# taz.de -- Altenpflege auf dem Land: Die weißen Blutkörperchen im System | |
> Stefanie Hartmann ist Altenpflegerin. Sie bleibt, wo andere gehen: im | |
> Pflegeberuf. In Würde altern wird aufgrund des Pflegenotstands immer | |
> schwieriger. | |
Bild: In Würde altern – ein sozialpolitisches Versprechen, das Menschen wie … | |
HERZBERG AM HARZ taz | Stefanie Hartmann beobachtet die Tropfen, die aus | |
dem braunen Fläschchen zwischen ihren Fingern in ein Wasserglas fallen. 20, | |
21, 22. Hartmann, 34 Jahre, freundliche Gesichtszüge und dunkle Haare, | |
sitzt auf einem Sofa, umgeben von Dutzenden Puppen und Stofftieren. Sie | |
erwidert die Blicke der Knopfaugenpaare nicht, zu oft war sie schon hier, | |
ein Arbeitsumfeld wie viele andere. Hier, im Wohnzimmer der Frau Jahn, die | |
ihr gegenüber in einem Sessel versinkt und eigentlich anders heißt, wie | |
alle Pflegebedürftigen in diesem Text. 23, 24, 25. Frau Jahn ist depressiv | |
und die 25 Tropfen helfen ihr, das auszuhalten. Hartmann legt noch | |
Tabletten auf den Tisch: einen Entzündungshemmer und etwas gegen | |
Bluthochdruck. „Die üblichen Altersthemen.“ Sie verabschiedet sich und | |
schaut auf die Uhr. 7.32 Uhr, zwei Minuten verbrachte sie bei Frau Jahn – | |
drei weniger, als der Tagesplan kalkuliert. | |
„Manchmal bleibt man ja noch ein bisschen sitzen“, sagt Hartmann auf dem | |
Weg zum Auto. Heute nicht. Denn Frau Jahn ist die erste von sechs | |
Stationen. Hartmann fängt sonst schon um 6 Uhr morgens an, doch für heute | |
hat sie „eine ruhigere Tour“ rausgesucht, wohl auch, um den Reporter nicht | |
zu sehr zu strapazieren. Es folgen: Kompressionsstrümpfe, große Pflege, | |
nochmal Kompressionsstrümpfe, nochmal große Pflege, Wundverband, | |
Feierabend. | |
Stefanie Hartmann ist Altenpflegerin beim Pflegedienst „Villa Juesheide“ in | |
der Kleinstadt Herzberg am Harz, Südniedersachsen. Viele ziehen nach der | |
Schule von hier weg, zurück bleiben die Alten. Zwischen 2012 und 2030 | |
könnte die Bevölkerung der Stadt um knapp 20 Prozent sinken, prognostiziert | |
das Demografieportal Wegweiser Kommune. Über ganz Deutschland verteilen | |
sich Gemeinden mit ähnlichem Schicksal. | |
Stefanie Hartmann blieb. Und sie wurde Altenpflegerin. Ein Job, den viele | |
ihrer Freunde mit einem Satz kommentieren: „Ich könnte das ja nicht.“ | |
[1][Weil viele so denken], kommen in Deutschland auf 100 freie Stellen in | |
der Altenpflege nur 19 qualifizierte Bewerberinnen und Bewerber. Das geht | |
aus einem aktuellen Bericht der Bundesagentur für Arbeit hervor. Ein | |
Arbeitsplatz für eine Altenpflegefachkraft bliebe im Bundesdurchschnitt 183 | |
Tage offen, bis sie besetzt werde – das ist 63 Prozent länger als bei allen | |
anderen Berufen. In ländlichen Regionen sei die Situation noch | |
angespannter, heißt es in Fachstudien. | |
## Ihr Chef nennt es „Familienersatzleistung“ | |
Jeden Morgen brechen Hartmann und ihre Kolleginnen auf und fädeln sich mit | |
ihren Autos wie weiße Blutkörperchen in die Verkehrsadern der Kleinstadt | |
ein, um ein sozialpolitisches Versprechen zu erfüllen: in Würde altern. Ein | |
hoher Anspruch, viele Widrigkeiten. | |
7.34 Uhr, Hartmann parkt vor einem Mehrfamilienblock. Kompressionsstrümpfe | |
bei Herrn Melcher. Ein Mann Mitte 60 in Jogginghose und T-Shirt öffnet die | |
