| # taz.de -- Kampf um die Hallenmeisterschaft: Leistungsprinzip inklusive | |
| > In der Scandic-Liga, Berlins Fußballliga für Menschen mit geistiger | |
| > Behinderung, wird ausprobiert, wie Wettbewerb mit Inklusion geht. | |
| Bild: Das Team von SG Neukölln hat bei der Hallenstadtmeisterschaft der Scandi… | |
| Während sich die Spieler der SG Neukölln in der Sporthalle am Velodrom | |
| gerade warmmachen, tigert Manuel Mutz um sie herum – er will begutachten, | |
| wer heute in Form ist. Mutz, Trainingsanzug, weiße Turnschuhe, schicke | |
| Brille und etwas Grau im gegelten Haar, hat ein Problem: Er hat einen | |
| großen Kader, kann aber nur fünf Leute aufstellen. Und so muss sich Mutz an | |
| diesem Tag die Grundsatzfragen der Scandic-Liga stellen, Berlins | |
| Fußballliga für Menschen mit geistiger Behinderung. Wie kann er ein | |
| konkurrenzfähiges Team aufstellen und dabei trotzdem keinen Spieler zu kurz | |
| kommen lassen? Oder allgemeiner formuliert: Wie passen das Leistungsprinzip | |
| des Sports und Inklusion zusammen? | |
| Die Scandic-Liga versucht den Spagat: Zum einen sollen sich hier Spieler, | |
| die sonst keinen Anschluss finden, messen können. Gleichzeitig soll es | |
| allen Spaß machen. Kein einfaches Vorhaben. Denn in der Liga spielen ebenso | |
| wettbewerbsorientierte Spitzenteams wie solche, bei denen eher die Freude | |
| am Sport im Vordergrund steht. Darum gibt es mit der Bezirks- und | |
| Landesliga verschiedene Spielstaffeln. | |
| Es ist die Gretchenfrage des Behindertensports: Wer darf mitspielen? Bei | |
| der deutschen Behindertennationalmannschaft wird streng ausgesiebt: Nur wer | |
| einen IQ unter 75 hat, darf antreten. Das Leitungsteam der Scandic-Liga | |
| wollte sich bei der Gründung 2009 eher an den Mannschaften orientieren, die | |
| es in Berlin bereits gab. Da spielten Menschen mit Lernbeeinträchtigung, | |
| attestierter geistiger Behinderung und Jugendhilfebedarf zusammen. | |
| Letzterer wird festgestellt, wenn Kinder oder Jugendliche in ihrer | |
| Entwicklung beeinträchtigt werden und zusätzliche Unterstützung | |
| erforderlich ist. So wurden diese drei Kriterien zur Grundlage für die | |
| Vergabe eines Spielerpasses: „Uns war wichtig, dass wir – mit Pässen und | |
| externen Schiedsrichtern – einer anderen Liga in nichts nachstehen“, | |
| erklärt Nils Schildhauer, Initiator der Liga. | |
| Als nach den Migrationsbewegungen zuletzt viele Geflüchtete anfragten, ob | |
| sie mitspielen können, schufen die Organisatoren eine Härtefallregelung: | |
| Nun können Trainer eine Begründung schreiben, warum es für einzelne Spieler | |
| wichtig ist, in der Scandic-Liga mitzuspielen, obwohl sie keine der drei | |
| genannten Kriterien erfüllen. „Da kamen einige Trainer und beschwerten | |
| sich: Jetzt darf hier ja jeder mitspielen“, sagt Schildhauer. „Da sind wir | |
| beim Thema Inklusion.“ | |
| ## Braucht es doch einen geschützten Bereich? | |
| Kaum ein Wort ist seit Jahren so sehr Maßgabe im Behindertenbereich wie | |
| „Inklusion“. Das Problem dabei: In der Praxis ist die Sache wesentlich | |
| komplexer, als es sich zunächst anhört. Was heißt denn Inklusion im Sport? | |
| Dass behinderte Menschen gegen nichtbehinderte Menschen antreten? Und ist | |
| das fair? Oder braucht es doch einen geschützten Bereich? Im Falle | |
| perfekter Inklusion wäre eine eigene Scandic-Liga nicht notwendig. | |
| „Aber da sind wir relativ weit weg von“, sagt Schildhauer: „Bei uns spiel… | |
| Menschen mit Lernbehinderung gemeinsam mit Menschen mit Down-Syndrom, das | |
| ist unsere Inklusion.“ | |
| Das funktioniert. Ärger gab es zuletzt, als mehreren Teams der untersten | |
| Spielklasse der Spaß verging, weil sie stets hohe Niederlagen einsteckten. | |
| Neben den gegebenen Leistungsunterschieden heizten auch einige Betreuer die | |
| Konkurrenz an. | |
| SG Neukölln-Trainer Mutz hat dafür kein Verständnis: „In den oberen Klassen | |
| kann ich schreien,Macht noch das 20:0, das ist gut fürs Torverhältnis.' | |
| Aber doch nicht in der Bezirksliga“, meint er. „Meine Jungs schauen traurig | |
