# taz.de -- Aktivisten beerdigen Flüchtlinge in Berlin: Die echte Inszenierung | |
> Das Zentrum für Politische Schönheit bringt tote Einwanderer nach | |
> Deutschland, um sie hier zu beerdigen. Wie geschmacklos ist das? | |
Bild: Teil der Performance: die Trauergäste | |
„Bitte nicht schreien, wir sind hier auf einer Beerdigung.“ Die Ermahnung | |
gilt etwa fünfzig Fotografen, die auf der Jagd nach dem besten Bild gerade | |
dabei sind, laut zu werden. Betroffen reißen sie sich zusammen, und Stefan | |
Pelzer, der „Eskalationsbeauftragte“ der Berliner Künstlergruppe Zentrum | |
für Politische Schönheit beginnt seinen Vortrag. | |
Er und die JournalistInnen stehen etwa fünfzig Meter vom offenen Grab | |
entfernt, denn das sei keine Grabrede, sondern Information für die Presse. | |
Die Grabrede wird ein Imam halten. Pelzer liest folgende programmatischen | |
Zeilen ab: „Wir sind hier zusammengekommen, um Abschied zu nehmen von einem | |
Opfer des europäischen Abschottungskampfs gegen Migranten.“ | |
Die Beerdigung der Syrerin, die laut den KunstaktivistInnen vor Lampedusa | |
mit ihrem kleinen Kind ertrunken ist, findet im Rahmen der neusten Aktion | |
des „Zentrums“ statt. Sie trägt den Titel [1][“Die Toten kommen“]. | |
Erklärtes Ziel ist es, die Toten der europäischen Flüchtlingspolitik nach | |
Berlin zu bringen, also dorthin, wo Schreibtischtäter die EU mit meterhohen | |
Stracheldrahtmauern einhegen, das Mittelmeer zum Todestreifen machen und | |
die Mittelmeeranrainerstaaten mit den auf diesem Weg produzierten Toten | |
bequem alleine lassen. Unbeirrt strafen die Politik in Brüssel und Berlin | |
den Kontinent der Menschenrechte Lügen. Noch 2012 hatte die EU den | |
Friedensnobelpreis erhalten. Auch der deutsche Innenminister zählt zu | |
denen, die sagen, die Rettung von Menschen diene vor allem dem | |
Schlepperunwesen. Daher müssten deren Boote versenkt werden. De Maizière | |
wurde zur Beerdigung eingeladen. Doch niemand aus der Politik ist dieser | |
Einladung gefolgt. | |
So wird die Trauerfeier auf dem Berliner Friedhof Gatow vor allem von | |
Journalisten aus Europa bestimmt und von deutschen Aktivisten. Einige von | |
ihnen haben Blumen mitgebracht, die meisten tragen Schwarz. Die Angehörigen | |
der Anfang März verstorbenen Syrerin sind angeblich nicht anwesend. Die | |
offizielle Begründung: Dem Ehemann, der anders als seine Frau und sein | |
zweijähriges Kind das Schiffsunglück vor Lampedusa gemeinsam mit drei | |
älteren Kindern überlebt hat und nun in Deutschland angekommen ist, wurde | |
keine Ausnahmegenehmigung erteilt. Es wurde ihm nicht erlaubt, „sein“ | |
Bundesland zu verlassen und an der Bestattung seiner Frau teilzunehmen: | |
Residenzpflicht. | |
Ob das so stimmt oder ob er als Illegaler unter den Trauergästen ist? Ob | |
wirklich die Überreste der Frau in dem Sarg liegen, der Frau, die mit ihrer | |
Familie aus Damaskus floh, über den Sudan und Libyen und dann mit ihren | |
Kind ertrank, gerade als ein Handelsschiff zur Hilfe kam und dann alle | |
Insassen auf die ihm zugewandte Seite rückten und das Boot kenterte? | |
## Fragen bleiben offen | |
Diese Fragen bleiben offen. Aber schon sie zu stellen, enthüllt die | |
Bitterkeit und den Zynismus der europäischen Flüchtlingspolitik. Denn | |
