# taz.de -- Arno Schmidts 100. Geburtstag: Mein Elvis hieß Arno | |
> Arno Schmidt ist ein Autor des Asozialen und für Asoziale: Geständnisse | |
> eines erst fanatischen und dann eher abgeklärten Jüngers. | |
Bild: Arno Schmidt war also nicht nur ein Schriftsteller – er war ein Guru, e… | |
Zuerst war ihre Stimme unüberhörbar kühl, bis ich ihr erzählte, dass ich | |
aus Japan anriefe („Das klingt so nah wie ein Ortsgespräch!“), und als | |
Germanistiklektor an der Universität Hiroshima trüge ich nun den Ruhm ihres | |
Mannes in alle Welt hinaus – ob ich ihm vielleicht persönlich zum | |
Fünfundsechzigsten gratulieren dürfte? Das wurde freundlich abgelehnt, aber | |
sie würde ihm von meinem Anruf erzählen; 18. Januar 1979. | |
Angefangen hat meine Leidenschaft für Arno Schmidt Mitte der sechziger | |
Jahre mit „Die Gelehrtenrepublik“, und diesen Kurzroman hatte mir ein | |
Klassenkamerad in die Hand gedrückt, das sei interessant und, kicherte er, | |
rattenscharf – Letzteres, man glaubt es kaum, war uns Sechzehnjährigen ein | |
wichtiges Kriterium bei unseren wechselseitigen Lektüreempfehlungen. | |
Wir waren echte Leser, „Leseratten“ sagte man damals. Und das war eindeutig | |
kein Schund, sondern Hochliteratur, schon vom Schriftbild her, Avantgarde, | |
fortschrittlich, ein Schlag in die Fresse der bundesrepublikanischen | |
Restaurationsgesellschaft (1963 war Adenauer noch Kanzler gewesen!). Und es | |
war gleichwohl saftig und komisch und wütend, von einem plebejischen | |
Bildungsdünkel, der uns subversiven Gymnasiasten gefiel. | |
## Und dann Weltherrschaft | |
Ich las jetzt vorsichtshalber erst einmal alles von Arno Schmidt; das | |
griechisch-antikische Zeug („Leviathan“, „Alexander“, „Enthymesis“) | |
imponierte mir, aber die Erzählungen verzauberten mich: „Brand’s Haide“, | |
„Schwarze Spiegel“, „Aus dem Leben eines Fauns“ und, bis heute mein | |
Liebstes, „Seelandschaft mit Pocahontas“. Mir war sofort mit Schrecken | |
klar: Ich hatte meine Heilige Schrift gefunden, Arno Schmidt war mein | |
Meister und ich sein getreuer Jünger. | |
Aber wie der Herr Zebaoth war auch er ein zorniger Gott, der seine | |
Bannflüche gegen alles und jedes schleuderte und andererseits Autoren, von | |
denen man (zu Recht, ist mir später klargeworden) nie etwas gehört hatte, | |
über den grünen Klee lobte; solche Bizarrerien störten uns | |
Arno-Schmidt-Leser aber nicht, im Gegenteil: Wie jede Sekte zogen wir Kraft | |
aus unserem Außenseitertum, und dass die Offizialkritik Arno Schmidt nicht | |
angemessen feierte, war uns Ärgernis und gleichzeitig Beleg dafür, dass | |
unsere Zeit kommen würde, und dann Weltherrschaft bzw. wahre | |
Gelehrtenrepublik: „in hoc signo vinces!“ | |
Arno Schmidt war uns also nicht nur ein Schriftsteller, dessen Werke man | |
las und liebte und bewunderte – er war ein Guru, ein Role-Model, er war der | |
King: der Elvis für die gebildeten Kreise. Damals war uns das natürlich | |
nicht klar; wir dachten, es sei allein Schmidts Literatur, die uns so | |
närrisch machte. Aber wir klugen, etwas lebensängstlichen jungen Nerds | |
(denn das waren wir, wenn es das Wort auch noch nicht gab) hatten in den | |
schroffen, solipsistischen, bildungsstolzen Helden Schmidts, die wir nicht | |
ohne Grund auf den Autor zurückbezogen, ein Vorbild gefunden. Und wie es | |
den beknackten Elvis-Fan nach Memphis oder Las Vegas zieht, so begab ich | |
mich nach München, wo die Koryphäe der Arno-Schmidterei lebte und webte: | |
Jörg Drews. | |
Wir lernten uns kennen, freundeten uns gar an, und so wurde ich denn, | |
Höhepunkt in meiner Karriere als anerkannter, als sozusagen zertifizierter | |
Schmidt-Leser, im Oktober 1971 nach Bargfeld in der Lüneburger Heide | |
eingeladen, zur Tagung des „Arno-Schmidt-Dechiffrier-Syndikats“. Sie | |
glauben mir nicht? Der Spiegel hat darüber einen langen Artikel | |
veröffentlicht, mit einem riesigen Foto der Schmidt-Jünger: Ich bin der | |
zweite von rechts, dieser schlanke Jüngling im weißen Anorak. | |
Von dem Arno-Schmidt-Kram abgesehen, bin ich später dann immer wieder nach | |
Bargfeld gefahren, einfach so. Wenn ich’s recht bedenke, habe ich allen | |
