# taz.de -- Anschläge auf iranische Schülerinnen: Giftrache der Gottesfürcht… | |
> In Iran halten rätselhafte Vergiftungen an Mädchenschulen die Menschen in | |
> Atem. Will Teheran der Protestbewegung das Rückgrat brechen? | |
Bild: Gift oder doch nur Einbildung? Notfalleinsatz an einer Schule in Teheran … | |
An den Mädchenschulen in Iran herrscht Ausnahmezustand. Videos, die seit | |
Ende Februar aus dem Land dringen, zeigen chaotische Szenen: Schülerinnen | |
liegen auf dem Schulhof und ringen nach Luft, andere rufen panisch nach | |
Hilfe und besorgte Eltern, denen der Zutritt zu den Schulen verwehrt wird, | |
klettern über Mauern und Absperrungen, um nach ihren Töchtern zu sehen. | |
Neben Atemnot klagen die meisten Opfer über Übelkeit und Schwindel. Vor dem | |
Auftreten der Symptome soll laut Zeugenberichten ein eigenartiger Geruch in | |
der Luft gelegen haben. | |
Mittlerweile sollen Tausende Schülerinnen im ganzen Land betroffen sein, | |
was auf systematische Giftanschläge auf die Mädchenschulen hindeutet. Auch | |
das Schulpersonal ist betroffen. Ein junger Mann aus Isfahan berichtet: | |
„Meine Mutter ist Oberschullehrerin. Ich habe jeden Tag Angst, dass ihr | |
etwas zustößt.“ In seiner Heimatstadt seien bereits Dutzende Schulen zum | |
Ziel von Anschlägen geworden. Die meisten Opfer erholten sich schnell, doch | |
eine ältere Schuldirektorin werde noch immer im Krankenhaus behandelt. | |
## Welche Giftstoffe zum Einsatz kommen, ist unklar | |
Die iranische Regierung spricht über gezielte Anschläge mit Giftgas – laut | |
Vizegesundheitsminister Junes Panahi vermutlich mit dem Ziel, Mädchen von | |
den Schulen und damit von Bildung abzuhalten. Wer aber genau dahintersteckt | |
und welche Giftstoffe zum Einsatz kommen, ist völlig unklar. Das schürt | |
Misstrauen und bietet Anlass für Spekulationen. | |
Wie ist es möglich, dass Unbekannte an Hunderten Schulen Giftgasanschläge | |
durchführen, ohne dass die Schuldigen ausfindig gemacht werden? „In Iran | |
wird sogar kontrolliert, wer Farbe kauft, um regimekritische Slogans auf | |
Wände zu malen“, [1][schreibt] die deutsch-iranische Journalistin Gilda | |
Sahebi auf Twitter. Seit vergangenem Jahr setzt das iranische Regime | |
außerdem auf Kameras mit Gesichtserkennung, um Frauen, die den | |
Zwangsschleier verweigern, zu identifizieren und zu bestrafen. | |
## Säureangriffe gegen Frauen | |
Es wäre jedenfalls nicht das erste Mal, dass religiöse Fanatiker in Iran | |
straflos frauenfeindliche Angriffe durchführen. 2014 gab es eine Serie von | |
Säureangriffen gegen Frauen, die mit den strengen Kleidervorschriften, die | |
seit der Islamischen Revolution 1979 gelten, lockerer umgingen. Auch damals | |
wurden die Hintermänner nie gefunden. Der Verdacht steht im Raum, dass die | |
Täter politische Rückendeckung genossen. | |
Doch die Spekulationen verlaufen auch in umgekehrte Richtung. Angesichts | |
der vagen Symptomatik und fehlender weiterer Indizien bezweifeln einige | |
Beobachter, dass es tatsächlich Vergiftungen gibt, und vermuten stattdessen | |
eine Massenhysterie. Ähnliche Fälle seien im Kosovo 1990 und im besetzten | |
Palästina 1986 – ebenfalls in einer Atmosphäre der Unterdrückung und | |
Unsicherheit – aufgetreten, [2][sagte] der Psychiater Simon Wessely vom | |
King’s College in London der BBC. | |
## Es braucht weitere Indizien | |
„Tatsächlich kommt als Ursache für die Vergiftungen alles Mögliche | |
infrage“, meint auch der deutsche Chemiker und Toxikologe Ralf Trapp | |
gegenüber der taz. Selbst wenn die iranische Regierung die Fälle wie | |
