# taz.de -- Aktionstag Schichtwechsel in Berlin: Werkstatt ist Hertha | |
> Der eine verdient 114 Euro im Monat, der andere 100.000: Ein Aktionstag | |
> sorgt für Begegnungen zwischen freier Wirtschaft und | |
> Behindertenwerkstätten. | |
Bild: Hertha-Spieler Niklas Stark, Alexander Esswein und Per Skjelbred (v.l.) b… | |
BERLIN taz | „Man sieht, dass du das mit Herzblut machst“, sagt | |
Profifußballer Alexander Esswein zu dem Fahrradmechaniker in der | |
Behindertenwerkstatt L-Werk. Für einen Vormittag sind der Erstliga-Spieler | |
und zwei seiner Hertha-Kollegen hier, um in den Arbeitsalltag einer | |
Behindertenwerkstatt reinzuschnuppern. | |
Ob der Fußballer denn wisse, was die Menschen hier für ihre Arbeit | |
bekommen, fragt die Reporterin. Als der erfährt, dass das eher ein | |
Taschengeld als echtes Gehalt ist, bleibt Esswein zwei Minuten still. Und | |
fragt dann, in Richtung des Mechanikers: „Und wie viel arbeitest du dafür?“ | |
Sechs Stunden am Tag, fünf Tage die Woche, sagt der Mann und kramt seinen | |
Gehaltszettel aus einer Schublade: 113,96 Euro steht darauf. „Verkehrte | |
Welt“, sagt der Fußballer. | |
Beim Aktionstag „Schichtwechsel“ tauschen Menschen aus unterschiedlichsten | |
Berufen einen Tag lang ihren Arbeitsplatz mit Menschen, die in | |
Behindertenwerkstätten arbeiten. Das Ziel: „Begegnungen, die Vorurteile | |
abbauen und Wertschätzung für die Arbeit der Beschäftigten in Werkstätten | |
bringen“, sagt Bettina Neuhaus, die Geschäftsführerin der | |
Landesarbeitsgemeinschaft der Berliner Werkstätten für Menschen mit | |
Behinderung. Über 100 Unternehmen, Stiftungen und Behörden beteiligen sich. | |
Den medienwirksamen Auftakt machten am Montag die drei Hertha-Spieler | |
Esswein, Niklas Stark und Per Skjelbred. | |
## Die Stimmung ist bestens | |
Nach ihrem Einsatz in der Fahrradwerkstatt geben die Fußballer noch eine | |
Frage- und Fotorunde in der Kantine der Behindertenwerkstatt. Eine Menge | |
Schals und Trikots in Blau-Weiß: so ziemlich alle Hertha-Fans der Berliner | |
Behindertenwerkstätten dürften sich versammelt haben. Die Stimmung ist | |
bestens und schraubt sich zu Fangesängen hoch, als die drei | |
Bundesliga-Spieler versprechen, im kommenden Lokal-Derby Union | |
plattzumachen. Und doch geht es nicht nur um Fußball. „Könnt ihr nicht euer | |
Geld an die Behindertenwerkstätten geben?“, fragt eine Frau die | |
Hertha-Spieler. Ernst nimmt den Vorschlag natürlich keiner, aber er hat | |
einen ernst zu nehmenden Kern. Das Thema Bezahlung ist immer wieder | |
Diskussionsstoff in den Werkstätten. | |
17 Träger von Behindertenwerkstätten gibt es in Berlin. Ihre rund 8.600 | |
Auszubildenden und Beschäftigten reparieren Fahrräder, montieren Teile für | |
große und kleine Unternehmen, arbeiten in Großwäschereien, Gärtnereien, | |
Druck- und Kunstwerkstätten. Rechtlich sind die Beschäftigten der | |
Werkstätten keine Arbeitnehmer, ihr Status ist „arbeitnehmerähnlich“. In | |
den Werkstätten genießen sie besonderen Schutz und Betreuung. Aber sie | |
müssen auch „ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung�… | |
