# taz.de -- Blindentennis in Deutschland: Titsch, Satz und Sieg | |
> Kein Sport erzeugt so ästhetische Geräusche wie Tennis, sagt Christiane | |
> Kaplan. Die blinde Spielerin hört jeden Topspin. | |
Bild: Andre Agassi hat Christiane Kaplan zum Tennis gebracht | |
ROSTOCK taz | Der Ball titscht auf, einmal, zweimal, dreimal. Christiane | |
Kaplan holt aus, trifft ihn knapp über dem Boden, er streift das Netz, | |
verliert an Schwung. Trainer Hanning Diederich steht zu tief im Court, um | |
ihn zu erwischen. „Du musst dich entschuldigen, Christiane“, sagt er. „N�… | |
sagt sie. „Verlangt aber die Etikette“, sagt Diederich. „Ich entschuldige | |
mich doch nicht für etwas, das mich glücklich macht“, sagt Kaplan. „Das | |
nächste Mal machst du ein trauriges Gesicht, sagst Entschuldigung und | |
freust dir ein Loch in den Bauch, okay?“ Sie nickt lachend, weiß aber auch, | |
dass dieser Ball unter Wettkampfbedingungen problemlos rübergeflogen wäre. | |
Doch das niedrigere rote Netz steht heute in der Ecke. Keine Gnade für | |
Christiane. | |
Eine Tennishalle in Rostock. Ein blauer Court, die weißen Linien sind mit | |
Klettbändern abgeklebt. Christiane Kaplan spielt Blindentennis, wo die | |
Linien sind, spürt die 45-Jährige unter ihren Füßen. Die Bälle verfolgt sie | |
mit ihrem Gehör. Es sind Spezialanfertigungen aus Schaumstoff, im Inneren | |
steckt ein ausgehöhlter Golfball, in dem Metallspäne rasseln. | |
[1][Blindentennis] wird auf einem verkürzten Platz gespielt, mit kürzeren | |
Schlägern und einem niedrigeren Netz. Die Zählweise ist die gleiche wie | |
beim Tennis für Sehende, nur darf der Ball mehrfach aufspringen, ehe die | |
Spieler:innen retournieren müssen. Bei blinden Menschen dreimal, bei | |
Sehbehinderten zweimal. | |
Vor Turnieren werden die Teilnehmer:innen in Startklassen eingeteilt. | |
Viele haben unterschiedliche Restsehstärken. In der Klasse B1 wird komplett | |
blind gespielt, die Spieler:innen müssen daher Dunkelbrillen tragen. In | |
die Klassen B2 bis B4 werden die Spieler:innen nach ihren Restsehstärken | |
eingestuft. Christiane Kaplans Brille liegt heute auf der Bank am Rande des | |
Felds, neben ihrem Mann Pavel. Er erholt sich von seiner eigenen | |
Trainingseinheit. Auf einer Yogamatte hechelt Blindenhündin Emilia. Die | |
anrollenden Schaumstoffkugeln lässt der Golden Retriever gleichgültig an | |
sich vorbeirasseln. | |
Die Bälle kosten im Schnitt acht Euro und kommen allesamt aus Japan. Japan | |
ist das Mutterland des Blindentennis, ein Mann namens Miyoshi Takei hat es | |
in den späten Achtzigern als Teenager in der Nähe von Tokio erfunden. Ein | |
paar Jahre später organisierte er erste nationale Turniere und wurde in | |
seinem Leben schließlich siebzehnmal japanischer Meister. | |
Ungefähr zur selben Zeit, als Takei in seinem Jugendzimmer saß und | |
versuchte, einen Ball zu entwickeln, der Geräusche macht und nicht wehtut, | |
wenn man ihn mit voller Wucht abbekommt, entdeckte Christiane Kaplan Tennis | |
für Sehende. Genauer gesagt stieß sie auf Andre Agassi, für dessen | |
Verschmitztheit und Vokuhila ihre große Schwester Suse damals schwärmte. | |
Suse hängte sich Agassi-Poster aus der Bravo ins Zimmer und brachte | |
Christiane dazu, sich mit ihr gemeinsam seine Matches anzuschauen. Anders | |
als in Westdeutschland gab es in der DDR [2][nie einen Hype um Tennis], es | |
war als elitär verpönt. Mit seinen knalligen Klamotten und dem rebellischen | |
Image schaffte es der ganz und gar nicht bourgeois wirkende Andre Agassi, | |
die Schwestern vor den Fernseher zu locken. Während Suse sich irgendwann an | |
Agassi satt sah, drehte Christiane, fasziniert von den Geräuschen, den Ton | |
ganz laut auf. | |
„Dieses regelmäßige sanfte plock, plock, plock, das Gerutsche auf dem Sand, | |
die Ansagen des Schiedsrichters, nervöse Unruhe im Publikum, das Ächzen der | |
Spieler“, sagt Kaplan. „Ich höre, wenn der Ball einen Schnitt hat, dann | |
macht er phew statt bumm beim Aufprall. Ich höre, wie sauber er getroffen | |
wurde, ob es ein Rahmenball ist, ob er im Feld, auf der Linie oder im Aus | |
gelandet ist.“ Keine andere Sportart würde so ästhetische Geräusche | |
erzeugen, sagt sie. Außer Springreiten vielleicht. Bei einem Tennisturnier | |
in Spanien beschrieb sie einmal einer sehbehinderten Bekannten, die neben | |
ihr saß, den Spielverlauf. „Die hat mich ganz entgeistert gefragt, welche | |