| auf die Tabelle und sagen: Jetzt bin ich Letzter – ist doch scheiße.“ | |
| Mutz beschwerte sich bei der Liga. Wenn es so weitergehe, trete er aus. Bei | |
| einer Krisensitzung einigten sich Liga und Trainer, in der untersten | |
| Spielklasse ohne Punkte zu spielen. Außerdem können Betreuer ab sofort ein | |
| Time-Out nehmen, um mit dem anderen Trainer zu sprechen, wenn ein Spiel mal | |
| wieder aus dem Ruder läuft. | |
| Um das in Ruhe zu erklären, hat Manuel Mutz an seinen Arbeitsplatz in eine | |
| Werkstatt des Vereins für Jugendhilfe (VfJ) eingeladen. Er zeigt stolz die | |
| Maschinen: „Das ist wirklich allermodernste Technik. Man denkt ja immer so: | |
| Behindertenwerkstatt – da filzen die irgendwas.“ | |
| Mutz dachte das auch bis vor fünf Jahren. Da war der gelernte | |
| Werkzeugmacher seinen alten Job bei einem Autozulieferer nach fast 25 | |
| Jahren leid: „Es ging immer nur um mehr Geld. Noch größer, weniger | |
| Personal, mehr Leistung.“ Mutz stieg auf zum Produktionsleiter und wollte | |
| raus aus der Stressroutine. Er bewarb sich in der VfJ-Werkstatt und sein | |
| Leben ändert sich: „Vorher war ich platt, als ich nach Hause kam – nur noch | |
| Couchpotato.“ Jetzt macht der 49-Jährige nach der Arbeit das | |
| Fußballtraining. Seine Begeisterung ist ansteckend. „Ich spiele immer | |
| selber mit.“ So können die Spieler sehen, dass ihm auch nicht alles gelingt | |
| – „und das ist doch eigentlich gut“. | |
| ## Weiter nach dem Konkurrenzprinzip | |
| Zurück in der Sporthalle. Die SG Neukölln von Mutz tritt gegen | |
| Unionhilfswerk an. Während Mutz’ Team die Positionen einnimmt, sitzt auf | |
| der anderen Seite Unionhilfswerk-Trainer Marko Lehmann – lange braune | |
| Haare, groß, Ausstrahlung: gemütlich, die Dinge locker angehen. | |
| Etwas zu locker haben es seine Spieler mit dem Termin gesehen, deswegen | |
| fehlen Unionhilfswerk an diesem Tag wichtige Spieler. „Das wird so nix“, | |
| resümiert Lehmann resigniert. Es kommt so, wie er befürchtet hat, nach 25 | |
| Sekunden steht es 1:0 für die SG Neukölln. „So, jetzt hat unser Torwart die | |
| Rückpassregel vergessen, na ja“, kommentiert Lehmann mit einem „Was soll | |
| man machen“-Blick, als sein Torwart fälschlicherweise den Pass eines | |
| Mitspielers mit der Hand aufnimmt. | |
| Lehmann weiß von den Änderungen in der Bezirksliga, wünscht sich jedoch, | |
| dass die obere Liga weiter nach dem Konkurrenzprinzip funktioniert. „Das | |
| ist hier nicht so ne Beschäftigungsmaßnahme. Meine Jungs schauen auf die | |
| Tabelle und wollen, dass es um Punkte geht. Die Liga ist super so, wie sie | |
| ist. In der Schule gibt’s auch am Anfang keine Noten – aber irgendwann ist | |
| dann auch mal Schluss.“ | |
| Dabei starten die einzelnen Vereine mit doch recht unterschiedlichen | |
| Bedingungen – wie in der Schule. Manche Trainer wie Mutz machen das | |
| ehrenamtlich, andere wie Lehmann bekommen Arbeitszeit angerechnet, wieder | |
| andere sind sogar Vollzeit beschäftigt – so wie bei der BWB, den Berliner | |
| Werkstätten für Behinderte, bereits mehrfacher deutscher Meister der | |
| Werkstätten. | |
| ## Manche haben einfach bessere Bedingungen | |
| Die BWB-Trainer scouten in der Liga gute Spieler und werben sie ab. Lehmann | |
| findet das okay: „Von mir sind schon mehrere Spieler gewechselt, aber ich | |
| möchte da den Spielern keine Steine in den Weg legen, die haben bei der BWB | |
| einfach die besten Bedingungen.“ | |
| Auch im Spiel gegen SG Neukölln reicht es Unionhilfswerk nicht. 2:0 geht | |
| die Partie verloren. Achselzuckende Enttäuschung in Grün. Souveräne Freude | |
| in Blau-Weiß. Auch beim 19-jährigen Torschützen Justin Schulze. | |
| Schulze ist spielerisch so stark, dass er auch in einer „normalen“ Liga | |
| mithalten könnte. „Natürlich hab ich überlegt, in andere Vereine zu gehen�… | |
| erzählt der großgewachsene Spieler. Aber: „Im richtigen Verein geht es dann | |
| wieder gegeneinander. Konkurrenz. Da heißt es dann: Ah, der hat eine | |