Tür. In der Stube hängt der Zigarettendunst, ein Fernseher plärrt. Melcher | |
lässt sich in einen Sessel fallen und legt ein Bein auf einen Hocker. „Und, | |
alles gut Herzchen?“, fragt er, als Hartmann vor ihm kniet und ihm einen | |
gräulich-beigen Strumpf über das Bein zieht. „Ja, und selbst?“ „Ja, gut… | |
Die beiden kennen sich seit zehn Jahren, seitdem Hartmann angefangen hat in | |
der mobilen Pflege. „So, bitte. Jetzt kannst du frühstücken gehen“, sagt | |
Hartmann und steht auf. Drei Minuten. Heute ist sie schnell, sehr schnell. | |
Hartmann kommt, wenn ihre Kunden anfangen, sich im Bett von einer auf die | |
andere Seite zu wälzen. Wenn sie aufgestanden sind, aber ohne ihre | |
Kompressionsstrümpfe Thrombosen in den Beinen bekommen. Morgens fährt sie | |
die Menschensysteme hoch, abends wieder herunter. Ein paar Minuten Pflege, | |
die einen Tag in Eigenständigkeit ermöglichen. „Familienersatzleistung“, | |
nennt es Hartmanns Chef, Andreas Kern, zwei Tage vor Stefanie Hartmanns | |
Tour in der Leitzentrale des Pflegedienstes. „Man geht Verbindungen ein, | |
schließt sich ins Herz.“ | |
7.39 Uhr, Hartmann kurvt quer durch die Stadt hinaus in die Wohngebiete, | |
hört leise Radio. Ein paar Mal telefoniert sie über die Freisprechanlage, | |
fragt eine Kollegin: „Kann ich dir noch wen abnehmen?“ Es geht zu „den | |
Günthers“, große Pflege. Einiges hat die 85-jährige Frau Günther schon | |
vorbereitet: Gelüftet, das Bettzeug aufgeschüttelt, zwei Graubrote mit | |
Sirup und Marmelade bestrichen und in kleine Vierecke zerteilt, acht | |
Tabletten auf eine Untertasse gelegt. Nun taucht sie ihre Hände in den | |
Abwasch. Ihren Ehemann aus dem Bett im Nebenzimmer in den Rollstuhl hieven, | |
das schafft sie nicht. | |
## Spagat zwischen Wirtschaftlichkeit und Menschlichkeit | |
Herr Günther liegt kerzengerade im Bett, es riecht nach Desinfektionsmittel | |
und Nacht. „Na, wie sieht es aus?“, begrüßt ihn Stefanie Hartmann. Herr | |
Günther nickt stumm. Einen Reporter hat er sonst nicht im Haus. „Na, dann | |
hole ich mal Wasser und alles.“ Hartmann füllt eine blaue Schüssel und | |
stülpt sich Gummihandschuhe über die Hand. „Einmal kitzeln gratis“, sagt | |
sie und beginnt, mit einem Waschlappen über Herrn Günthers helle Haut zu | |
gleiten. Sie folgt den Knochen seiner Oberschenkel, seiner Unterschenkel, | |
dann trocknet sie die Beine mit einem Handtuch ab. Auf drei in den | |
Rollstuhl, T-Shirt aus, vor dem Waschbecken befeuchtet sich Herr Günther | |
die Achseln, rubbelt sich das Gesicht. Seine Handgriffe und die von Frau | |
Hartmann folgen einer eingeübten Choreografie. | |
Herr Günther wurde in Pflegegrad III eingestuft. Dadurch stehen ihm durch | |
die Pflegeversicherung Leistungen im Gegenwert von 1.298 Euro zu. Wünscht | |
sich ein Kunde zusätzliche Leistungen, die über den jeweiligen | |
„Leistungskomplex“ hinausgehen, wird einzeln abgerechnet: Hilfe bei der | |
Nahrungsaufnahme 4,50 Euro, Hauswirtschaftliche Versorgung 3,60 Euro pro | |
zehn Minuten, Kämmen und Rasieren 3,15 Euro. Bei jemandem, dem nur | |
Kompressionsstrümpfe angelegt werden sollen „mal eben noch schnell die | |
Haare kämmen“ sei also eigentlich nicht drin, sagt Pflegedienstchef Andreas | |
