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# taz.de -- Aktivist über das Leben in Rojava: „Der Krieg wird zum Alltag“
> Die Revolution in Rojava ist ihm eine Herzensangelegenheit, sagt Felix
> Anton. Er lebte drei Jahre in Nordsyrien. Zurück zu kommen sei schwierig.
Bild: Rojava, Oktober 2019: Nach Bombardierungen durch türkische Streitkräfte…
taz: Herr Anton, um die kurdischen Gebiete in Nordsyrien ist es still
geworden in den Nachrichten. Wie ist die Lage dort?
Felix Anton: Ruhig ist es nicht, vielmehr besteht permanent die Gefahr
eines weiteren türkischen Angriffskriegs. In den letzten Wochen gab es
Angriffe der freien syrisch-türkischen Armee, in der vor allem
dschihadistische Gruppen organisiert sind, auf die Kleinstadt Ain Issa.
Dabei sind viele Menschen gestorben. Der Waffenstillstand, der seit Oktober
zwischen Russland, der Türkei und den kurdischen Einheiten gilt, wurde
dadurch gebrochen.
Der IS gilt ja seit März 2019 als besiegt, entspricht das der Realität?
In manchen Regionen ist er noch stark im Untergrund. Vor allem in den
südlichen arabischen Gebieten, die auch unter Selbstverwaltung stehen. Dort
gibt es Schläferzellen, die immer wieder arabische Stammesvertreter
hinrichten. Das gehört ebenso zum Alltag wie türkische Drohnenangriffe.
Zudem sitzen zehntausende gefährliche [1][IS-Gefangene in überfüllten
Lagern, viele davon aus Europa.] Durch den türkischen Angriffskrieg konnten
schon etliche fliehen, eine tickende Zeitbombe, auch für die
Sicherheitslage in Deutschland.
Sie haben drei Jahre in Rojava verbracht. Wo waren Sie genau?
Ich habe vor allem in Dêrik gelebt. Das ist eine multiethnische Stadt im
Osten Rojavas, am Dreiländereck Syrien-Irak-Türkei. Ich war auch eine Zeit
lang in Qamişlo, dem politischen und kulturellen Zentrum von Rojava.
Wie sah Ihre Arbeit aus?
Ich habe an Sitzungen teilgenommen, bei denen versucht wird, alltägliche
Probleme zu lösen. Rojava ist in Kommunen organisiert, da gibt es
Kommissionen für Gesundheit, Kultur, Sicherheit oder Wirtschaft. Als ich im
Dezember 2018 angefangen habe, war klar, [2][dass Erdoğan nochmal angreifen
würde.] Das Hauptthema war also Kriegsvorbereitung, um die Zivilbevölkerung
zu schützen. Wir haben Seminare organisiert, bei denen der Bevölkerung
beigebracht wurde, wie man Spritzen setzt, Schusswunden abklebt, erste
Hilfe leistet. Und Vorräte in den Stadtteilen angelegt, Keller aufgeräumt,
um sie als Bunker nutzen zu können und große Tücher genäht, die zum Schutz
gegen Drohnen über fast allen Straßen hängen.
Das muss sehr belastend sein, ständig den Krieg zu erwarten.
Man gewöhnt sich daran, der Krieg wird zum Alltag. Er ist überall präsent.
In dem Stadtteil Hilêlîye in Qamişlo, wo ich gearbeitet habe, gab es 172
Familien, die Kinder im Kampf verloren haben. Ich hatte auch schöne
Aufgaben: Ich habe ein Sportzentrum für Taekwondo und Kickboxen mit
aufgebaut. Taekwondo ist in Rojava die beliebteste Sportart nach Fußball.
Innerhalb von zwei Wochen waren da 200 Kinder und Jugendliche, davon über
die Hälfte Mädchen. Ich bin gelernter Erzieher, es hat großen Spaß gemacht,
mit den Kids zu trainieren.
Aber auf dem Heimweg mussten Sie aufpassen, nicht von einer Drohne
getroffen zu werden?
Die Sicherheitslage ist nicht so gut in Qamişlo. In der Zeit, als ich dort
gearbeitet habe, sind fünf Motorradbomben explodiert. Du kannst dich nur in
den kurdischen Stadtteilen bewegen, in der Innenstadt ist teilweise noch
der syrische Staat, die Armee und der Geheimdienst. Man muss aufpassen,
dass man nicht entführt wird. Es sind auch schon Mitarbeiter von deutschen
NGOs in Damaskus im Gefängnis aufgewacht.
