| # taz.de -- Aktivistin aus Iran über tote Tochter: „Ich kann sie jetzt gehen… | |
| > Shole Pakravan liest in Hamburg aus ihrem Buch über ihre im Iran | |
| > hingerichtete Tochter. Sie hatte ihren Vergewaltiger in Notwehr | |
| > erstochen. | |
| Bild: Damals hoffte sie noch, Recht zu bekommen: Reyhaneh Jabbari 2008 vor Geri… | |
| taz: Frau Pakravan, was war Ihre Tochter Reyhaneh für ein Mensch? | |
| Shole Pakravan: Wie alle Mütter dieser Welt würde ich sagen: „Sie war so | |
| schön, so freundlich …“, nur positive Dinge. Aber letztlich spricht ihr | |
| Handeln für sich. Bevor sie ins Gefängnis kam, war sie ein junges Mädchen | |
| wie Millionen andere im Iran. Sie war modebewusst, trug gern Markenkleidung | |
| und solche Dinge. Aber im Gefängnis veränderte sie sich. Ihr drohte | |
| aufgrund des Scharia-Gesetzes der Blutrache die Todesstrafe. Aber sie fing | |
| an, für ihre Zellgenossinnen zu kämpfen, die dasselbe erwartete. Sie | |
| drängte mich, diesen Frauen zu helfen. Sie sagte: „Sprich mit den Familien, | |
| die Blutrache fordern, versuch, sie davon abzubringen!“ | |
| Wie haben Sie reagiert? | |
| Ich habe ihr gesagt: „Ich möchte dich retten, mehr Energie habe ich nicht!“ | |
| Ihre Antwort war: „Die anderen brauchen deine Hilfe dringender als ich.“ | |
| Also habe ich die „Diplomatie der Blutrache“ gelernt, habe verstanden, wie | |
| ich verhandeln muss, damit sich die „Blutrache-Eigner“ auf einen Deal | |
| einlassen. Ich habe das für viele Menschen getan und wurde professionell | |
| darin. Reyhaneh hat mich gelehrt, mutig zu sein und nicht um ihrer | |
| Sicherheit willen zu lügen – wie auch sie nicht log. Denn wenn sie den | |
| Vergewaltigungsvorwurf zurückgezogen, also die Unwahrheit gesagt hätte, | |
| wäre sie vermutlich noch am Leben. | |
| Wie funktioniert die „Diplomatie der Blutrache“? | |
| Man kann versuchen, der betroffenen Familie Geld zu bieten. Der Weg zu | |
| diesem Deal ist allerdings mühsam. Denn die Familie des Opfers denkt, wenn | |
| sie einen Deal macht und dem Mörder verzeiht, verrate sie ihr totes | |
| Familienmitglied. Man muss also psychologisch sehr geschickt vorgehen. | |
| Ein Beispiel? | |
| In einem Fall fand ich heraus, dass der Vater, der Blutrache für einen Sohn | |
| forderte, noch einen jüngeren Sohn hatte, der kein Auto besaß. Ich nahm | |
| Kontakt zu ihm auf und sagte: „Wenn dein Vater das Geld annimmt, kommt es | |
| dir zugute. Du kannst davon ein Auto kaufen. Sprich doch mit deinem Vater.“ | |
| Das tat er. Nach einer Woche rief mich der Vater an: „Ja, ich unterschreibe | |
| den Deal.“ Mit der Zeit wurde ich sehr geübt im Aushandeln solcher Deals, | |
| und immer mehr Familien baten mich um Hilfe. | |
| Aber Ihrer Tochter konnten Sie nicht helfen. | |
| Leider nicht. Zuerst habe ich geweint, geschimpft, gebettelt, dass sie die | |
| Anschuldigung der versuchten Vergewaltigung zurückzieht. Sie weigerte sich. | |
| Dann habe ich Anwälte aufgesucht, Eingaben gemacht. Die intensivste Phase | |
| begann 2014, als Reyhaneh ihre Verteidigungsschrift verfasste. Sie wollte | |
| [1][öffentlich machen], dass sie ihren Angreifer in Notwehr erstochen | |
| hatte. Ich habe auch einen Deal versucht und mit dem Sohn des Toten | |
| gesprochen. Er war damals 32, ein freundlicher, sanfter Mensch. Ich kann | |
| immer noch nicht fassen, dass er beschloss, meine Tochter [2][zu töten]. | |
| Was haben Sie mit ihm erlebt? | |
| In der Nacht ihres Todes schrieb ich ihm: „Heute Abend wollen sie Reyhaneh | |
| hinrichten. Sie haben uns nicht gesagt, in welchem Gefängnis. Weißt du, | |
| wohin ich fahren muss?“ Er war schockiert und schrieb: „Nein, davon weiß | |
| ich nichts. Sie müssen mich ja anrufen.“ Denn er musste, wie im Iran | |
| üblich, selbst den Knopf drücken, der den Boden unter dem Galgen wegzog. Er | |