angekündigt untersuche und Blut- und Umweltproben sammele, werde die Suche | |
nach den Ursachen schwierig bleiben. Vor allem bei unklaren Symptomen | |
brauche es weitere Indizien, um zu wissen, wonach man in den Proben | |
überhaupt suchen solle. | |
Psychologische Faktoren und reale Vergiftungen würden sich keinesfalls | |
ausschließen, gibt Trapp zu bedenken. Er beruft sich unter anderem auf den | |
Giftgasanschlag mit Sarin in der U-Bahn in Tokio 1995. Auch damals | |
meldeten sich in den Krankenhäusern neben Opfern mit realen Vergiftungen | |
auch zahlreiche Menschen, die nicht mit dem Giftgas in Berührung gekommen | |
waren. „Man kann es sich als negatives Placebo vorstellen. Wenn man Gründe | |
hat, einen Giftgasanschlag zu befürchten, kann schon ein seltsamer Geruch | |
oder die Symptomatik anderer als Auslöser dienen, Symptome zu spüren“, sagt | |
Trapp. | |
## Muss auf reale Vergiftungen zurückgehen | |
Ein Arzt, der in einer Notaufnahme in der südiranischen Provinz Chuzestan | |
arbeitet und auch vergiftete Schülerinnen behandelt hat, sieht die These | |
eines psychisch bedingten Phänomens skeptisch. Bei den Schülerinnen, die | |
bei ihm eingeliefert wurden, sei an den Kleidern deutlicher Geruch nach | |
verfaulten Eiern und Essig wahrnehmbar gewesen. „Mindestens ein Teil der | |
gemeldeten Symptome muss auf reale Vergiftungen zurückgehen“, meint der | |
Arzt, der aus Sicherheitsgründen anonym bleiben möchte, im Gespräch mit der | |
taz. | |
Auch Metrostationen in der Hauptstadt Teheran sollen laut der | |
Aktivistengruppe 1500tasvir Ziel von Giftgasterroristen geworden sein. Was | |
beide Orte gemeinsam haben: Während des jüngsten [3][Aufstands in Iran] | |
waren sowohl Mädchenschulen als auch Metrostationen wichtige Drehkreuze des | |
Protests gegen die klerikale Führung. | |
## Sie machen Chamenei indirekt verantwortlich | |
Dass nun ausgerechnet Irans Oberster Führer Ali Chamenei die Anschläge als | |
„unverzeihliches Verbrechen“ bezeichnet und harte Strafen gegen die | |
Verantwortlichen angekündigt hat, dürften viele Iranerinnen und Iraner als | |
Krokodilstränen werten. Sie machen ihn zumindest indirekt verantwortlich, | |
selbst wenn die Angriffe nicht von der Führung selbst verordnet worden sein | |
sollten. | |
Tatsächlich ist es Chamenei, der immer wieder betont, die Anhänger der | |
Islamischen Republik sollten das ideologische Fundament des iranischen | |
Staats mit allen verfügbaren Mitteln und nach eigenem Ermessen verteidigen | |
– ein Kurs, der in Iran als „Feuer frei“-Politik bekannt ist und für | |
Regimeanhänger als praktische Lizenz zum Töten gilt. | |
Angesichts dessen ist es wenig überraschend, wen das Regime im Zusammenhang | |
mit den Giftangriffen verhaften ließ: nicht religiöse Extremisten, sondern, | |
wie die staatliche Nachrichtenagentur Isna am Dienstag meldete, „Personen, | |
(…) die während der jüngsten Ausschreitungen aktiv waren und mit | |
ausländischen Medien kooperieren“. Das ist die Bezeichnung der iranischen | |
Führung für regierungskritische Demonstranten. Es scheint, als versuche das | |
Regime, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: den Widerstand der | |
Jugendlichen durch Giftgasattacken zu brechen und zugleich Regimegegner für | |
diese verantwortlich zu machen. | |
11 Mar 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://twitter.com/GildaSahebi/status/1632275529012244481?s=20 | |
[2] https://www.bbc.com/news/world-middle-east-64829798 | |
[3] /Proteste-in-Iran/!t5884344 | |
## AUTOREN | |
Teseo La Marca | |
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