| # taz.de -- Anis Amri und die Rigaer Straße: Eine Frage der politischen Priori… | |
| > Hat die Polizei die Observierung des Breitscheidplatz-Attentäters | |
| > eingestellt, um sich auf die Räumung der Rigaer Straße zu konzentrieren? | |
| Bild: Fahndungsfotos des Attentäters Amri im Dezember 2016 auf einer Polizeiwa… | |
| Berlin taz | Die Eckdaten sind lange bekannt: Am 15. Juni 2016 wurde die | |
| Observierung des späteren Breitscheidplatz-Attentäters Anis Amri durch die | |
| Berliner Polizei beendet, obwohl die Beobachtung des islamistischen | |
| Gefährders noch bis Mitte Oktober des Jahres angeordnet war. Eine Woche | |
| später, am 22. Juni, rückte ein Großaufgebot der Polizei aus, um die | |
| Autonomenkneipe Kadterschmiede in der Rigaer Straße 94 in Friedrichshain zu | |
| räumen, rechtswidrig, wie ein Gericht später urteilte. | |
| Nun mehren sich Hinweise darauf, dass beide Einsätze miteinander in | |
| Verbindung stehen. Darauf deutet etwa eine Zeugenaussage im | |
| Untersuchungsausschuss „Terroranschlag Breitscheidplatz“ des | |
| Abgeordnetenhauses hin. In der öffentlichen Sitzung am vergangenen Freitag | |
| war der damalige stellvertretende Leiter der Mobilen Einsatzkommandos (MEK) | |
| geladen. Die Polizeieinheit der für „operative Dienste“ zuständigen | |
| Abteilung sechs des Landeskriminalamts (LKA) ist vor allem für | |
| Observationen zuständig, in Fällen von organisierter Kriminalität, | |
| Terrorismus oder Linksextremismus. | |
| Von Benedikt Lux, dem Sprecher für Innen- und Rechtspolitik der | |
| Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus, wurde der Zeuge gefragt, ob zum | |
| Zeitpunkt der Beendigung der Überwachung Amris noch andere Themen auf der | |
| Tagesordnung gestanden hätten – etwa Linksextremismus. Die Antwort des | |
| Staatsschützers lautete, so Lux, sinngemäß: „Ich weiß schon, worauf Sie | |
| hinaus wollen. Ja, das war so.“ Auf Nachfrage fiel dann auch die konkrete | |
| Antwort: „Rigaer Straße.“ | |
| Ein Protokoll der Sitzung gibt es noch nicht und es wird auch nicht | |
| öffentlich einsehbar werden. Den Dialog bestätigen aber auch der | |
| innenpolitische Sprecher der Linksfraktion Hakan Taş und sein Kollege | |
| Niklas Schrader. Es sei das erste Mal, dass ein Polizei-Zeuge die beiden | |
| Ereignisse zusammenbringe, so Lux zur taz. Spekulationen über einen | |
| Zusammenhang gab es schon früher. | |
| ## „Bis heute nicht klar“ | |
| Lux twitterte noch am Freitagabend: „Ein Zeuge bestätigt, der Attentäter | |
| vom Breitscheidplatz wurde ab dem 15. 6. 16 nicht mehr beobachtet. | |
| Priorität Nr. 1 des Staatsschutzes war die Rigaer94.“ Womöglich ist das | |
| eine Antwort auf die bis heute offene Frage, die auch Sonderermittler Bruno | |
| Jost nicht losließ, der im Oktober vergangenen Jahres seinen | |
| Abschlussbericht zu dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt mit zwölf Toten | |
| und mehr als 70 Verletzten vorgelegt hatte: Dazu, was zur Einstellung von | |
| Amris Observation führte, sagte Jost im November 2017 vor dem | |
| Untersuchungsausschuss: „Das ist mir bis heute nicht klar.“ | |
| Spätere Erklärungen, etwa von LKA-Chef Christian Steiof im Innenausschuss, | |
| Amris unislamische Verhaltensweisen wie etwa sein Drogenkonsum hätten zu | |
| einer Abwertung seiner Gefährlichkeitsprognose geführt, wies Jost bereits | |
| in seinem Bericht zurück: „Dafür ergeben sich indes aus den Akten keine | |
| Anhaltspunkte. Im Gegenteil.“ So sei noch am 30. Juni nach dem faktischen | |
| Ende der Observation in einem LKA-Vermerk notiert, dass zwei neue Kontakte | |
| Amris in die Salafistenszene „möglicherweise das ‚Gefahrenpotential des | |
| Beschuldigten Amri fördern‘ könnten“. | |
| Ein plausiblerer Grund für die Einstellung der Observation sind dagegen | |
| Kapazitätsengpässe beim MEK. Steiof selbst sagte: „Amri war nicht der | |
| einzige Gefährder, den wir im Fokus hatten.“ Daher erfolge „eine | |
| Priorisierung“. | |