Trotzdem sind Sie geblieben. Haben Sie keine Angst vor dem Tod?
Jeder hat Angst vor dem Tod. Wer was anderes sagt, lügt. Die Frage ist
aber, wie man damit umgeht.
Wie sind Sie damit umgegangen?
Indem ich wusste, dass ich das Richtige tue. Ich wusste, wenn Dschihadisten
oder die türkische Armee dort einfallen, werden viele Menschen ermordet und
entführt, Frauen vergewaltigt. Und es ist eine sehr kollektive
Gesellschaft. Du bist nie allein, hast nicht diesen Moment wo du allein da
sitzt und überlegst „Was mache ich hier eigentlich?“ Mit Freund*innen und
Genoss*innen setzt man sich über alles auseinander und stärkt sich
gegenseitig.
Wie fand Ihre Familie es, dass Sie in einer Kriegsregion waren?
Ich habe ein gutes Verhältnis zu meiner Familie und habe sie gut darauf
vorbereitet. Außerdem war ich schon immer viel unterwegs. Meine Eltern
haben gemerkt, dass die Revolution in Rojava eine Herzensangelegenheit für
mich ist und mich unterstützt. Als ich zurück nach Deutschland kam, fand
meine Mutter das schade, sie hätte mich gern dort besucht. Es gab auch
schon Delegationen von Müttern, die hingefahren sind.
Können Sie einen normalen Tag in Rojava beschreiben?
Man trinkt sehr viel Tee und redet viel. Anfangs ist das anstrengend, wenn
man aus einer westlichen Gesellschaft kommt und daran gewöhnt ist, ein
eigenes Zimmer und viel Zeit für sich zu haben. In Rojava schläfst du bei
den Familien deines Stadtteils: Es ist normal für die, dass abends jemand
zum Übernachten kommt. Sie freuen sich, laden dich zum Essen ein und sagen
„Ach, bleib doch heute hier, du bist unser Kind.“ Meistens redet man bis
ein, zwei Uhr nachts im Garten oder am Dieselofen.
Wenn die Familien Sie gefragt haben, wie das Leben in Deutschland ist – was
haben Sie geantwortet?
Ich habe versucht, ehrlich zu sein. Von der Natur her ist es ja schön und
nicht so heiß. In Rojava wird es bis zu 50 Grad heiß, der Strom fällt oft
aus, dann gibt es keine Klimaanlage, und es ist sehr staubig. Andererseits
gibt es die soziale und kulturelle Ebene. Im Kurdischen gibt es das Wort
„Civakibûn“. Das heißt Gesellschaftlichkeit. Viele, die zurück nach Euro…
gegangen sind, sind daran kaputtgegangen: Man lebt viel alleine. Es fehlen
soziale und kulturelle Kollektive.
Was gab für Sie den Anstoß, dorthin zu gehen?
Internationalismus bedeutet, Bewegungen in anderen Ländern gleichermaßen
wichtig zu nehmen. In Rojava wird vieles aufgebaut, was meinen politischen
Vorstellungen entspricht – Basisdemokratie, Frauenbefreiung, ein
antikolonialer Kampf gegen Unterdrückung und für Selbstbestimmung. Das hat
mich fasziniert. Wir leben in einer Welt, wo es nicht viele linke Aufbrüche
gibt. In Rojava gibt es einen, deshalb wollte ich da hin.
Wie läuft das, wenn man [3][als freiwilliger Internationalist dort
ankommt], wohin wendet man sich?
Je nachdem, ob man kämpfen will oder nicht, kommt man in eine militärische
oder eine zivile Akademie. Ich war drei Wochen in der zivilen, da bekamen
wir Sprachunterricht, lernten über die kurdische Kultur und die Geschichte
Syriens. Wir waren 22 Personen aus 18 Ländern, der Altersdurchschnitt lag
bei 25. Es gibt jeweils eine gemischte Akademie und eine für Frauen, weil
die kurdische Frauenbewegung eine große Säule im gesellschaftlichen
Aufbruch darstellt. Nach dem Lehrgang wurden wir verteilt auf die Bereiche
Kommunen, Gesundheit, Wirtschaft und Medien.
Konnten Sie sich schnell einleben?
