# taz.de -- Aktivistin über Bürgergeld-Pläne: „Neue Worte für das Gleiche… | |
> Wird das „Bürgergeld“ der Ampelkoalition wirklich Hartz IV überwinden u… | |
> Verbesserungen bringen? Sozialaktivistin Helena Steinhaus ist skeptisch. | |
Bild: Behörden-Trostlosigkeit. Sozialaktivistin Steinhaus fordert einen Paradi… | |
taz: Frau Steinhaus, Ihr Verein „Sanktionsfrei“ kämpft seit Jahren für die | |
Abschaffung von Hartz-IV-Sanktionen und unterstützt Betroffene. Die neue | |
Bundesregierung plant nun zumindest ein zwölfmonatiges Moratorium. Haben | |
Sie Ihr Ziel nun erreicht? | |
Helena Steinhaus: Moratorium heißt ja nur, dass die Sanktionen temporär | |
ausgesetzt werden. Unser Ziel ist deren Abschaffung, um Hartz IV zu einer | |
echten Grundsicherung zu machen. | |
Sie gehen nicht davon aus, dass das Moratorium zu einer dauerhaften Abkehr | |
von Kürzungen des Regelbedarfs – etwa bei verpassten Terminen beim | |
Jobcenter – führt? | |
Leider nicht, das Moratorium ist ein Zeichen dafür, dass man sich in den | |
Koalitionsverhandlungen eben nicht auf eine Abschaffung einigen konnte. Die | |
Grünen wollen Sanktionen abschaffen, die FDP nicht, und die SPD … da weiß | |
man eigentlich gar nicht so genau, ob die eine Position haben. | |
Aber ein Jahr ohne Sanktionen heißt doch zumindest, dass | |
Hartz-IV-Betroffene sich ein Jahr lang keine Sorgen um Kürzungen machen | |
müssen. Was bedeutet das für Ihre Kunden? | |
Es bedeutet weniger, als man im ersten Moment denkt. Auch jetzt übernehmen | |
wir sehr viele Fälle, die mit Sanktionen im engeren Sinne eigentlich nichts | |
zu tun haben, die sich für Betroffene aber so anfühlen – zum Beispiel | |
Kürzungen aufgrund der Verletzung von Mitwirkungspflichten, etwa, wenn man | |
angefragte Auskünfte zu den eigenen Lebensverhältnissen nicht erteilt hat. | |
Der Regelsatz kann eben nicht nur über den Sanktionsparagrafen | |
angetastet werden. | |
Welche Möglichkeiten gibt es sonst? | |
2019 hat das Bundesverfassungsgericht 100-Prozent-Sanktionen verboten, also | |
den kompletten Entzug aller Leistungen. Mein Eindruck und der Eindruck von | |
befreundeten Anwälten ist: Man sanktioniert durch die Hintertür, indem man | |
zum Beispiel Bescheide nicht bearbeitet oder Weiterbewilligungsanträgen | |
nicht stattgibt. Der Effekt bleibt: Menschen wird die Lebensgrundlage | |
entzogen. | |
Ein Argument für Sanktionen ist ja, dass man ohne dieses Instrument | |
Arbeitslose nicht mehr dazu bewegen kann, an der Arbeitsvermittlung | |
mitzuwirken. Garantiert Sanktionsfreiheit ein Leben in der „sozialen | |
Hängematte“? | |
Ja, das ist immer die große Sorge, dass es eine Art Freifahrtschein zur | |
Ausbeutung unseres Sozialsystems gäbe. Tatsächlich gibt es dafür keine | |
Belege. Die meisten Menschen wollen arbeiten. | |
Dennoch gibt es knapp eine Million Langzeitarbeitslose. | |
Natürlich gibt es Situationen, in denen man zeitweise oder auch | |
längerfristig nicht arbeiten kann – und es gibt Umstände, die arbeiten | |
nicht attraktiv machen. Wenn man Arbeit bekommt, mit der man schlechter | |
dasteht als mit Hartz IV – dann müssen sich eben die Arbeitsbedingungen und | |
die Löhne verbessern. Das Argument, dass Sanktionen als „Motivation“ | |
wirken, ist nicht nachweisbar. Menschen, die aufgrund von Sanktionen Jobs | |
angenommen haben, landen häufig wieder im Bezug. Es gibt einen | |
Drehtüreffekt. | |
Die SPD, die Hartz IV vor 18 Jahren durchsetzte, spricht nun von einem | |
„Bürgergeld“. Ist die Neuregelung wirklich eine Abkehr von den | |
Schröder’schen Reformen? | |
Nein, eine Abkehr hieße: Der Regelsatz muss erhöht, die Sanktionen müssen | |
abgeschafft werden, das ist ganz wichtig. Die Menschen dürfen nicht in der | |
Armutsfalle feststecken. Und man muss mit ihnen auf Augenhöhe sprechen. Es | |
muss einen echten Paradigmenwechsel geben. Stattdessen gibt es neue | |
Begriffe. Anstelle einer „Eingliederungsvereinbarung“ gibt es jetzt eine | |
„Teilhabevereinbarung“. Für mich sind das neue Worte für das Gleiche. | |
Bisher klingt das für mich nicht besonders vielversprechend. | |
Gibt es denn gar nichts Positives? Zum Beispiel soll es ja jetzt einen | |
Vorrang von Qualifizierungsmaßnahmen vor Vermittlung geben. | |
Das ist in der Tat positiv. Aber ich will sehen, ob das wirklich umgesetzt | |
wird. Auch die Erhöhung des Schonvermögens und der Zuverdienstgrenzen ist | |
schön. Aber bei beiden Vorhaben fehlt eine konkrete Zahl. Ein weiterer | |
Fortschritt ist, die Löhne von Jugendlichen nicht mehr anzurechnen. Wenn | |
das so kommt, ist das ein Schritt in die richtige Richtung. | |
26 Nov 2021 | |
## AUTOREN | |
Jörg Wimalasena | |
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