| Womöglich gab es diese aber vor allem beim Einsatz Rigaer Straße. Klar ist: | |
| Dort war das MEK beteiligt. Wie viele Beamte der Mobilen Einsatzkommandos | |
| dabei waren, konnte die Polizei bis Redaktionsschluss nicht beantworten. | |
| Aus einer Kleinen Anfrage von Hakan Taş vom Juni 2016 geht hervor, dass am | |
| Tag der Räumung insgesamt 300 Beamte im Einsatz waren, „aus der örtlich | |
| zuständigen Direktion, von der Bereitschaftspolizei, den Abschnitten und | |
| dem LKA“. | |
| Ein aktiver Polizeibeamter, dessen Name und Funktion der taz bekannt sind, | |
| sagt: „Ohne Voraufklärung der Observationsteams vom MEK könnte ein Einsatz | |
| wie in der Rigaer Sraße nicht stattfinden.“ Sie sei nötig, um das | |
| „Einsatzrisiko für die eingesetzten Beamten zu minimieren“. In der Rigaer | |
| Straße war es wiederholt zu Angriffen auf Beamte gekommen. Bei einer | |
| Räumung des linken Symbolprojektes musste mit militanter Gegenwehr | |
| gerechnet werden. | |
| Der Einsatz gilt bis heute als Fehlschlag für die Polizei. Wie Gerichte | |
| später urteilten, erfolgte die Räumung der Kneipe ohne Rechtsgrundlage – | |
| ein Räumungstitel lag nicht vor. „Die Einsätze in der Rigaer waren nicht | |
| richtig, nicht notwendig und nicht legal“, sagt Taş. | |
| ## Wahlkampftaktisches Manöver | |
| Aus Polizeikreisen hat die taz nun erfahren: Mitte Juni 2016 waren mehrere | |
| Observationsteams vom MEK auf Islamisten angesetzt. Von einem auf den | |
| anderen Tag seien sie dann abgezogen worden – auch von der Beobachtung | |
| Amris. Von nun an hätte die Rigaer Straße Priorität, sei den MEK-Beamten | |
| über die Stabsstellen von der Innenbehörde vermittelt worden. „Wir müssen | |
| in der Rigaer Straße aufräumen, es geht auf die Wahlen zu“, lautet ein | |
| übermitteltes Zitat. Sollten sich diese Aussagen bestätigen, hätte die | |
| damals CDU-geführte Innenverwaltung die Observation islamistischer | |
| Gefährder einer illegalen Räumungsaktion geopfert. Innensenator Frank | |
| Henkel war CDU-Spitzenkandidat für die Abgeordnetenhauswahl im September | |
| 2016. | |
| „Wenn sich das Umsteuern der Einsatzkräfte in dieser Dimension so erhärtet, | |
| ist das ein Skandal“, so Benedikt Lux. „Es zeigt, welche verheerenden | |
| Folgen es haben kann, wenn man ideologisch so verbohrt wie die Innenpolitik | |
| der CDU ist.“ Überrascht ist Lux dennoch nicht. Er sagt: „Henkel war an der | |
| linken Szene stark interessiert, an den Islamisten eher weniger. Das hat | |
| man schon am liegen gelassenen Verbot des Fussilet-Moscheevereins gesehen.“ | |
| Anis Amri gehörte zu den regelmäßigen Besuchern der Moschee in Moabit. Ein | |
| 2015 angestrebtes Verbot scheiterte angeblich an personellen Engpässen. | |
| Verboten wurde der Verein erst im Februar 2017 – nach dem Anschlag. | |
| Henkels früherer Staatssekretär Bernd Krömer (CDU) äußerte sich vor dem | |
| Untersuchungsausschuss im November 2017 zu schon damals im Raum stehenden | |
| Verdächtigungen. Einen Zusammenhang der Einstellung der Observation Amris | |
| mit der Riager Straße habe es nicht gegeben, so Krämer damals: „Ich habe | |
| keinen Einfluss genommen auf die Vorgehensweise der Polizei.“ Auch eine | |
| Überlastung des MEK wegen der Rigaer stritt Krömer ab: „Das glaube ich | |
| nicht.“ Die jetzige Innenverwaltung unter Senator Andreas Geisel (SPD) | |
| wollte auf Anfrage politische Entscheidungen aus der Vergangenheit nicht | |
| kommentieren. | |
| „Es muss überprüft werden, ob eine falsche Entscheidung getroffen wurde“, | |
| sagt Hakan Taş. Möglicherweise müssten der ehemalige Staatssekretär Krömer | |
| und die Staatsschutz-Chefin ein zweites Mal in den Ausschuss geladen | |
| werden. Ex-Innensenator Henkel, Ex-Polizeichef Klaus Kandt und LKA-Chef | |
| Steiof stehen schon jetzt auf der Liste. „Wir werden für Aufklärung | |
| sorgen“, sagte Taş. | |
| 14 Jun 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Erik Peter | |
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