anstatt sich mit der Situation vor Ort zu beschäftigen, wird die Frage nach | |
der Echtheit einer Inszenierung genutzt, um sich nicht mit den echten | |
Effekten von Politik zu beschäftigen. Alle Aktivisten wissen mehr über die | |
Situation auf Sizilien als die Journalisten an diesem Tag auf dem Berliner | |
Friedhof. Nicht einmal kann ein Journalist die Inszenierung durch besseres | |
Wissen aushebeln. | |
Und so werden auch die Widerstrebenden unter den Zuschauern und Gästen zum | |
Teil einer Performance, die immer wieder die Frage aufwirft: Wer ist hier | |
eigentlich geschmacklos? Ihr, die ihr zwar wisst, dass zigtausende Menschen | |
an den EU-Außengrenzen ertrinken und euch bisher nicht für die genauen | |
Umstände interessiert habt? Oder wir, die hinsehen und euch die | |
flächendeckende Ignoranz mit dramatischen Mitteln spiegeln? | |
Die Syrerin soll als „Unbekannte Nr. 2“ auf Sizilien begraben worden und | |
mit Zustimmung des Ehemanns exhumiert worden sein. Ihr Kind wurde nicht | |
gefunden, der zweite Sarg sei nur symbolisch. Das erklärt der Imam Abdullah | |
Hajjir aus Berlin-Moabit und fast hätte er es vergessen. Er ist ein wenig | |
aufgeregt, aber führt die wenigen Trauernden und die vielen JournalistInnen | |
geduldig durch die muslimische Beerdigung, die für viele die erste gewesen | |
sein dürfte. | |
## „Und wer wird uns dann retten?“ | |
Jede seiner Handlungen erklärt er zuvor auf Deutsch. Auch er nennt den | |
Namen der Toten nicht. Ihm ist eine andere Nachricht wichtig: „Das Letzte, | |
was wir einem Menschen unabhängig von seiner Herkunft und Religion geben | |
können, ist eine würdige Beerdigung. Manche Herzen sind blind. Sie sehen | |
nicht die Menschen, sie sehen nur ertrunkene Flüchtlinge. Doch wenn wir den | |
Schutzsuchenden nicht helfen, dann versinken nicht nur die anderen im | |
Krieg, dann ertrinken auch wir im Hass. Und wer wird uns dann retten?“ | |
Die erste Journalistin beginnt zu weinen, die Betroffenheit unter den | |
Profis insgesamt nimmt zu. Wenn das kein Erfolg einer Kunstaktion ist, den | |
häufig als Professionalität bemäntelten Zynismus in der Medienbranche | |
wenigstens für einen Moment zu unterbrechen, was dann? | |
Nach der Beerdigung bilden sich wieder JournalistInnentrauben um die | |
AktivistInnen. Was ist die politische Forderung? „Wir fordern, dass Europa | |
zu einem Einwanderungskontinent wird, dass die Politik diesen Wandel | |
einleitet und organisiert.“ Alle AktivstInnen sagen in etwa das Gleiche, | |
sie sind gut vorbereitet. Und obwohl klar ist, dass es sich hier um eine | |
Inszenierung handelt, sie haben ja nicht umsonst die für das Zentrum für | |
Politische Schönheit typischen Rußspuren im Gesicht, wirkt ihre | |
Betroffenheit und Ernsthaftigkeit glaubhaft und überträgt sich. | |
Allerdings nicht auf alle. Der Fotograf von der BZ zum Beispiel findet: | |
„Gutmenschenscheiße“. – „Hast du eigentlich zugehört?“, herrscht ih… | |
Kollege an. „Ne, bei so was hör ich nicht zu.“ | |
Womöglich hat er es nicht verstanden, aber er hat seine Rolle als zynischer | |
Verteidiger seiner Privilegien gut gespielt. | |
Applaus. | |
16 Jun 2015 | |
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## AUTOREN | |
Ines Kappert | |
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