Die Eingewöhnung, wenn man nach Rojava geht, fällt einem leichter, als wenn
man nach Deutschland zurückkommt, weil in Rojava die soziale Komponente
stärker ist. Du wirst permanent aufgefangen. In der kurdischen Gesellschaft
gibt es einen sehr sensiblen Umgang miteinander. In Deutschland muss man
sich wieder daran gewöhnen, seine Zeit alleine zu planen. Wobei ich zugebe,
dass es manchmal ganz schön ist, seine Ruhe zu haben.
Was arbeiten Sie jetzt?
Ich bin im Oktober zurückgekommen und noch im Ankomm-Modus. Ich werde bald
anfangen, für ein gewerkschaftliches Organizing-Projekt im
Gesundheitssektor zu arbeiten. Das erinnert mich an die Arbeit in Rojava,
weil es auch um gesellschaftliche Selbstorganisierung geht. Aber ich muss
mich noch an die gesellschaftliche Probleme hier gewöhnen. In der
Wohlstandsgesellschaft wirken die Probleme kleiner, aber sie sind auch
real, man muss sie ernst nehmen.
Was fällt Ihnen an der deutschen Gesellschaft auf, das Ihnen vorher nicht
aufgefallen ist?
Dass wir unflexibel sind. Das Verhältnis von Zeit, Plan und Pünktlichkeit –
das funktioniert woanders nicht. In Rojava habe ich gemerkt, wie sehr ich
das verinnerlicht habe. Diese Gesellschaftlichkeit, das Teetrinken und sich
unterhalten, fiel mir schwerer als Internationalist*innen aus
anderen Ländern. Ich bin von protestantischem Arbeitsethos getrieben, das
geht den meisten Deutschen ja so. Wir sind ein bisschen kalt, sehr
rational. Meine emotionale Seite habe ich dort kennengelernt.
Was erleben Sie noch anders, seit Sie zurück sind?
Bevor ich zurückkam, war mir nicht klar, wie stark die Stimmung des
Rechtsrucks ist. Natürlich habe ich die Medien verfolgt, aber wie gut
Rechte vom Untergrundnetzwerk bis zum Parlament organisiert sind, hat mich
erschüttert. Was man dagegen machen kann, ist, die soziale Frage zu
stellen.
Wann gehen Sie zurück nach Rojava?
Im Moment ist der Grenzübertritt schwierig. Das liegt auch am
innerkurdischen Konflikt. Man muss [4][nach Nordirak fliegen.] Wenn es mal
eine Delegation gibt, wo man Journalist*innen oder Politiker*innen
oder Menschenrechtsorganisationen begleiten kann, wäre ich dabei. Aber dort
leben möchte ich erst mal nicht, ich will hier wieder ankommen.
Warum haben Sie sich entschieden, zurückzukommen?
Ich war an einem Punkt, wo ich entscheiden musste, entweder zu gehen oder
aber sehr lange dort zu bleiben – dann wird es irgendwann schwierig,
zurückzukommen. Ich habe hier Freund*innen und Familie und wollte die
Kontakte nicht abbrechen lassen. Es war eine soziale Entscheidung, aber ich
spüre auch die Verantwortung, hier etwas zu machen. Ich glaube nicht an
Sozialismus nur in einem Land. Das wird scheitern. Daher ist der Kampf um
Selbstbestimmung in Kurdistan verbunden mit linken Ideen in Europa.
Was können die Klimabewegung oder andere soziale Bewegungen von Rojava
lernen?
Eine Menge. Zum Beispiel Ganzheitlichkeit, also dass man nicht versucht,
Teilbereiche sozialer Bewegungen voneinander zu trennen. In Rojava verfolgt
man statt Spaltungen lösungsorientierte Herangehensweisen. Man redet nicht
so viel übereinander, sondern miteinander. Hierzulande geht es in linken
Bewegungen oft um Anerkennung, die eigene Person, vieles ist von Ängsten
getrieben. Dort herrscht trotz des Kriegs eine positive Grundstimmung,
Hoffnung und der Antrieb, gemeinsam etwas zu erreichen. Dabei helfen auch
eine große Kompromissbereitschaft und ein gewisser Pragmatismus.
8 Feb 2021
## LINKS
[1] /Anwalt-ueber-Angehoerige-von-IS-Frauen/!5717842
[2] /Internationale-Schutzzone-fuer-Nordsyrien/!5634952
[3] /Deutsche-kaempfen-in-Rojava/!5647520
[4] /Entfuehrte-Jesidinnen-im-Nordirak/!5557165
## AUTOREN
Katharina Schipkowski
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