ heißen solle, sondern … | |
„Menina“, Mädchen. Ich dachte dabei an den großen Mittelfeldstrategen Did… | |
der über den Ball gesagt hat, man müsse ihn liebevoll behandeln. | |
1982 haben Sie Ihre Karriere beendet. Was machen Sie seitdem? | |
Ich habe mein Medizinstudium schon während der aktiven Zeit als Fußballer | |
abgeschlossen und arbeite seither als Arzt. Viele Jahre war ich in der | |
psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses tätig, heute in der | |
öffentlichen Gesundheitsstation auf der Insel Ilha de Paquetá in der Bucht | |
von Rio de Janeiro. Vielleicht kehre ich irgendwann auch als Trainer in den | |
Profifußball zurück. | |
17 Mar 2014 | |
## AUTOREN | |
Ole Schulz | |
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