Kern beim Gespräch im Büro. „Die Pflegeversicherung ist eine Teilkasko.“ | |
Daran müsse er auch seine Mitarbeiterinnen immer wieder erinnern: „Hier | |
haben alle ein Helfersyndrom.“ Ein Spagat zwischen Wirtschaftlichkeit und | |
Menschlichkeit. | |
Merken wird man diesen Spagat bei Stefanie Hartmann heute nicht. Hartmann | |
und Günther duzen sich, witzeln herum, sie fährt ihm durch die Haare. „Habt | |
ihr die gefärbt? Da ist ein komischer Farbton drin“, sagt sie. „Bin ja auch | |
ein komischer Mensch, weißt du doch“, gibt er mit einem Augenzwinkern | |
zurück. | |
Der Mann, den Stefanie Hartmann nach 20 Minuten an den Frühstückstisch | |
schiebt, hat wenig gemein mit dem Menschen, der gerade noch im Bett lag. | |
Günther trägt eine goldene Uhr, ein frisches T-Shirt, die Haare liegen | |
ordentlich. So beginnt das Ehepaar den Tag in Zweisamkeit. Nur mit | |
Hartmanns Hilfe ist das möglich. Einmal war Günther schon im Pflegeheim, | |
für fünf Monate. „Die können sich nicht unterhalten, gucken nur stur in die | |
Gegend. Das ist nicht das richtige“, sagt er. „Zu Hause ist zu Hause.“ | |
Hartmann steht daneben und lächelt, ihre Wangen sind gerötet. Zeit zu | |
gehen. „Schönen Tag dann!“, sagt sie und tritt aus der Wohnung, hinaus in | |
die Morgensonne, wo der Geruch von Desinfektionsmittel verfliegt und das | |
Gefühl von Abschied, das in der Luft liegt in diesen Haushalten. „Die | |
Günthers haben nur noch sich“, sagt Hartmann. | |
Eigentlich wollte Hartmann Krankenschwester werden. Aber Krankenschwestern | |
suchte gerade niemand. Gerade, das war vor 18 Jahren, da war Hartmann 16 | |
Jahre alt. Also begann sie im Pflegeheim „Villa Juesheide“ die | |
Hilfskraftausbildung, später die Fachkraftausbildung und tauschte bald die | |
Schlüssel: vom Heim ins Auto. „Man kommt viel mehr ins Gespräch mit den | |
Angehörigen“, sagt sie. „Im stationären Dienst ist es eher wie im Hotel.�… | |
Ihr macht der Beruf Spaß, seit zehn Jahren fährt sie nun schon umher – und | |
sie will ihn gut machen: Sie machte eine Weiterbildung zur Wundmanagerin, | |
damit sie die chronischen Liegestellen ihrer Kunden besser behandeln kann. | |
Doch auch das gehört zum Beruf dazu: frühes Aufstehen, Schichtdienst im | |
Zweiwochenrhythmus, dann ein Wochenende frei, an dem mehr Zeit für die | |
fünfjährige Tochter und ihren Partner bleibt. Brutto verdient Hartmann etwa | |
15 Euro die Stunde, ohne Zuschläge, ihren Dienstwagen kann sie mit einem | |
Finanzierungsmodell auch privat nutzen. Zwischen 140 und 160 Stunden | |
arbeitet sie im Monat. „Wir machen eine Schweinearbeit, wie auf dem Bau. | |
Wir leisten eigentlich mehr, kriegen aber einen Hungerlohn.“ Hartmann | |
poltert das nicht, sie sagt es einfach. Mit weicher, freundlicher Stimme. | |
„Irgendetwas machen wir doch falsch.“ | |
Über das Gehalt ließen sich mehr Menschen für den Pflegeberuf begeistern. | |
Aktuell verdienen vollzeitbeschäftigte Pflegefachkräfte durchschnittlich | |
2.746 Euro Brutto monatlich, mit starken regionalen Unterschieden sowie | |
zwischen privaten und öffentlichen Anbietern. | |
## „Wir steuern auf eine riesen Katastrophe zu“ | |
Hier verweisen Andreas Kern und andere Pflegedienste auf die Verantwortung | |
der Pflegekassen, von denen je nach Pflegegrad eines Kunden Summe x an den | |
