# taz.de -- Alltag im russisch besetzten Mariupol: Alles nur Fassade | |
> Die schwer zerstörte ukrainische Stadt ist nur noch von Russland aus | |
> zugänglich. Die Menschen leiden unter der Kälte, der Aufbau läuft | |
> schleppend. | |
Bild: Neubauten können nicht über die humanitäre Krise hinwegtäuschen | |
DNIPRO taz | Nach Mariupol führt heute aus der Ukraine kein Weg mehr. Die | |
Stadt erreicht man nur noch von Russland aus. Die russische Armee hatte die | |
Hafenstadt am Asowschen Meer gleich zu Beginn der Invasion 2022 vollständig | |
eingekesselt und die Stromversorgung gekappt. Deshalb konnte kein Wasser | |
mehr in die Stadt gepumpt werden. Durch die Sprengung einer Gasleitung gab | |
es auch schnell kein Gas mehr. | |
Drei Monate lang lebten somit gut 400.000 Menschen, die Mariupol nicht | |
rechtzeitig hatten verlassen können, ohne Wasser, Heizung, Strom, Gas, | |
Telefon- und Internetverbindung. In der Stadt herrschte Hunger. | |
[1][Der eigentliche Horror war jedoch der fast pausenlose Beschuss], durch | |
den Dutzende Menschen im wahrsten Sinne des Wortes den Verstand verloren. | |
„In dem Keller, in dem wir uns versteckten, ist eine Frau vor Angst | |
wahnsinnig geworden. Sie hat den täglichen Bombenhagel psychisch einfach | |
nicht ausgehalten. Sie lief herum, fasste uns ins Gesicht und hörte nicht | |
auf zu lachen. Es war unheimlich und schrecklich“, erzählt Switlana Dejkun, | |
die heute nicht mehr in Mariupol lebt. | |
## Kein einziges Gebäude ist völlig intakt | |
Von den 32.500 mehrstöckigen Mariupoler Wohnhäusern wurden 1.300 völlig | |
zerstört. In der ganzen Stadt blieb kein einziges Gebäude völlig intakt. | |
Nur fünf Prozent der Schulen und ein einziges Krankenhaus stehen noch. Als | |
die Russen die Kontrolle über die Stadt übernahmen, lebten dort noch ca. | |
100.000 Menschen. | |
Im Februar 2022 hatte Mariupol etwa eine halbe Millionen Einwohner. Zu den | |
offiziell registrierten 480.000 kamen noch bis zu 100.000 Geflüchtete aus | |
dem Gebiet Donezk, von denen viele nur temporär in der Stadt lebten. | |
Die Stadtverwaltung sagt, dass in den ersten Kriegstagen etwa 80.000 | |
Mariupoler die Stadt verlassen hätten. Als die russische Seite ab dem 16. | |
März 2022 private Pkw-Fahrten aus Mariupol genehmigte, [2][retteten sich | |
circa 150.000 Menschen in ukrainisch kontrolliertes Gebiet]. | |
[3][Weitere 100.000 Mariupoler kamen nach Russland], einige reisten von | |
dort weiter nach Europa. Das Schicksal der restlichen 70.000 bis 130.000 | |
Menschen ist unbekannt. Es gibt Gründe zu der Annahme, dass sie nicht mehr | |
leben. Aber die genauen Todeszahlen wird man erst nach der Befreiung der | |
Stadt von russischer Besatzung ermitteln können. | |
Nach der Beendigung der Kämpfe gab es für die in der Stadt Verbliebenen | |
weder Lebensmittel noch Arbeit. Dringlichste Aufgabe für die russischen | |
Besatzer war darum, schnellstmöglich die Versorgung der Menschen zu | |
sichern, um Aufstände zu verhindern. | |
## Hauptaufgabe: Infrastruktur | |
Nach Angaben des Mariupoler Vizebürgermeisters, Mychailo Kohut, der während | |
der aktiven Kampfphase für die Verwaltung der Stadt zuständig war, war es | |
den russischen Besetzern wichtig, Fachkräfte für die Wiederherstellung der | |
zerstörten kommunale Infrastruktur zu finden. Deshalb verboten sie | |
entsprechenden Experten unter Androhung von Haftstrafen, die Stadt zu | |
verlassen. Kohut selbst konnte erst im Mai und auch nur durch Bestechung | |
von Soldaten einer Straßensperre aus Mariupol entkommen. | |
Anschließend half er dabei, die Zerstörungen kommunaler Einrichtungen zu | |
beziffern. Seinen Worten zufolge haben die russischen Besetzer bislang | |
lediglich ein paar provisorische Strom- und Wasserleitungen verlegt, um die | |
aktuell schwersten Versorgungsprobleme der Stadt zu beheben. Die Menschen | |
