# taz.de -- Afghanistan-Untersuchungsausschuss: Die Fragen bleiben | |
> Seit 18 Monaten analysiert ein Untersuchungsausschuss den Truppenabzug | |
> aus Afghanistan. Ab Donnerstag dürfte es im Gremium politischer werden. | |
Bild: Eine Bundeswehrmaschine nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul am … | |
BERLIN taz | Dann ist da doch eine Gedächtnislücke bei der ehemaligen | |
deutschen Botschafterin in Washington. Sie könne sich nicht mehr daran | |
erinnern, sagt Emily Haber, ob sie der Bundesregierung | |
Handlungsempfehlungen bezüglich ihrer Afghanistan-Politik gegeben habe. | |
Eben hatte die ehemalige Botschafterin minutiös dargelegt, weshalb sie | |
Berlin in einem Kabelbericht am 6. August 2021 dringend darüber in Kenntnis | |
setzen wollte, dass in den USA Planungen liefen: für den Fall, dass die | |
afghanische Regierung dem Vormarsch der Taliban nicht standhalten würde. | |
Am Donnerstag beginnt für den Afghanistan-Untersuchungsausschuss im | |
Bundestag das voraussichtlich letzte Jahr seiner Arbeit. Seit 18 Monaten | |
befasst sich das Gremium mit dem Ereignis, das als Offenbarungseid | |
westlicher Militärinterventionen gesehen wird: Mit dem chaotischen | |
Truppenabzug aus Afghanistan besiegelten die Nato-Staaten den längsten | |
Militäreinsatz der Allianz mit einem Debakel. Am 15. August 2021 hatten die | |
Taliban Kabul eingenommen. Die apokalyptischen Bilder, wie die USA und ihre | |
Alliierten das Diplomatenviertel Kabuls Hals über Kopf räumten, gingen um | |
die Welt. | |
„Ich habe versucht zu übermitteln, wie die Amerikaner das Gesamtbild von | |
Erreichbarkeit und Risiko bewerteten“, sagte Emily Haber im Zeugenstand des | |
Untersuchungsausschusses. Die Anhörung der ehemaligen Diplomatin, die erst | |
vor wenigen Monaten in den Ruhestand getreten ist, prägte die letzte | |
Sitzung des Gremiums im Jahr 2023. Gleichzeitig war es das erste Mal, dass | |
eine frühere Spitzendiplomatin im Ausschuss gehört wurde. Bis dahin | |
vernommene Zeug*innen stammten meist aus den Beamtenapparaten der | |
Ministerien. | |
## Patenschaftsnetzwerk hat Kontakt zu 200 Ortskräften | |
Dabei zeichnete sich in den vergangenen Monaten auch schon das Denkmuster | |
vieler deutscher Behörden in ihrer Afghanistan-Politik ab. [1][Ministerien | |
blieben streng ihrer eigenen Logik verhaftet] und ignorierten den | |
Taliban-Vormarsch im Frühjahr 2021 entweder oder wollten dessen mögliche | |
Konsequenzen nicht wahrhaben. Besonders deutlich wurde das in der Frage der | |
afghanischen Mitarbeiter*innen deutscher Ministerien, den Ortskräften. | |
Mitarbeiter*innen des Auswärtigen Amts unter Heiko Maas (SPD) und des | |
Innenministeriums (BMI) unter Horst Seehofer (CSU) äußerten, dass es nun | |
mal „entgegen der Regeln“ gewesen sei, vereinfachte Visa-Verfahren für | |
afghanische Beschäftigte einzuführen, um ihnen so eine rechtzeitige Flucht | |
nach Deutschland zu ermöglichen. Im Referat für Grenzpolizeiliche | |
Angelegenheiten des BMI habe ein Beamter sogar wortwörtlich gesagt, dass | |
die afghanischen Kolleg*innen nicht „in den Genuss einer einfachen | |
Einreise“ nach Deutschland kommen sollen, [2][wie die Zeit zuletzt unter | |
Berufung auf interne Dokumente aus den Ministerien berichtete.] | |
Der härteste Beweis für die Blockadehaltung des Innenministeriums waren | |
aber die Abschiebungen nach Afghanistan 2021: Wohl auch mit Blick auf die | |
Bundestagswahlen im September [3][ließ Seehofer noch bis vier Tage vor dem | |
Fall Kabuls Abschiebeflüge nach Afghanistan organisieren.] | |
Auch das Entwicklungshilfeministerium war lange nicht an einem | |
vereinfachten Ortskräfteverfahren interessiert. Beamte der Behörde hatten | |
im Untersuchungsausschuss zu Protokoll gegeben, dass man die lokalen | |
Beschäftigten in Afghanistan schlicht zu sehr gebraucht habe, um sich für | |
ihre Ausreise nach Deutschland einzusetzen. So waren bei dem Fall Kabuls | |
noch etwa 1.000 Ortskräfte in der Gesellschaft für Internationale | |
Zusammenarbeit des Entwicklungshilfeministeriums tätig. | |
In Deutschland ist das Ortskräfte-Patenschaftsnetzwerk aktuell noch mit | |
etwa 200 ehemaligen lokalen Beschäftigten in Afghanistan in Kontakt. | |
„Darunter sind auch mehr als 100 Menschen, die aufgrund bürokratischer | |
Hürden weiterhin vom Ortskräfteverfahren ausgeschlossen sind“, erklärte der | |
Vorsitzende der Organisation, Marcus Grotian, gegenüber der taz. Bei den | |
ehemaligen afghanischen Kolleg*innen, die bereits in Deutschland lebten, | |
gebe es auch viel zu tun. „Nach mehr als acht Jahren in Deutschland leben | |