ambulanten Dienst geht: Solange die nicht mehr zahlen würden, bliebe kein | |
Spielraum. Um die Ausgaben zu refinanzieren, müsse Kern also entweder die | |
Pflege teurer machen oder seinen Angestellten weniger Gehalt bezahlen. Eine | |
Zwickmühle. Tarifgebundene Anbieter wie die AWO und Diakonie, die beim | |
Gehalt keinen Spielraum haben, [2][drohten im März in Niedersachsen sogar | |
damit], ganz aus der ambulanten Pflege auszusteigen. Zwei Drittel der | |
Stationen würden dort rote Zahlen schreiben. | |
„Lange können wir die Pflege bei den Ansprüchen hier auf dem Land nicht | |
mehr stemmen“, prophezeit Kern. Mehr Fachkräfte könnten die Situation | |
entschärfen. Doch Kern zeichnet ein düsteres Bild: „Es gibt keine | |
Fachkräfte mehr. Wir steuern auf eine Riesenkatastrophe zu.“ | |
Kürzlich reiste Gesundheitsminister Jens Spahn nach Kosovo, von hier sollen | |
künftig Pflegekräfte angeworben werden. Zudem spricht er von einem | |
Mindestlohn von 14 Euro. Es gibt [3][viele Pläne], doch die Umsetzung | |
dauert. | |
25 Jahre nach ihrer Einführung holt der demografische Wandel die | |
Pflegeversicherung ein. Hartmann und Kolleginnen in ihren weißen Autos: | |
weiße Blutkörperchen, Leukozyten, in einem infizierten System. | |
8.10 Uhr, Hartmann sitzt wieder im Auto, 20 Minuten eher als an anderen | |
Tagen. Schlimm ist das nicht, denn nicht auf die Zeit, sondern auf die | |
erbrachte Pflege kommt es an. „Herr Günther hat heute so gut mitgemacht“, | |
sagt sie. Vielleicht, weil ein Reporter über die Schulter schaut? | |
Gelegentlich kommentiert Hartmann den Straßenverkehr, während sie fährt. | |
„Was macht der denn da? Ich will hier rüber. Lieber mit dem Handy spielen … | |
Northeim!“, und weiter geht es. | |
Kommt Hartmann zu spät zu einem Hausbesuch, klingelt schon ein paar Minuten | |
später in der Zentrale der Beschwerdeanruf. Kommt sie zu früh, wie jetzt | |
bei Herrn Brecht, wird sie in Unterhose begrüßt: „So früh war noch nie | |
jemand da“, sagt der 95-Jährige mürrisch. „Heute machen halt alle so gut | |
mit“, sagt Hartmann und folgt ihm ins Wohnzimmer. | |
„Was macht das Gesäß, wenn Sie gerade so schön stehen?“ Herr Brecht beugt | |
sich nach vorne, stützt sich auf seinen Gehstock und die Lehne eines | |
geblümten Sessels. Hartmann hockt sich hinter ihn und zieht die Unterhose | |
herunter. „Das ist ja schon wieder richtig wund. Ich mache mal ein Foto für | |
den Arzt“, sagt sie und fingert in Gummihandschuhen ihr Handy aus der | |
Tasche. „Steffi möchte ein Foto haben“, erwidert Herr Brecht und lacht. An | |
seinem Gesäß haben sich zwei Wundstellen gebildet, jeweils so groß wie ein | |
Daumennagel. Das rote Fleisch ist zu sehen. Hartmann klebt Wundpflaster | |
darüber. | |
Dann zieht sie ihm die Kompressionsstrümpfe an, hilft ihm in die Hose, | |
erkundigt sich nach seinen Enkeln, Urenkeln, bindet seine Schuhe zu. | |
Hocken, aufstehen, bücken, heben, ziehen, schieben, drücken. Hartmanns | |
Stirn glänzt. | |
## Ein organisatorischer Kraftakt für alle Beteiligten | |
Ein Ring an Herrn Brechts Finger verrät: Früher waren sie an solchen Tagen | |
zu dritt. Hartmann pflegte Frau Brecht jeden Morgen. Nur so konnte das Paar | |
die Zeit bis zu ihrem Tod vor zweieinhalb Jahren zusammen verbringen, | |
zwischen Blümchensofa und Schrankwand. Seit ihrem Tod kommt jeden Morgen um | |