| schrieb mir: „Wenn sie mich anrufen, nenne ich dir den Ort.“ Als ich | |
| Stunden später noch einmal fragte, antwortete er: „Ich werde es dir nicht | |
| sagen!“ Ich war total schockiert. Heute denke ich, dass er unter Druck | |
| gesetzt worden war. Ich möchte ihn nicht in Schutz nehmen, aber ich glaube | |
| nicht, dass es seine freie Entscheidung war. | |
| Wie ging es Ihnen nach Reyhanehs Tod? | |
| Ich war zerstört. Ich habe jeden Tag zu Gott gebetet, dass er mich zu sich | |
| nimmt. Ich blieb die ganze Zeit im Bett und hoffte, am nächsten Morgen | |
| nicht wieder aufzuwachen. Für meine Familie war das sehr schwer. Mein Mann | |
| wollte mir nah sein und mir helfen, diese Tragödie zu akzeptieren. Aber ich | |
| wollte nicht reden. Meine beiden anderen Töchter drängten mich zu essen. | |
| Ich tat es, aber ich fühlte nichts. Ich war ganz apathisch. | |
| Es blieb nicht so. | |
| Nein. Eine Begegnung hat alles verändert. Ich traf eine Frau, deren Sohn | |
| bei den [3][Protesten] 2009 erschossen worden war. Sie brachte mich zu | |
| einer alten Dame, die sechs Familienmitglieder durch Hinrichtungen verloren | |
| hatte. Ihr jüngster Sohn war mit 19 verhaftet worden, und bis nach seiner | |
| Hinrichtung hat sie ihn nicht wiedergesehen. Da dachte ich: „Diese Frau hat | |
| dasselbe erlebt wie du, hat danach ein langes Leben gehabt. Wenn du noch | |
| lange lebst – willst du jeden Tag um deinen Tod beten? Nein, du musst etwas | |
| tun. Diese alte Frau hat in einer Zeit ohne Social Media gekämpft, hat | |
| sogar Briefe an die UN geschrieben. Wie viel leichter ist es mit den | |
| Möglichkeiten von heute!“ Also begann ich, Familien zu besuchen, die ein | |
| ähnliches Schicksal hatten. Im Laufe der Zeit traf ich fast 100 betroffene | |
| Familien. | |
| Inwiefern hat Sie das verändert? | |
| Es half mir. Mit diesen Frauen zu sprechen, gab mir Kraft. Und je mehr | |
| Leute ich traf, desto klarer sah ich, dass die Lügen der Regierung Methode | |
| hatten. Dass ich es nicht persönlich nehmen musste, sondern dass sie es mit | |
| allen so machten. Das war eine wichtige Erkenntnis. Ich gründete die Gruppe | |
| „Madaraneh“ („Mutterschaft“), für Mütter, die ein Kind auf diese Art | |
| verloren haben, in der wir uns gegenseitig stärken. | |
| Wie groß ist das Problem der Vergewaltigung im Iran? | |
| Es ist in der ganzen Welt ein Problem. Das besondere Problem im Iran: Wenn | |
| ein „Mann aus dem Volk“ das tut, wird er hingerichtet. Wenn er aber zur | |
| regierenden Elite gehört – und der Peiniger meiner Tochter war Mitarbeiter | |
| des Geheimdienstes –, passiert ihm nichts. Wir hatten zwar bereits kurz | |
| nach Reyhanehs Verhaftung erfahren, dass er vom Geheimdienst war. Wir | |
| wussten jedoch nicht, dass die Regierung ihn schützen würde. Sonst hätten | |
| wir vielleicht aufgegeben. Aber wir hofften, dass wir vor Gericht gewinnen | |
| würden, weil Reyhaneh das Opfer war und die Beweislage so klar. Doch das | |
| Gericht hat alle für Reyhaneh sprechenden Beweise ignoriert. | |
| In dem Buch „Wie man ein Schmetterling wird“ erzählen Sie Reyhanehs | |
| Geschichte. Was bedeutet es Ihnen? | |
| Sehr viel. Reyhaneh hat mich in ihrem Testament um Verschiedenes gebeten. | |
| Ihre Organe sollten gespendet werden. Das durfte ich nicht. Sie bat mich, | |
| den Folterern und den Richtern zu vergeben. Das konnte ich nicht. Sie | |
| wollte kein Grab. Auch diesen Wunsch konnte ich ihr nicht erfüllen. Und | |
| schließlich bat sie: „Lass mich mit dem Wind reisen. Lass mich gehen. Leb | |
| weiter und vergiss, dass es mich gab.“ Letzteres ist unmöglich. Aber ich | |
| denke, dass ich ihr mit dem Buch den Wunsch erfülle, sie dem Wind zu | |
| übergeben. Und sie nun gehen lassen kann. | |
| 10 Mar 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
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