| # taz.de -- Fußball und Utopie: Spanien sehen und sterben | |
| > Fast alle Kommentatoren der Welt können plötzlich behaupten, der Fußball | |
| > der Spanier sei langweilig – er ist nichts weniger als gelebte Utopie. | |
| > Eine Liebeserklärung. | |
| Bild: Fabregas! Amor! | |
| Die Ungarn der fünfziger Jahre um Ferenc Puskás kenne ich nur aus | |
| schwarz-weißen Filmsequenzen, in denen plötzlich einer aus dem Hintergrund | |
| schießt. Und ich kenne sie aus Geschichtsbüchern, die berichten, dass | |
| danach irgendwer wieder irgendwas war. Auch die [1][Holländer der siebziger | |
| Jahre mit Johan Cruyff] habe ich nicht spielen sehen; ihr Totaalvoetbal ist | |
| mir ein abstrakter Begriff, keine konkrete Erinnerung. | |
| Eine immerhin vage Erinnerung habe ich an den futebol arte, den Brasilien | |
| mit Zico und Sócrates in den achtziger Jahren spielte. Ich meine mich an | |
| die Fassungslosigkeit zu erinnern, mit der ich die größte Tragödie dieser | |
| Mannschaft verfolgte: Es war die Zwischenrunde der WM 1982, im letzten | |
| Gruppenspiel ging es gegen eine [2][ultradefensive italienische | |
| Mannschaft]. Den Brasilianern hätte ein Remis genügt, und doch konnten und | |
| wollten sie nicht anders als munter drauflos zu stürmen und wurden mit 2:3 | |
| ausgekontert. | |
| Meine Vorstellung vom guten und schönen Fußball – nicht dem eines Einzelnen | |
| wie [3][Diego Maradona] oder [4][Zinédine Zidane,] sondern dem eines Teams | |
| – blieb also ein Phantasma. Oder freundlicher formuliert: eine Utopie ohne | |
| empirische Grundlage. | |
| Dann aber kam Spanien. | |
| Spanien! | |
| Und ich hatte das Glück, sie zu sehen (und natürlich den FC Barcelona, was | |
| weitgehend dasselbe und der hier mitgemeint ist.) Sollte mich nie wieder | |
| eine Mannschaft derart verzücken, [5][ich würde mich nicht grämen.] Denn | |
| ich habe Spanien erlebt. Für ein Menschenleben ist das nicht schlecht. | |
| ## Spanien hat alles verändert | |
| Diese Mannschaft mit Casillas und Arbeloa und Piqué und Ramos und Alba und | |
| Busquets und Xavi und Xabi Alonso und Silva und Iniesta und Fàbregas (und | |
| eigentlich auch mit Puyol und Villa), diese Mannschaft also hat, wie Peter | |
| Unfried vor zwei Jahren in der taz [6][schrieb], „unser Denken und unser | |
| Sprechen über Fußball verändert“. Und zweifelsohne steht sie in einer Reihe | |
| mit Zicos Brasilianern, Cruyffs Holländern und Puskás’ Ungarn. | |
| Im Gegensatz zu diesen aber haben die Spanier große Titel gewonnen. Für | |
| romantische Heldengeschichten eignen sie sich also nicht. Sie sind | |
| Odysseus, nicht Achill; Castro, nicht Che; Harry und Sally, nicht Romeo und | |
| Julia. Wir erinnern uns: Wahre Helden sind nicht jene, die den Tyrannen | |
| besiegen und die Prinzessin heiraten, um hernach alt, glücklich und | |
| zuckerkrank werden. Wahre Helden scheitern; sie bleiben unglücklich und | |
| unvollendet. | |
| Aber wer braucht schon Helden? | |
| Die Spanier sind etwas Besseres. Sie verkörpern eine postheroische, eine | |
| zivilisierte Gesellschaft. Und zwar nicht nur, weil sie zwei Titel | |
| hintereinander gewonnen haben und nun, wenn sie [7][abermals auf Italien | |
| treffen], die Chance haben, als erste Mannschaft der Welt drei bedeutende | |
| Turniere hintereinander zu gewinnen. | |
| ## Kollektiv und Genie | |
| Sie verkörpern auch deshalb das Postheroische, weil ihre Stärke auf einer | |
| kollektiven Ästhetik des Zusammenspielens beruht. Sie haben ihre | |
| offensichtlichen Nachteile – die fehlende Athletik, die chronische | |
| Abschlussschwäche, die sie auch schon mit Villa im Sturm hatten – | |
| kompensiert oder gar zu Stärken umgewandelt. Ihr Spiel ist nicht deshalb | |
| überlegen, weil sie ein Tor nach dem anderen schießen würden; ihre Stärke | |
| kommt aus ihrem Passspiel, eine kollektive Kraft, die sich erst im Laufe | |
| des Spiels entfaltet, selbst wenn dies, wie im [8][Halbfinale gegen | |
| Portugal] geschehen, bis zur Verlängerung dauert. | |
| Und noch etwas macht aus den Spaniern eine gelebte kommunistische Utopie im | |
| edelsten Sinne des Wortes: Ihr Kollektivismus ist keine gleichmacherische | |
| Diktatur des Mittelmaßes, die jede Individualität wegbeißen würde. Bei | |
| ihnen ist das Kollektiv die Voraussetzung, dass sich das Genie entfalten | |