halb 10 Brechts Enkel und holt ihn ab. Dann besuchen sie gemeinsam den | |
Friedhof. | |
Doch als Hartmann sich aus der Hocke erhebt und die Gummihandschuhe von | |
ihren Händen streift, ist es kurz vor halb 9. Zu früh. „Der kommt ja nun | |
erst in einer Stunde“, beschwert sich Brecht. Was machen mit der | |
unvorhergesehenen Zeit? „Der Tagesablauf war immer so, und er soll auch | |
nicht geändert werden, nur weil der Pflegedienst kommt“, sagt Hartmann | |
später. | |
2,6 Millionen Pflegebedürftige werden zu Hause von den Angehörigen | |
versorgt, bei 830.000 hilft ein ambulanter Dienst. Sie „puzzeln“ sich drum | |
herum, wie Hartmann sagt. Die Pflegekräfte sollen helfen, aber eben nur in | |
dem Ausmaß, das gewollt wird, und zu der Uhrzeit, zu der sie benötigt | |
werden. Ein [4][organisatorischer Kraftakt für alle Beteiligten]. | |
Manche entscheiden sich deshalb für eine 24-Stunden-Pflegehelferin, oft | |
kommen diese aus Osteuropa. Auch Hartmanns Eltern denken darüber nach. | |
Bisher fährt dort eine Kollegin zwei Mal am Tag vorbei. Doch stattdessen | |
könnten sich Hartmanns Eltern auch das sogenannte Pflegegeld auszahlen | |
lassen – und davon selbst jemanden engagieren. Wohnen würde die Pflegehilfe | |
in einer Einzimmerwohnung im Haus, 24 Stunden am Tag erreichbar. „Also ich | |
sträub mich dagegen gerade so ein bisschen“, sagt Hartmann. Was, wenn die | |
gar kein Deutsch spricht? Oder nicht auf den gleichen Standards arbeitet? | |
„Das ist doch nicht Sinn der Sache.“ | |
8.26 Uhr, Stefanie Hartmann fährt den Wagen zu ihrem vorletzten Termin, | |
große Pflege bei den Knappes. Dieser vorletzte Termin wird sie mehr fordern | |
als alle anderen zuvor. Und zum einzigen Mal an diesem Tag wird sie ihre | |
weiche Stimme verlieren. | |
„Susimaus, wir sind da. Susimaus“, ruft Herr Knappe, während er Stefanie | |
Hartmann in einen Raum führt, in dem mittig ein Pflegebett steht. Darin | |
liegt sie, die er „Susimaus“ nennt, Anfang 70, mit geschlossenen Augen und | |
offenem Mund, aus dem nur Laute und ein Wimmern kommen. Sie hat Multiple | |
Sklerose, Parkinson, eine Magensonde, einen Urinbeutel. In ihren Steiß hat | |
sich ein Liegegeschwür, ein sogenannter Dekubitus, fast einen Zentimeter | |
tief in das Gewebe gefressen. | |
Zeitweise war Frau Knappe im Krankenhaus. Doch dort habe sie in ihrem | |
eigenen Kot gelegen, der Dekubitus habe sich verschlechtert. Herr Knappe | |
holte sie nach Hause. „Ich mache alles, was ich kann. Aber ohne Schwestern | |
geht es nicht“, sagt er. „Wenn er vieles übernehmen möchte, macht er es zu | |
schnell, dann stolpert er darüber. Dann ist es besser, wenn wir es machen“, | |
sagt Hartmann später, als Herr Knappe weg hört. Seit 50 Jahren sind Herr | |
und Frau Knappe Ehepartner, seit fünf Jahren parkt vier Mal am Tag ein | |
weißes Auto vor der Tür. | |
Hartmann wäscht Frau Knappe, dreht sie auf die Seite. Ein Kraftakt, denn | |
Frau Knappe ist übergewichtig. Ab und zu packt Herr Knappe mit an, gibt | |
seiner Partnerin dabei immer wieder Küsse auf die Wange, knuddelt sie, | |
„meine Susimaus“. Die verfällt in ein monotones Stöhnen, ihr Wimmern | |
schwillt zu einem Klagen an. Hartmann versucht, sie zu beruhigen. Der | |
Lärmpegel steigt, die Hitze, die Anspannung. Herr Knappe wuselt herum, | |
