| # taz.de -- Anpassung der Hartz-IV-Regelsätze: Wie viel ist genug zum Leben? | |
| > Die Grundsicherung soll auch kulturelle Teilhabe ermöglichen, nun wird | |
| > sie neu berechnet. Die bisherigen Sätze seien zu niedrig, sagen Experten. | |
| Bild: Eine Frau schaut auf das Angebot am „Gabenzaun“ in Rostock | |
| Frankfurt/Main taz | Wie viel Geld [1][Hartz-IV-Empfänger*innen] bekommen, | |
| hängt von den Regelsätzen ab. Die muss die Bundesregierung dieses Jahr neu | |
| festlegen, Grundlage ist die aktuellste Einkommens- und | |
| Verbraucherstichprobe. | |
| Nun hat die Sozialwissenschaftlerin Irene Becker ein neues Gutachten im | |
| Auftrag der Grünen-Bundestagsfraktion erstellt, das nach Ansicht der | |
| Kritiker*innen einen weiteren Beleg dafür liefert, dass die Regelsätze | |
| generell deutlich zu niedrig sind. Die Art und Weise, wie die Regelsätze | |
| berechnet werden, sollte demnach geändert werden. | |
| Nach Beckers Berechnung haben Grundsicherungsbeziehende im Moment rund 80 | |
| Prozent weniger Geld für soziokulturelle Teilhabe im Vergleich zur Mitte | |
| der Gesellschaft. Beckers Fazit dazu ist eindeutig: Es sei „kaum | |
| vorstellbar, dass damit Ausgrenzungsprozesse verhindert werden könnten“. | |
| Das Bundesverfassungsgericht hat bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass | |
| auch soziokulturelle Teilhabe zum Existenzminimum gehört und nicht nur das, | |
| was zum rein [2][physischen Überleben] nötig ist. | |
| ## Bezug zur Realität verloren? | |
| Ein weiterer Kritikpunkt von Forscherin Becker: Es gebe keine Gruppe in der | |
| Gesellschaft, die im Moment von derart wenig leben müsse wie die Hartz IV | |
| Beziehenden und Grundsicherung Beziehende im Alter. Denn von den Ausgaben | |
| der ärmsten 15 bis 20 Prozent der Gesellschaft, die als Referenzpunkt | |
| herangezogen werden, werden für die Berechnung der Regelsätze noch weitere | |
| Posten abgezogen, beispielsweise Handykosten, Pflanzen für die Fensterbank, | |
| Malstifte für Kinder oder alkoholische Getränke. Auf rund ein Viertel der | |
| Ausgaben summiert sich dieser Betrag, der gestrichen wird. Am Ende bleibt | |
| dann ein Regelsatz von derzeit 424 Euro, Mietkosten werden zusätzlich bis | |
| zu einem gewissen Betrag übernommen. | |
| Damit fehle bei der Rechnung der Regelsätze der Bezug zu realen | |
| Lebensverhältnissen, erklärt Becker in ihrem Gutachten. Das Ergebnis des | |
| Regelbedarfsermittlungsgesetzes könnte nur als „nicht verfassungsgerecht | |
| eingestuft werden“. | |
| Als realistischere Alternative wollen die Grünen die Regelsätze ausgehend | |
| von Ausgaben der mittleren Haushalte berechnen. Es müsse politisch | |
| festgelegt werden, wie hoch „der maximale, gerade noch akzeptable Abstand | |
| der Regelbedarfskategorien für Erwachsene und Kinder zu den entsprechenden | |
| Ausgaben der gesellschaftlichen Mitte sein“ darf, heißt es in einem neuen | |
| Beschluss, der am Dienstag veröffentlichen wurde. | |
| In einem Rechenbeispiel wählen die Grünen einen Abstand von 33 Prozent zu | |
| den mittleren Haushaltsausgaben für die physische Existenzsicherung. | |
| Hartz-IV-Bezieher*innen sollen also zwei Drittel des Geldes für | |
| Lebensmittel, Kleidung, oder Wohnkosten bekommen, das deutsche Haushalte im | |
| Mittel dafür ausgeben. Für soziale Teilhabe und andere Grundbedarfe des | |
| alltäglichen Lebens solle der Abschlag bei maximal 60 Prozent liegen. Nur | |
| mit dieser Berechnungsweise könne gewährleistet werden, dass der Auftrag | |
| des Bundesverfassungsgerichts eingelöst werde. | |
| ## Die Chancen für eine Änderung stehen schlecht | |
| Das Bundesverfassungsgericht hatte 2010 geurteilt, dass der Gesetzgeber die | |
| zu erbringenden Leistungen „an dem jeweiligen Entwicklungsstand des | |
| Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten“ habe. | |
| Mit der neuen Berechnung kämen die Grünen auf 557 Euro pro Monat für den | |
| Regelsatz exklusive Strom und weißer Ware, also ohne seltene Anschaffungen | |
| wie eine neue Waschmaschine. Mit Strom und jener weißen Ware würde der | |
| errechnete Satz bei 603 Euro liegen. Deutlich mehr, als die Bezieher*innen | |
| gerade bekommen. | |
| Doch die Chancen stehen schlecht, dass bei der aktuellen | |
| Neuberechnungsrunde nach dem Vorschlag der Grünen gerechnet wird. Das zeigt | |
| die Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Linksfraktion | |
| im Bundestag. Sie hatte einige Probleme mit der Regelsatzermittlung darin | |
| thematisiert. Eine alternative Berechnung, abgeleitet von den Ausgaben der | |
| Mitte der Gesellschaft, lehnt das BMAS darin ab. | |
| Die Bundesregierung schreibt: „Würde eine Regelbedarfsermittlung hingegen | |
| auf der Grundlage von Sonderauswertungen mit Haushalten aus der | |
| ‚Einkommensmitte‘ erfolgen, dann hätte dies zwangsläufig eine Anhebung des | |
| soziokulturellen Existenzminimums bis in den Bereich des | |
| Durchschnittseinkommens zur Folge.“ Auf das Argument, dass die | |
| „Einkommensmitte“ nur die Ausgangsbasis der Berechnung sein soll, geht die | |
| Bundesregierung nicht ein. | |
| ## Heil in “unheilvoller Tradition“? | |
| Allgemein sieht sich das Arbeitsministerium bei dem Berechnungsweg im Recht | |
| und verweist darauf, dass 2014 das Bundesverfassungsgericht die Berechnung | |
| als noch zulässig erklärt hatte. Damals hatte das Gericht die Regelsätze | |
| als verfassungsgemäß bezeichnet, das Ganze aber mit dem eindeutigen Zusatz | |
| „noch“ versehen – und auf eine Reihe von Mängeln hingewiesen. | |
| „Heil folgt der unheilvollen Tradition seiner Vorgängerinnen und will | |
| weiter die Hartz-IV-Regelsätze kleinrechnen“, kritisierte die | |
| Parteivorsitzende Katja Kipping gegenüber der taz. Auch Sven Lehmann, | |
| sozialpolitischer Sprecher der Grünen, schätzt den Reformwillen der | |
| Bundesregierung derzeit als eher gering ein. „Wir werden bei dem Thema | |
| Druck machen“, kündigten beide daher unabhängig voneinander an. | |
| 24 Jun 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Alina Leimbach | |
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