Sehklasse ich nochmal habe“, erzählt Kaplan. „Die war sich plötzlich nicht | |
mehr sicher, ob ich wirklich blind bin.“ | |
Christiane Kaplan liebte es schon als Kind, sich zu bewegen. Sie machte | |
Leichtathletik, schwamm, lief im Winter auf dem See Schlittschuh und fuhr | |
mit dem Schlitten zu Hause die Treppe runter. Aber Ballspiele lagen ihr am | |
meisten. Als junges Mädchen konnte sie noch ein bisschen sehen, mit zwölf | |
Jahren änderte sich das. Kaplan war von nun an blind und wurde im Internat | |
von Sportstufe 3 auf Sportstufe 1 heruntergestuft. „Das bedeutete nur noch | |
Gymnastik, und das hat mir wirklich gar keinen Spaß gemacht.“ Weil sie | |
nicht mal Kugelstoßen durfte, ließ sie sich eine Sportbefreiung ausstellen | |
und baute sich im Wohnzimmer ihrer Eltern einen eigenen Mini-Tennisplatz. | |
„Ich habe das Sofa so verrückt, dass mir die Tennis- oder Tischtennisbälle | |
nicht entwischen können und sie stundenlang gegen die Wand geschlagen.“ Und | |
sie verpasste nie wieder ein großes Turnier – als erwachsene Frau nahm | |
Kaplan sich für die Grand Slams Urlaub. „Von nachts um 1 bis mittags um 2 | |
hab ich Tennis geguckt und mich dann schlafen gelegt“, sagt sie. | |
Irgendwann entdeckte sie im Internet Blindentennis, fand heraus, dass es | |
nicht nur in Asien, sondern auch in Großbritannien eine Infrastruktur für | |
diesen Sport gibt. Also Vereine, die sich auskennen, regelmäßige Turniere, | |
Trainer:innen-Seminare, eine Liga. 2012 wendete sie sich an den Deutschen | |
Blinden- und Sehbehindertenverband und den Deutschen Tennisbund. Beide | |
Verbände waren etwas überrumpelt von dieser Anfrage, lange passierte | |
nichts. Dann, vier Jahre später, organisierte Niklas Höfken, ein junger | |
Referent für Behindertensport beim DTB, einen Workshop für Blindentennis in | |
Köln. Die Kontakte zu britischen Trainerinnen hatte Kaplan vermittelt. | |
Christiane und Pavel Kaplan fuhren also nach Nordrhein-Westfalen und fanden | |
sich mit Schläger in der Hand in einer Tennishalle wieder. „Als ich den | |
Ball das erste Mal getroffen und übers Netz bekommen habe, das war schon | |
sehr cool, sogar oben von der Galerie haben sie geklatscht.“ | |
„Diesmal hat’s geklappt mit dem Schritt, mit der Höhe“, sagt Trainer | |
Hanning Diederich. „Aber da fehlt noch so ein bisschen die Explosivität | |
nach vorne.“ Das Wort Explosivität fällt oft, Kaplan denkt heute zu viel | |
nach. Beim Blindentennis passiert das schnell, denn bis der Ball für den | |
Return geortet ist, vergehen drei Titsche. Viel Zeit, um zu grübeln, statt | |
instinktiv draufzuhalten. „Ich bin eine Denkerin, ein Kopfmensch“, sagt | |
Kaplan. „Und manchmal ist der Ball schon an mir vorbei, während ich noch | |
überlege.“ | |
Beim ersten Aufprall hört sie den Speed, beim zweiten findet sie heraus, in | |
welchem Vektor sie stehen sollte, beim dritten muss ihr klar sein, wie sie | |
den Ball schlägt und dann wird bestenfalls sauber getroffen. | |
„Das ist wirklich unheimlich schwierig“, sagt Trainer Diederich. Er ist | |
seit Jahrzehnten Tenniscoach und hätte nicht für möglich gehalten, dass er | |
mit fast 70 nochmal an seiner Herangehensweise rütteln muss. „Das war für | |
Christiane und mich ein Lernprozess“, sagt er. Diederich achtet anders als | |
bei den sehenden Schüler:innen mehr auf die Füße und den Oberkörper. Die | |
Bälle werden von so tief über dem Platz hochgehebelt, dass es eine wirklich | |
gute Haltung braucht. „Sonst geht das sofort in den Rücken.“ | |
In Deutschland ist Christiane Kaplan eine von nur vier Spielerinnen, bei | |
den Männern gibt es viel mehr. Mittlerweile ist sie internationale | |
Sprecherin und hat einige Turniere mitorganisiert. Kaplan steht auf Rang | |
zwei der Bestenliste, ihre stärkste Konkurrentin hat sie sich selbst | |
geschaffen. „Ich hab’ Bianca in diesen Sport reingequatscht und jetzt ist | |
sie besser als ich.“ Bianca spiele intuitiver, habe dieses Killergen. „Das | |
fehlt mir einfach, dafür bin ich viel zu entspannt.“ Aber sie arbeitet | |
dran, möchte auf positive Art verbissener werden. Sich für Netzroller nicht | |
zu entschuldigen, ist vielleicht ein Anfang. | |
24 Jul 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.dbsv.org/verbund-blindentennis-deutschland.html | |
[2] /Grosse-Sportevents-zur-selben-Zeit/!5779195 | |
## AUTOREN | |
Leonie Gubela | |
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