räumt Bettzeug und Wäsche hin und her, redet ohne Unterbrechung: „Ich | |
versuche ja viel zu helfen, gerade bei den schweren Sachen.“ | |
## „Wenn Susi nicht mehr ist, setze ich mich vor einen Baum“ | |
Unvermittelt fährt es aus Hartmann heraus, strenger als sonst: „Da sind wir | |
auch sehr dankbar.“ Die Betonung kracht in das „sehr“. Mit ihrer gewohnt | |
weichen Stimme und einem Lächeln fügt sie an: „Aber er braucht es natürlich | |
nicht. Er könnte sich lieber mal um sich selber kümmern.“ Herr Knappe hat | |
verstanden. Ein paar Minuten später geht er zur Apotheke, Tabletten holen. | |
Hartmann füllt eine braune Flüssigkeit in eine Spritze und schließt sie an | |
den Schlauch an, der in Frau Knappes Bauchdecke führt. Sie hält die Spritze | |
hoch. Das Wimmern und Wehklagen verstummt. Frau Knappe frühstückt, den Mund | |
weit aufgerissen. Langsam senkt sich der Pegel in der Spritze. „Das darf | |
nicht zu schnell gehen, sonst reagiert der Magen mit Magensäure“, flüstert | |
sie. Die Stille im Raum dröhnt. Hartmann wird nachdenklich. „Ohne ihn wäre | |
sie im Heim.“ Und er ohne sie? „Wenn Susi nicht mehr ist, setze ich mich | |
vor einen Baum“, habe er mal gesagt. | |
Schweigend beobachtet sie, wie Frau Knappe aus ihrer Spritze isst. | |
Tarifverhandlungen, Pflegegrade und Preistabellen rücken in die Ferne. „Nun | |
hast du wieder Ruhe“, sagt Hartmann leise. Sie kämmt Frau Knappe die Haare | |
und schließt das Fenster. Dann geht sie zur Tür. Ein Wimmern begleitet sie. | |
„Bis heute Mittag, Susi.“ | |
21 Aug 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Pflegewissenschaftler-ueber-Pflegekraefte/!5598727 | |
[2] /Sozialverbaende-drohen-mit-Ausstieg/!5578558 | |
[3] /Massnahmen-gegen-den-Pflegenotstand/!5564552 | |
[4] /Pflegegesetz-mit-Nebenwirkungen/!5608900 | |
## AUTOREN | |
Fabian Franke | |
## TAGS | |
Altenpflege | |
Pflegenotstand | |
Demografischer Wandel | |
Care-Arbeit | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Arbeitslosengeld | |
Pflege | |
Pflegenotstand | |
Volksinitiative | |
Pflegeberufe | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Gerichtsurteil zu Hartz IV: Sanktionen teils verfassungswidrig | |
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden: Kürzungen von mehr als 30 | |
Prozent seien beim Arbeitslosengeld II nicht verhältnismäßig. | |
Pflege-TÜV für Einrichtungen: Lauter Vorzeigeheime | |
Gesundheitsminister Spahn will mehr Ehrlichkeit und Transparenz in der | |
Pflege. Leider ist sein TÜV eher eine Kapitulation vor dem | |
Fachkräftemangel. | |
Kampagne gegen Fachkräfte-Mangel: Wohlfühl-Kür für Pflegekräfte | |
Damit Pflegekräfte in den Beruf zurück kehren, schmiedet Senatorin | |
Prüfer-Storcks eine Pflege-Allianz in Hamburg. Das Thema Personalbemessung | |
wird ausgespart. | |
Urteil zu Pflege-Initiative erst im Mai: Im Wartezimmer | |
In Hamburg streitet eine Volksinitiative für mehr Personal in | |
Krankenhäusern. Weil der Hamburger Senat dies für unzulässig hält, zog er | |
vor das Verfassungsgericht. | |
Sozialverbände drohen mit Ausstieg: Streit um Pflege-Finanzierung | |
Die Sozialverbände Diakonie und AWO in Niedersachsen wollen mehr Geld für | |
die ambulante Pflege von den Kassen. Sie drohen, andernfalls aus der Pflege | |
auszusteigen. |