| # taz.de -- Fußballgewalt in Brasilien: Das Problem liegt in der Gesellschaft | |
| > Bei den Spielen häufen sich die Krawalle. Polizei, Klubs und Fans | |
| > beschuldigen sich gegenseitig. Viele Fans gehen aus Angst nicht mehr ins | |
| > Stadion. | |
| Bild: Polizei und Fans stehen sich gegenüber: hier bei einem Spiel in Rio de J… | |
| RIO DE JANEIRO taz | Hunderte waren an der Massenschlägerei beteiligt – | |
| unter ihnen viele Jugendliche unter 18 Jahren. Und 119 Fußballfans wurde | |
| schließlich aufgrund der wilden Keilerei vergangenen Sonntag in Rio de | |
| Janeiro der Eintritt zum Lokalderby zwischen Vasco und Fluminense verwehrt. | |
| Stattdessen wurden sie kurz vor Beginn des Spiels zur Polizeidienststelle | |
| gefahren. | |
| Die Fans der beiden Spitzenklubs aus Rio sind dafür bekannt, jede kleine | |
| Provokation zu nutzen, um sich zu prügeln – insbesondere bei der | |
| Bundesstaats-Meisterschaft, mit der die Saison im Januar nach der | |
| Weihnachtspause beginnt. Doch sie sind keineswegs eine Ausnahme in | |
| Brasilien. Jedes Wochenende kommt es irgendwo im Land zu | |
| Auseinandersetzungen zwischen verfeindeten Fußballanhängern. | |
| Die meisten Vorfälle ereignen sich in der Metropole São Paulo, zuletzt beim | |
| Derby zwischen Palmeiras und Corinthians. Seit Jahresbeginn kamen zwei | |
| Menschen bei Schlägereien ums Leben. Vergangenes Jahr zählte man 18 | |
| Todesopfer bei Fankrawallen in Brasilien. | |
| ## Klagen über das Angstklima | |
| Alle beklagen die hässlichen Bilder und das Angstklima, das immer mehr | |
| Fußballbegeisterte vom Gang ins Stadion abhält. Bei der Suche nach den | |
| Ursachen wird die Schuld immer den anderen gegeben: Mal sind es die | |
| organisierten Fans, die zur Gewalt neigen, mal die Polizei, die nicht | |
| rechtzeitig eingreift, mal die Staatsanwaltschaft, die zu lasch agiert, | |
| oder doch die Klubs selbst, die sich nicht um ihre Anhänger kümmern. | |
| „99,9 Prozent der Gewalttaten gehen von organisierten Fans aus“, erklärte | |
| Paulo Castilho von der Staatsanwaltschaft in São Paulo in einer | |
| Fernsehdebatte. „Wenn sie zusammen sind, werden diese Jugendlichen zu einer | |
| richtig kriminellen Vereinigung, die Angst und Terror verbreitet.“ Castillo | |
| verteidigte den Versuch, Lokalderbys nur mit Fans eines Teams | |
| durchzuführen, wie kürzlich ein Spiel von Palmeiras. „Unser Ziel ist, die | |
| Fans zu schützen.“ | |
| André Azevedo hält nicht viel von solchen einfachen Erklärungen. Er ist | |
| Präsident der Fanorganisation Anatorg (Associação Nacional de Torcidas | |
| Organizadas), der über 110 Fangruppen aus ganz Brasilien angehören. | |
| „Sprecht mit uns und nicht über uns“, lautet seine Forderung. Er bezieht | |
| sich dabei explizit auf die gleichlautenden Appelle der Ultras in | |
| Deutschland. Azevedo nervt es, dass das Thema Gewalt immer mit | |
| organisierten Fans in Zusammenhang gebracht wird. | |
| „Es gibt keine Gewalt beim Fußball, es gibt nur Gewalt“, sagt er. Die | |
| organisierten Fangruppen dürften nicht für eine weit verbreitete | |
| Gewaltkultur in der Gesellschaft und auch nicht für Mängel in Erziehung | |
| oder der öffentlichen Sicherheit verantwortlich gemacht werden. | |