meinen Liebsten, so viele waren es letztlich gar nicht, diese Landschaft | |
präsentiert; auch wenn sie mit Schmidt nicht so viel anfangen konnten (er | |
ist in fast schon erschreckender Weise ein Autor für Männer), mit | |
selbstgefangenen Pilzen und warmen Räucherforellen konnte man sie gut bei | |
Laune halten. | |
## Sauft nicht so viel | |
1970 war „Zettel’s Traum“ erschienen, damit wurde der Geheimtipp A. S. | |
endgültig ein Medienereignis, jeder Doofkopp glaubte nun über „Snapshots“ | |
und „Längere Gedankenspiele“ und „Etym-Theorie“ mitreden zu können, w… | |
Heilige der ersten Stunde naturgemäß nicht nur gefiel. Aber bei dieser | |
Bargfeld-Tagung (Schmidt ließ sich natürlich nicht blicken) war alles noch | |
sehr schön exklusiv und elitär und verrückt, wir sind tatsächlich mit | |
„Zettel’s Traum“ in der Hand (auch der Raubdruck wog so seine fünf Pfund) | |
durch die Gegend stolziert, und in Bangemanns Gasthof wurden dann, neben | |
den philologischen Klügeleien, ungeheure Mengen Bier vernichtet, was der | |
alte Bangemann trefflich kommentierte: „Sauft nicht so viel Bier, davon | |
werdet ihr nur – besoffen.“ | |
1972 gründete Jörg Drews den Bargfelder Boten, eine seriöse | |
literaturwissenschaftliche Zeitschrift, aber auch das Fanzine des harten | |
Leserkerns. Dazu zählte ich mich immer noch, wenngleich: Der Fanatismus | |
ließ etwas nach, ich war jetzt Mitte zwanzig, und außerdem musste ich mir | |
eingestehen, dass ich von Herzen eigentlich nur die Bücher bis „KAFF“ | |
liebte, treulich auch immer wieder las, mit Freude, Wehmut und | |
Verwunderung: Was für schräge, durchweg querulatorische Ansichten die | |
Protagonisten dort vertraten, die Mentalität des schlechthinnigen | |
Leserbriefschreibers. | |
Und obwohl ich als Literaturwissenschaftler selbstverständlich | |
Avantgardebefürworter war und Literarizität, Poetizität und textuelle | |
Mikrostruktur des Schmidt’schen Werks bewunderte (ich habe einmal eine | |
bedeutende Arbeit über Mondmetaphern in der „Seelandschaft“ | |
veröffentlicht!), gingen mir mittlerweile seine Romanhelden, diese kaum | |
kaschierten Arno-Schmidt-Ebenbilder, auf die Nerven mit ihrer Angst vor dem | |
Leben, ihrer Rechthaberei. Und wie sie ihr Heil in der Bildung und in | |
merkwürdigem Wissen (hannoversche Staatshandbücher!) suchten – derlei | |
kindlicher Unfug war mir vor einigen Jahren als geradezu vorbildhaft | |
erschienen?! | |
Und war Schmidt, wo wir schon einmal dabei sind, nicht überhaupt ein | |
missgelaunter Misanthrop, ein Angstbeißer mit leichtem Asperger-Syndrom? | |
Ein Beatles-Hasser? Seine literarischen Figuren waren es unübersehbar! Und | |
so lese ich in den vergangenen dreißig Jahren immer noch und immer wieder | |
Schmidts Frühwerk, lachend über die Komik, die großspurige Pfiffigkeit der | |
Protagonisten, oft aber kopfschüttelnd über die Enge des dort herrschenden | |
Denkens und die Aggressivität des soziophoben Intellektuellen – und | |
unendlich gerührt von der Liebe und der Sorgfalt und der Kunstfertigkeit, | |
mit der eine Liebesanbahnung und ein deftiges Abendbrot und eine Tour mit | |
dem Paddelboot geschildert wird. | |
Arno Schmidt ist ein Autor des Asozialen und für Asoziale, und wer sich als | |
Jüngling nicht eine menschenleere Welt wünscht (mit allenfalls einer | |
Handvoll schöner Frauen), der hat keine Phantasie; aber ab dreißig, wenn | |
man dabei ist, selber die Welt zu erobern, ist das kein passendes | |
Rollenmodell mehr. | |
Auch als abgeklärter Ex-Fan, der nun lächelnd auf die Torheiten der Jugend | |
zurückblickt, will ich aber gestehen, dass ich mich niemals von der aus | |
einer Bargfelder Telefonzelle stibitzten Telefonbuchseite trennen werde, | |
trotz schlechten Gewissens („Schützt die Münzfernsprecher – sie können | |
Leben retten!“); denn darauf steht der Eintrag: „Schmidt A. Schriftsteller | |
(Edg) Bargfeld“. Das ist fast so gut wie eine echte Elvis-Locke. | |
18 Jan 2014 | |
## AUTOREN | |
Kurt Scheel | |
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Alexander Kluge | |
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fest. |