| Schwerbeschädigung.“ Schnell sei man außen vor. | |
| Deswegen ist Justin Schulze der Scandic-Liga treu geblieben. Das hat auch | |
| etwas damit zu tun, was der Abiturient dem Behindertensport zu verdanken | |
| hat. Mit 7 Jahren beginnt er zu kicken. Schulze hat ADHS. „Ich war in der | |
| Schule immer so hibbelig.“ Beim Training kann er sich auspowern. Aber nicht | |
| nur das: Beim SC Lebenshilfe, wo er mit dem Fußball beginnt, „habe ich mich | |
| sofort willkommen gefühlt, nie wie sonst als das fünfte Rad am Wagen“. | |
| Über die Jahre entwickelt sich Schulze zum Führungsspieler, auch weil er | |
| ein Gefühl für unterschiedliche Leistungsniveaus hat. Wenn andere nicht | |
| mithalten können, ist es für ihn trotzdem wichtig, dass sie dabei sind. | |
| „Das ist doch einfach geil, da spielen Leute mit mehr und weniger | |
| Beeinträchtigung und niemanden interessiert das.“ | |
| Gerechtigkeit ist ihm ganz wichtig. Deswegen hat Schulze zwei Kritikpunkte | |
| an der Liga, die er sonst lobt. Zum einen „wäre das ja völlig verrückt, | |
| wenn man jetzt in der Liga sagen würde: du bist nicht behindert, du gehörst | |
| hier nicht rein.“ Das sei diskriminierend gegenüber den Behinderten, weil | |
| man ihnen nicht zutraut, mit den anderen zu spielen. Er lehnt auch die | |
| Ohne-Punkte-Regelung für die Bezirksliga ab: „Man deklassiert die Leute. | |
| Entweder spielen alle mit Punkten oder keiner. Wir sind doch eine Liga.“ | |
| ## Der Grat der Transparenz | |
| Was könnte eine Spielform sein, die alle mitnimmt? Im Behindertensport wird | |
| zuletzt viel ausprobiert. In sogenannten Unified-Ligen spielen Menschen mit | |
| und ohne Behinderung gemeinsam. Dabei tragen die Spieler verschiedene | |
| Armbinden, je nachdem, ob sie eine Behinderung haben oder nicht. Der Grat | |
| zwischen Transparenz und Zurschaustellen ist manchmal ein schmaler. | |
| Und es bleiben Grundsatzfragen: Wer spielt freiwillig zu einem Mitspieler | |
| ab, der den Ball höchstwahrscheinlich nicht trifft? Dem Problem will ein | |
| EU-Pilotprojekt entgegenwirken: Beim Integrated Football werden die Spieler | |
| in Leistungstests in Kategorien eingestuft. Auf dem Platz dürfen die | |
| Spieler der höchsten ausschließlich Spieler derselben Kategorie angreifen | |
| und nur dreimal pro Viertelspielzeit aufs Tor schießen – sodass auch | |
| Spieler der niedrigeren Kategorien einbezogen werden. | |
| Bei der Scandic-Hallenmeisterschaft bleiben an diesem Spieltag auch so die | |
| unfairen Ergebnisse aus – dank der kurzen Spielzeit. Das Team von Trainer | |
| Mutz und Spielmacher Schulze landet auf Platz zwei. Die Rückrunde um den | |
| Titel des Hallenstadtmeisters wird am 8. Februar ausgespielt. | |
| 4 Feb 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Fabian Grieger | |
| ## TAGS | |
| Inklusion | |
| Behindertensport | |
| Fußball | |
| Hamburg | |
| Behindertensport | |
| Behindertensport | |
| Inklusion | |
| Andreas Geisel | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Hamburgs inklusive Handball-Liga: Ein Gewinn für alle | |
| Freiwurf Hamburg ist die erste inklusive Handball-Liga in Deutschland. Der | |
| Leistungsvergleich wird durch ein eigens entwickeltes Regelwerk möglich. | |
| Blindentennis in Deutschland: Titsch, Satz und Sieg | |
| Kein Sport erzeugt so ästhetische Geräusche wie Tennis, sagt Christiane | |
| Kaplan. Die blinde Spielerin hört jeden Topspin. | |
| Arno Reglitzky über Behindertensport: „Hinterher alle begeistert“ | |
| Blau-Weiß Buchholz hat den Werner-Otto-Preis für sein Sportangebot für | |
| Menschen mit Behinderung bekommen. Vorsitzender Arno Reglitzky erklärt, | |
| warum. | |
| Aktionstag Schichtwechsel in Berlin: Werkstatt ist Hertha | |
| Der eine verdient 114 Euro im Monat, der andere 100.000: Ein Aktionstag | |
| sorgt für Begegnungen zwischen freier Wirtschaft und | |
| Behindertenwerkstätten. | |
| Sport-Großveranstaltung: „Als Plattform für Inklusion nutzen“ | |
| Senat beschließt Konzept für die Special Olympics. Die Weltspiele der | |
| Sportler mit geistiger Behinderung kommen 2023 nach Berlin. |