| ## Die Mütter der Fans | |
| Mitte Februar traf sich Sportminister George Hilton mit Anatorg, um über | |
| Deeskalationsmaßnahmen in und vor Stadien zu diskutieren. Er wandte sich | |
| gegen eine Kriminalisierung der „Organisierten“, sprach aber zugleich von �… | |
| rund 10 Prozent schlechten Elementen“ unter ihnen, die neutralisiert werden | |
| müssten. Zudem kündigte Hilton an, eine Arbeitsgruppe aller Beteiligten zu | |
| gründen, um den Problem zu begegnen. | |
| Azevedo ist zum Dialog bereit, aber zugleich skeptisch, denn solche | |
| Arbeitsgruppen gab es schon öfter. Die vielleicht zwei Millionen | |
| organisierten Fans, von denen Anatorg ausgeht, haben bei solchen | |
| Initiativen meist nur wenig zu sagen. Deswegen setzt der Verband, der erst | |
| im Dezember 2014 gegründet wurde, auf Eigeninitiative: So ist etwa ein | |
| Treffen von zwei Fangruppen geplant, die sich Ende 2013 beim Spiel zwischen | |
| Vasco und Atlético Paraná wüste Prügelszenen auf den Rängen geliefert | |
| haben. An einem neutralen Ort soll im Gespräch miteinander die Rivalität | |
| und die Konfliktaustragung hinterfragt werden, so Azevedo. | |
| Eine originelle Initiative gegen Gewalt gab es zuletzt in Recife, einer | |
| Großstadt im Nordosten Brasiliens. Beim letzten Derby zwischen den Vereinen | |
| Sport und Náutico standen erstmals nicht schwer bewaffnete Polizisten, | |
| sondern die Mütter von Fans zwischen den Blöcken. Die Idee, dass Mamas | |
| ernster Blick die Gewaltneigung dämpfen würde, ging auf. Alle respektierten | |
| die Trennungslinie, die die Frauen in ihren leuchtend orangen Ordnerjacken | |
| zogen. Einige Fans waren gar so gerührt, dass die Tränen flossen. Viele | |
| umarmten die Mütter. Und die Randale blieb diesmal aus. | |
| 27 Feb 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Behn | |
| ## TAGS | |
| Fans | |
| Gewalt | |
| Fußball | |
| Brasilien | |
| Zehn Jahre Arabischer Frühling | |
| Lehrer | |
| Joachim Löw | |
| Schwerpunkt Olympische Spiele 2024 | |
| Brasilien | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Journalist über Ultras im Nahen Osten: „Durch Straßenkämpfe gestählt“ | |
| Fußball ist eine Arena, in der um politische Kontrolle gekämpft wird, sagt | |
| James M. Dorsey. Dort werden gesellschaftliche Tabus zuerst gebrochen. | |
| Lehrerproteste in Brasilien: Hunderte Verletzte | |
| Im Süden Brasiliens protestieren Lehrer gegen Pensionskürzungen. Dabei | |
| kommt es zu schweren Zusammenstößen mit der Polizei. | |
| Weltfußballer des Jahres: Und wieder Ronaldo | |
| Manuel Neuer wird nicht zum besten Kicker gekürt. Dafür dürfen sich andere | |
| Deutsche freuen: Joachim Löw ist Welttrainer und Nadine Keßler die beste | |
| Fußballerin. | |
| Olympia 2016 in Brasilien: Investitionen in die Politik | |
| Auch die kommenden Spiele werden die Staatskassen Brasiliens stark | |
| belasten. Profitieren werden dagegen Bauunternehmer – dank ihrer | |
| Parteispenden. | |
| Essay Polizeigewalt in Brasilien: Das Erbe der Diktatur | |
| Exzessive Polizeigewalt prägt Brasiliens Alltag. Als Feind wird betrachtet, | |
| wer aus Sicht der Elite der Gesellschaft schadet. Noch stören sich zu | |
| wenige daran. |