noch immer Menschen in Übergangswohnheimen, bekommen nur einjährige | |
Verlängerungen ihrer Aufenthaltstitel und warten seit Jahren auf | |
Familienzusammenführungen“, so Grotian. | |
Die ehemalige Botschafterin in den USA Haber sah in der Zusammenarbeit | |
zwischen den USA und Deutschland in der Frage eines Abzugs aus Afghanistan | |
„einen gewissen Disconnect“. Im Untersuchungsausschuss sagte die Diplomatin | |
a.D., Joe Bidens Administration habe nach dessen Antritt als neuer | |
US-Präsident zunächst alle Gesprächskanäle zu ausländischen | |
Vertreter*innen gekappt. Die Entscheidung zum Truppenabzug Ende April | |
2021 sei von deutscher Seite dann als unilateral wahrgenommen worden. | |
„Berlin war fokussiert auf die Annahme, wie können wir in Afghanistan vor | |
Ort Bedingungen setzen, und welche Bedingungen haben wir, um das | |
sicherzustellen“, so Haber. | |
Als fatal wertete die Diplomatin das Abkommen, das die US-Regierung von | |
Donald Trump mit den Taliban Ende Februar 2020 in Doha geschlossen hatte. | |
[4][Der Vertrag sollte einen Plan für den Abzug der internationalen Truppen | |
aus Afghanistan zeichnen, ursprünglich aber auch eine Basis für | |
innerafghanische Friedensgespräche zwischen den Taliban und der Regierung | |
in Kabul schaffe]n. Doch Doha wurde der Afghanistan-Koalition vielmehr zur | |
Grundlage, welche das Land künftig seinem eigenen Schicksal überließ. | |
## Zu starker Fokus auf das Handeln der USA? | |
Afghanistan-Analyst und taz-Autor Thomas Ruttig bewertete die Zusagen der | |
Taliban im Doha-Abkommen als „von den USA genau auf ihre Bedürfnisse | |
zugeschnitten“. Mit dem Vertrag sollten demnach Angriffe auf US-Truppen und | |
ihre Verbündeten unterbunden werden, aber eben nicht auf die afghanischen | |
Partnertruppen, die danach dem vollen Druck der Taliban ausgesetzt gewesen | |
seien, „genauso wie die afghanische Zivilbevölkerung“. | |
„Ich habe das gewissermaßen auf dem Aussichtsturm beobachtet und hatte die | |
Auffassung, dass man wichtige Dinge aus der Hand gibt“, sagte die ehemalige | |
deutsche Botschafterin Haber mit Blick auf die Doha-Verhandlungen. Auf die | |
Frage hin, als wie wahrscheinlich sie angesichts des Taliban-Vormarsches | |
die von manchen gehegte Hoffnung gesehen habe, die USA mögen ihren | |
Truppenabzug noch einmal überdenken, antwortete sie: „Ausgeschlossen.“ | |
Die USA hätten die Entscheidung zum Rückzug aus Afghanistan spät getroffen, | |
so Haber. „Die Folgen für die Sicherheit aus einem stornierten oder | |
verschobenen Rückzug hat für die Amerikaner eine erhebliche Rolle | |
gespielt.“ | |
Thomas Röwekamp, Obmann für die Unionsfraktion in dem Ausschuss, wertete | |
die Aussagen der Diplomatin als aufschlussreich. „Im Auswärtigen Amt hätte | |
man früher und konkreter für den Ernstfall planen können und müssen, so wie | |
die USA es bereits vor dem Sommer 2021 taten“, erklärte der Politiker nach | |
der Befragung gegenüber der taz. | |
Der Vorsitzende des Afghanistan-Untersuchungsausschusses, der SPD-Politiker | |
Ralf Stegner, sieht durch die Aussagen der Zeugin eine Annahme bestätigt. | |
„Das aus Sicht der internationalen Gemeinschaft überaus schwach | |
ausgehandelte Doha-Abkommen der Trump-Administration hat die | |
Handlungsmöglichkeiten der Regierungen stark begrenzt und einen | |
konditionsbasierten Abzug aus Afghanistan de facto unmöglich gemacht“, | |
erklärte er der taz. | |
[5][Analyst Ruttig schrieb unlängst], dass die andauernde Analyse des | |
Doha-Abkommens die Kritik auf die USA fokussiere, statt auf die | |
Fehlleistungen der Bundesregierung. In dieser Hinsicht könnte es 2024 in | |
dem Untersuchungsausschuss andere Erkenntnisse geben. Hat die | |
Bundesregierung alle Hinweise über die sich verschlechternde | |
Sicherheitslage in Afghanistan ignoriert? Oder hat Deutschland den | |
sicherheitspolitischen Wert seiner Entwicklungshilfe überschätzt? | |
In der ersten Jahreshälfte soll es in dem Gremium um die | |
Evakuierungsmission und das Ortskräfteverfahren gehen. Ab dem Sommer sollen | |
dann im Ausschuss unter anderen auch Seehofer und Ex-Bundeskanzlerin Angela | |
Merkel gehört werden. | |
17 Jan 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Afghanistan-Untersuchungsausschuss/!5943116 | |
[2] https://www.zeit.de/2024/02/bundeswehr-einsatz-afghanistan-abzug-untersuchu… | |
[3] /Abschiebestopp-nach-Afghanistan/!5788385 | |
[4] /Vertrag-zwischen-USA-und-Taliban/!5667989 | |
[5] https://thruttig.wordpress.com/2022/10/14/afghanistan-ausschuss-rausperaffa… | |
## AUTOREN | |
Cem-Odos Güler | |
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