| kann – und umgekehrt. Wie könnte die Genialität eines Xavi zur Geltung | |
| kommen, wenn es keine Abnehmer für die [9][unglaublichen 136 Pässe] gäbe, | |
| die er [10][gegen Irland] gespielt hat? | |
| ## Den Ball laufen und den Gegner schwitzen lassen | |
| Eine solche Mannschaft kann gar nicht vom Können eines Einzelnen abhängig | |
| sein und sie ist es auch nicht (Puyol und Villa fehlen, und [11][gegen | |
| Portugal] fehlte Xavi faktisch leider auch). Deswegen sind die Mitglieder | |
| dieser Mannschaft Künstler, keine Stars. „Jeder nach seinen Fähigkeiten, | |
| jedem nach seinen Bedürfnissen“, hätte Marx gesagt. | |
| Die im modernen Fußball gültige Norm, wonach die Verteidigung in der | |
| Offensive beginnt und der Angriff in der Defensive, beherrschen die Spanier | |
| ohnehin besser als jedes andere Team der Welt – die Aufhebung der | |
| klassischen Arbeitsteilung. Ihre historische Tat besteht darin, dass sie, | |
| Sergio Ramos vielleicht einmal ausgenommen, den Fußball von dessen | |
| hässlichen, brutalen und gewöhnlichen Ursprüngen befreit und zu einer | |
| kollektiven Kunstform verwandelt haben. | |
| Sie lassen den Ball laufen und den Gegner schwitzen. Und, ja, sie neigen | |
| dazu, den Ball in endlosen [12][Stafetten ins Tor zu tragen]. Aber was | |
| bedeutet das? Sie setzen Geduld gegen Willen, Spielfreude gegen Kraft, | |
| Schönheit gegen den Fetisch der Effektivität. Manchmal, in extremen | |
| Momenten, bekommt man den Eindruck, sie schießen deshalb nicht, weil sie | |
| dem Ball nicht wehtun wollen. Wann hat man je so viel Sanftheit bei einem | |
| Fußballspiel gesehen? Kein Wunder, dass sich die [13][beste Frauenmanschaft | |
| der Welt,] die japanische, am spanischen Spiel orienrtiert. | |
| Und dahinter gibt es kein Zurück. Oder besser: Jeder Rückfall ist nichts | |
| geringeres als eine Konterrevolution. | |
| ## Plötzlich gilt es als langweilig | |
| Doch was noch bei der WM 2010 gefeiert wurde, [14][gilt plötzlich als | |
| langweilig]. Und weil einige zehntausend Kommentatoren in aller Welt das | |
| nun langweilig finden – weil sie, ihr Beruf verlangt es, etwas Neues | |
| erzählen müssen, was die Spanier aber nicht hergeben, eben weil diese nicht | |
| nach Drama, sondern nach Harmonie streben –, [15][findet das Publikum die | |
| Spanier nun ebenfalls langweilig.] | |
| Und vermutlich gibt es einen weiteren Grund für die plötzlichen | |
| Antipathien: Die anderen Mannschaften hatten genug Zeit, die Spanier zu | |
| studieren und sich auf sie einzustellen. Spanien dominiert nicht mehr in | |
| derselben Weise wie noch vor zwei oder vier Jahren. Man kann sie zwar immer | |
| noch ihrer Schönheit willen verehren, aber nicht wegen ihres ungefährdeten | |
| Erfolges. Wenn das aber nicht geht, dann will das Publikum den Sieger | |
| fallen sehen. Die Spanier trifft der Missgunst der Mittelmäßigen. | |
| Dabei liegt in dem Urteil, die Spanier hätten in der Vorrunde gegen | |
| [16][Italien] und [17][Kroatien] oder gar im Halbfinale gegen Portugal eine | |
| schlechte Leistung geboten, eine dreiste Verachtung für die [18][Leistung | |
| der Portugiesen]. Denn kein Team hat in den vergangenen sechs Jahren in | |
| einem wichtigen Spiel so gut gegen Spanien gespielt wie sie. | |
| Und das nicht mit einer groben Verhinderungstaktik [19][im Stile des FC | |
| Chelsea,] sondern mit fußballerischen Mitteln – mit Mitteln freilich, die | |
| zurückbrachten, was die Spanier überwunden hatten: Mit Zweikämpfen. Mit | |
| hohen Bällen. Mit langen Bällen. Mit Eckstößen. Mit Freistößen. Mit | |
| Heldenfußball. Mit Gerangel und Gerempel. Mit Fleiß und Schweiß. | |
| Niemand wird das besser wissen als die Spanier, die [20][im Halbfinale in | |
| Donezk] auf dem Platz standen. Der Schrecken, der nach dem Elfmeterschießen | |
| im Gesicht von Iker Casillas aufblitzte, oder die Erleichterung, die Sergio | |
| Busquets dann offenbarte, zeigen, dass diese Mannschaft nicht saturiert | |
| ist. Sie sind – möglicherweise muss man sagen: noch – nicht Odysseus und | |
| Castro und Harry und Sally und zuckerkrank. Sie wollen immer noch spielen. | |
| Und gewinnen, natürlich. | |
| Auch das macht sie anbetungswürdig. Unfehlbar waren sie zum Glück ohnehin | |
| nie. | |
| 1 Jul 2012 | |
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