seien hungrig, erschöpft und sehr wütend. | |
„Bis Juni haben wir unser Essen auf offenen Feuern gekocht. Wissen Sie, wie | |
ich den Qualmgeruch hasse? Bis an mein Lebensende werde ich nie wieder | |
grillen. Meine Hände waren schwarz vom Ruß, meine Haare rochen immer nach | |
Rauch. Vier Monate habe ich mich nicht gewaschen. Wenn Sie mich fragen, was | |
ich von Russland halte: Das können Sie gar nicht in einen Artikel | |
schreiben. Es gibt keine anständigen Worte dafür“, erzählt Olena Woron, die | |
in Wirklichkeit anders heißt und noch immer in Mariupol lebt. | |
## Probleme mit Trinkwasser, Heizung und Strom | |
Im Laufe des Sommers, so Olena, habe sich die Situation in der Stadt leicht | |
stabilisiert. Vor dem Krieg kam das Trinkwasser aus dem Fluss Siverskij | |
Donezk. Da die entsprechenden Wasserleitungen zerbombt wurden, leiten die | |
Besetzer jetzt Wasser aus dem Starokrymske-Reservoir in die Stadt. Das ist | |
allerdings [4][sogenanntes Brauchwasser und für häusliche Bedürfnisse nur | |
bedingt geeignet]. | |
Die Stromversorgung wurde mit provisorischen Leitungen aus dem Bezirk | |
Nowoasowsk wieder hergestellt. Wegen der zu geringen Netzspannung können | |
die Menschen aber meist nur ein Haushaltsgerät zur Zeit benutzen. | |
„Am Schlimmste ist das Heizungsproblem“, sagt Valerij. Er möchte seinen | |
Nachnamen nicht in der Zeitung lesen. „Die meisten Heizkessel funktionieren | |
nicht. Um wenigstens Wohnheime, Schulen und Krankenhäuser mit Wärme zu | |
versorgen, haben die russischen Besetzer mobile Dieselheizgeräte geliefert. | |
Aber kriegsbedingt gibt es immer wieder Brennstoff-Engpässe.“ | |
Dann hätten die Russen vorgeschlagen, elektrisch zu heizen, erzählt der | |
Mann aus Mariupol. „Sie haben sogar gratis entsprechende Heizgeräte | |
verteilt. Aber die Stromnetze konnten der Spannung nicht standhalten. Sie | |
brannten einfach durch, fast täglich kam es zu Haus- und Wohnungsbränden. | |
Dieser Winter war furchtbar“, sagt Valerij. Er hofft jetzt darauf, dass es | |
mit den steigenden Temperaturen leichter wird. | |
## Lebensmittel teurer als in Moskau | |
Geschäfte und Märkte sind wieder in Betrieb, man kann Lebensmittel kaufen. | |
Aber viele Menschen haben zu wenig Geld. Moskauer Blogger haben bei einem | |
Preisvergleich festgestellt, dass die Preise in der russischen Hauptstadt | |
niedriger sind. Unternehmer, die jetzt nach Mariupol gekommen sind, | |
arbeiten vor allem mit Baufirmen und Bauarbeitern aus Russland. Deren | |
Gehälter sind zwei- bis dreimal höher als die der Einheimischen. | |
Es sind vor allem alte Menschen, die noch in Mariupol geblieben sind. Ihr | |
Rente bekommen sie jetzt aus Russland in russischen Rubeln ausgezahlt. Die | |
ukrainischen Renten können wegen fehlender Geldautomaten nicht mehr | |
abgehoben werden. Bei vielen reicht das Geld nicht mehr für Lebensmittel. | |
Zwei- bis dreimal wöchentlich verteilen Freiwillige darum Essen, das aus | |
Russland in die Stadt gebracht wird. | |
Einige Mariupoler haben Arbeit gefunden. Sie werden in russischen Rubeln | |
bezahlt. Doch vor allem für Frauen gibt es nur wenige Stellen. Am | |
schwierigsten ist es für diejenigen, die gerade das Rentenalter erreicht | |
haben, das aber wegen fehlender Unterlagen nicht nachweisen können und zu | |
alt sind, um noch einen Job zu finden. | |
Auch ein Jahr nach Beginn der russischen Okkupation bleibt Mariupol ein | |
Ort der humanitären Krise, an dem die Menschen dringend auf Hilfe | |
angewiesen sind. | |
Aus dem Ukrainischen [5][Gaby Coldewey] | |
Die Autorin ist ukrainische Journalistin und stammt aus Mariupol. Seit | |
Mitte März 2022 lebt sie im ukrainischen Dnipro, hält aber den Kontakt in | |
ihre alte Heimat. | |
31 Mar 2023 | |
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[5] /!s=Gaby+Coldewey/ | |
## AUTOREN | |
Anna Murlykina | |
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