# taz.de -- Brasilianische Fans im Widerstand: Die Fußball-Demokratie | |
> Pyros und Rauchbomben für die politische Sache: In São Paulo führen die | |
> Fans des Kultklubs Corinthians die Proteste gegen Präsident Jair | |
> Bolsonaro an. | |
Bild: Huldigung für Sócrates: Corinthians-Fans gedenken dem Fußballstar und … | |
São Paulo taz | Chico Malfitani ist wütend. „Wir haben die Militärdiktatur | |
am eigenen Leib erlebt und wollen nicht dorthin zurück“, sagt der | |
70-Jährige im stylischen Trainingsanzug. Malfitani ist Ultra-Veteran des | |
Kultklubs Corinthians und steht am Rande einer Menschenansammlung im | |
Zentrum von São Paulo. [1][Man hört Sprechchöre gegen Präsident Jair | |
Bolsonaro], Pyros und Rauchbomben werden gezündet, Banner für die | |
Demokratie werden in die Höhe gehalten. | |
Seit Wochen gehen Unterstützer*innen des ultrarechten Präsidenten Bolsonaro | |
auf die Straße. Neben dem Ende der coronabedingten Beschränkungen fordern | |
einige auch die Schließung des Parlaments und eine Militärintervention. So | |
auch an diesem Sonntag in São Paulo. Doch diesmal sind die Rechten weit in | |
der Unterzahl. Das liegt daran, dass sich Fans der vier großen | |
Fußballvereine der Stadt – die eigentlich miteinander verfeindet sind – | |
zusammengeschlossen haben. Ihr Ziel: den rechten Aufmarsch verhindern. | |
„Es ist surreal, was gerade in Brasilien passiert. Mit Bolsonaro droht | |
ernsthaft eine Rückkehr zur Diktatur“, sagt Malfitani. 1969 gründete er die | |
mächtige Ultra-Gruppe „Gaviões da Fiel“ (Treue Falken) mit. In dieser Zeit | |
herrschte eine brutale Militärdiktatur in Brasilien. Hunderte Menschen | |
wurden ermordet, Tausende gefoltert, verfolgt und ins Exil getrieben. | |
Während der Militärdiktatur kämpfte der Verein Corinthians gegen die | |
rechten Generäle – in der Kurve und auf dem Platz. Bekanntestes Gesicht | |
dieser Bewegung war Sócrates, Kapitän der brasilianischen | |
Nationalmannschaft und Anhänger marxistischer Ideen. Mit der Ernennung des | |
linken Soziologen Adílson Alves zum Sportdirektor startete ein einmaliges | |
Experiment im brasilianischen Fußball: die „democracia corinthiana“, die | |
Corinthians-Demokratie. „Wir haben jede Entscheidung kollektiv getroffen | |
und uns an der gesamten Vereinsführung beteiligt.“ So beschrieb | |
Fußballrebell Sócrates das Experiment. Jeder hatte eine Stimme, vom | |
einfachsten Angestellten bis zum Superstar. | |
## Kampf gegen die Diktatur | |
Auch an diesem Sonntag in São Paulo sieht man etliche Banner und T-Shirts | |
mit dem Porträt des linken Kickers. Der Verein wurde zu einem wichtigen | |
Sprachrohr der Opposition. Die Spieler trugen auf ihren Trikots politische | |
Botschaften gegen die Diktatur, die Ultras protestierten in der Kurve gegen | |
das Regimes. „So wie wir damals für die Demokratie gekämpft haben, müssen | |
wir das heute wieder tun“, sagt Malfitani. | |
Die Ultras vom Weltpokalsieger Corinthians aus dem Osten von São Paulo sind | |
tonangebend bei den Protesten gegen Bolsonaro. Allerdings versammeln sich | |
auch Fans der drei anderen großen Vereine – São Paulo, Palmeiras und Santos | |
– sowie Ultras kleinerer Favela-Clubs. „Heute zählt die Vereinsfarbe | |
nicht“, sagt der komplett in Grün gekleidete Palmeiras-Fan Samiquel. „Wir | |
stellen uns gemeinsam den Rechten entgegen.“ | |
Diese haben sich in Sichtweite der Fußballfans, in die Nationalfarben | |
gehüllt, versammelt. Mehrere Rechte präsentieren Fahnen von | |
Neonazi-Gruppen, unter anderem des rechtsextremen ukrainischen Prawyj | |
Sektor. Am Nachmittag eskaliert die Lage. Die antifaschistischen | |
Fußballfans hätten versucht, die Polizeiabsperrung zu durchbrechen und an | |
die Rechten heranzukommen, heißt es. Linke erklärten, die Rechten hätten | |
provoziert. Eine wilde Straßenschlacht entwickelte sich in der Folge: Die | |
Polizei schießt mit Tränengas und Schockgranaten, die Fußballfans | |
erwiderten es mit Steinen, Flaschen und Feuerwerkskörpern. | |
An den Sprechchören der überwiegend jungen, nicht-weißen Ultras wird | |
deutlich, dass es an diesem Tag aber nicht nur um die Verhinderung des | |
rechten Aufmarsches geht. Der Frust über die tägliche Polizeigewalt, | |
Ausgrenzung und hoffnungslose Situation im Land ist groß. Der Beginn einer | |
Bewegung? | |
Der Zusammenschluss der eigentlich verfeindeten Fans ist historisch in | |
Brasilien. In den vergangenen Jahren scherten sich die Fanszenen des | |
größten Landes Lateinamerikas wenig um Politik [2][und sorgten eher durch | |
gewaltsame Ausschreitungen für Aufmerksamkeit.] Seit der Wahl von Bolsonaro | |
haben sich jedoch viele Fans wieder politisiert. Der rechtsradikale | |
Präsident genießt allerdings auch unter Fußballfans Unterstützung. Einige | |
Ultra-Gruppen erklärten, Bolsonaro zwar nicht zu unterstützen, sich aber | |
nicht an Protesten beteiligen zu wollen. | |
Dennoch: Die Fußballfans haben geschafft, was der Linken nicht gelungen ist | |
– eine lautstarke Protestbewegung gegen Bolsonaro aufzubauen. Auch in | |
anderen Städten gingen am Sonntag Fußballfans verschiedener Vereine | |
gemeinsam auf die Straße. „Wenn die Linke nichts macht“, sagt Ultra-Oldie | |
Malfitani, „übernehmen wir Fußballfans das halt.“ Am kommenden Wochenende | |
sollen wieder Proteste von Bewunderern der Diktatur stattfinden. Auch | |
Malfitani und seine Ultras wollen dann wieder auf die Straße gehen – und | |
den Rechten den Tag vermiesen. | |
6 Jun 2020 | |
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## AUTOREN | |
Niklas Franzen | |
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