erbringen und dürfen nicht zu viel Pflege oder Betreuung beanspruchen. Für | |
ihre Tätigkeit erhalten die Beschäftigten ein Arbeitsentgelt von wenigen | |
hundert Euro. | |
Es gibt sehr grundsätzliche Kritik am System der Werkstätten. Das Deutsche | |
Institut für Menschenrechte überwacht die Einhaltung der | |
UN-Behindertenrechtskonvention und hat in einem Positionspapier die | |
Schaffung eines inklusiveren Arbeitsmarkts angemahnt, der die | |
Behindertenwerkstätten als ausschließendes System letztlich überflüssig | |
macht. Tatsächlich sind die Zahlen der Beschäftigten in | |
Behindertenwerkstätten seit Inkrafttreten der UN-Konvention 2009 aber | |
gestiegen – die Beschäftigungsquote schwerbehinderter Menschen auf dem | |
ersten Arbeitsmarkt ist dauerhaft niedrig. Es gibt, auch in Berlin, | |
vielversprechende Beispiele für inklusive Unternehmen und | |
Ausbildungskonzepte. Aber sie bleiben die Ausnahme, für die allermeisten | |
der Beschäftigten in Behindertenwerkstätten ist die Arbeit dort | |
alternativlos. | |
## „Lohn aus einer Hand“ | |
Marco Bukschat ist gewählter Mitarbeitervertreter in der Werkstatt, die die | |
Hertha-Spieler besucht haben. Er ist an Multipler Sklerose erkrankt und | |
schätzt die größere Freiheit, die die Werkstatt ihren MitarbeiterInnen | |
gibt. „Der Druck draußen macht die Leute noch kränker.“ Aber das Problem | |
der Bezahlung sieht auch er. Die Wirtschaftsunternehmen brächten ihre | |
Sachen zur Montage in die Werkstatt, aber bezahlt werden die Mitarbeiter | |
nicht wie „draußen“. „Das hat auch einen Ausbeutungscharakter“, so | |
Bukschat. | |
Fast alle Menschen, die in Werkstätten arbeiten, beziehen zusätzlich | |
Sozialhilfe. „Das fühlt sich einfach falsch an“, sagt auch Bettina Neuhaus. | |
Aber die Werkstätten hätten kaum Spielraum, jeden zusätzlichen Verdienst, | |
auch Urlaubs- oder Weihnachtsgeld bekämen die Beschäftigten sofort von der | |
Sozialhilfe abgezogen. Schon lange forderten die Werkstätten den „Lohn aus | |
einer Hand“: Der würde zwar weiter vom Staat bezuschusst, aber direkt von | |
der Werkstatt ausgezahlt. Auch die Einhaltung des Mindestlohns für die | |
effektiv geleisteten Arbeitsstunden ist im Gespräch. Die Bundesregierung | |
wurde vor wenigen Monaten mit einem „Entschließungsantrag“ beauftragt, das | |
bestehende Entgeltsystem in den Werkstätten binnen der nächsten vier Jahre | |
auf den Prüfstand zu stellen. „Jetzt hoffen wir endlich auf ein Berliner | |
Modellprojekt“, sagt Neuhaus. „Warum nicht schon im kommenden Jahr?!“ | |
Am heutigen Aktionstag findet indes nicht nur der Gegenbesuch bei Hertha | |
statt, auch mit Arbeitssenatorin Elke Breitenbach (Linke) tauscht die | |
Beschäftigte einer Behindertenwerkstatt den Arbeitsplatz – für eine | |
Revolution des Werkstattsystems wird das wohl nicht reichen. Aber, so heißt | |
es aus dem Haus der Senatorin: „Wir sind auch für den Lohn aus einer Hand | |
und fordern den Bund auf, die Voraussetzungen dafür zu schaffen.“ | |
24 Oct 2019 | |
## AUTOREN | |
Manuela Heim | |
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