| # taz.de -- 70 Jahre Freie Universität Berlin: Frittenbude und B-Freite | |
| > Die halbe taz hat an der Freien Universität Berlin studiert, wie man | |
| > Revolution macht. Und irgendwie erinnern wir uns doch ganz gerne an die | |
| > Zeit. | |
| Bild: Protest gegen die Bildungspolitik. Mit dabei: Natürlich Studierende von … | |
| ## Als es noch Schneebälle gab | |
| Feste muss man feiern, wie sie fallen. Besonders, wenn es ein rundes | |
| Jubiläum ist. Das dachten sich auch die Studierenden im Dezember 1988, als | |
| die FU ihr 40-jähriges Bestehen zelebrierte. Zum Festakt waren | |
| handverlesene Honoratioren geladen, die Studis aber mussten draußen bleiben | |
| – und das 20 Jahre nach 68! | |
| Rund 4.000 NachwuchsakademikerInnen kamen trotzdem und übten sich bei einem | |
| Schmähakt draußen vor dem Audimax im Schneeballwurf, mit denen sie die | |
| geladenen Gäste empfingen – das ging damals noch, in Zeiten vor dem | |
| Klimawandel. | |
| Die Proteste der Studis breiteten sich anschließend rasend schnell aus. | |
| Nicht nur wegen der Schneebälle, sondern weil die Lage an den völlig | |
| überfüllten und zugleich zusammengesparten Unis unerträglich war. Binnen | |
| weniger Tage wurden alle Berliner Unis bestreikt, viele Institute bis zum | |
| Ende des Semesters besetzt. Und auch in Westdeutschland wurde an | |
| zahlreichen Hochschulen gestreikt, besetzt und demonstriert. | |
| TeilnehmerInnen schwärmen noch heute vom größten Uni-Streik des Jahrzehnts, | |
| der viele politisiert habe. | |
| Am Ende des Semesters wurde in Westberlin das Abgeordnetenhaus gewählt. | |
| Einen Tag vorher setzten zehntausende Studierende mit einem Protestkarneval | |
| nochmal ein Zeichen. An Wahlsonntag lagen dann völlig überraschend SPD und | |
| Alternative Liste vorn, so dass es zur ersten rot-grünen Koalition in | |
| Berlin kam. Gereon Asmuth | |
| ## Flugblätter in der Psychatrie | |
| Ulf und Nils Kadritzke lehrten Anfang der Siebzigerjahre an der FU | |
| Soziologie, wobei ein Arbeitskreis sich mit den Arbeitsbedingungen der | |
| Krankenschwestern an den Westberliner Kliniken befaßte und ein anderer mit | |
| den der Kindergärtnerinnen. Wenn es darum ging, Flugblätter vor ihren | |
| Einrichtungen zu verteilen, in dem sie mehr Geld forderten, sich aber nicht | |
| trauten, die Flugblätter selbst zu verteilen, dann sprangen wir Studenten | |
| ein und ich verteilte sie z.B. vor der Bonhoeffer-Nervenklinik. Einmal lief | |
| ich zwei Pflegern hinterher, als sie in einem der Häuser verschwanden – | |
| fand sie aber nicht mehr, dafür kam ein Dutzend Patienten in Morgenmänteln | |
| auf mich zu, ich wich zurück, aber die Tür hatte von innen keinen Griff zum | |
| Öffnen. Helmut Höge | |
| ## Textsicheres Mittelhochdeutsch | |
| Einige Studierende treten die letzten Zigaretten vor dem Seminar Ältere | |
| Deutsche Literatur auf dem blauen Teppich aus, die neuen Brandflecken | |
| fallen auf dem durchlöcherten Boden in der Rostlaube nicht weiter auf. | |
| Unsere Dozentin kündigt aufgeregt einen Vierzehnender der Mediävistik an. | |
| Der Professor trägt textsicher auf mittelhochdeutsch einige Strophen des | |
| Nibelungenlieds vor und begleitet sich auf einer selbstgebauten Zitter. Wir | |
| klopfen begeistert auf die Tische. Natalie Stöterau | |
| ## Prekariat im Kapuzenpulli | |
| In einem Altbau in Dahlem sitzen Studis unter Hammer und Sichel, | |
| wahrscheinlich auf einem Kommunismus-Nostalgie-Flohmarkt erstanden oder | |
| eben aus einem Schrebergarten geklaut, trinken starken schwarzen Kaffee und | |
| diskutieren über die Arbeiter*innenklasse: „Marx, Hegel, Adorno haben dies | |
| und das gesagt.“ Wenn sie sich abgewetzte Kaputzenpullis anziehen und nur | |
| ein paar Cents für den Solikaffee übrighaben, denken sie, sie stünden eben | |
| auf der richtigen Seite. Manche haben auch erlebt, dass ihr Vater noch kein | |
| Facharzt war und die Eltern in einer WG lebten, als sie geboren wurden. | |
| Dann denken sie, dass sie als Kind in sehr prekären Verhältnissen gelebt | |
| hätten. | |
| Klingt irgendwie absurd? Wenn man nicht selbst aus einer deutschen | |
| Akademiker*innenfamilie kommt, ist es auch erst mal schwer zu verstehen. Es | |
| geht um das berühmte Otto-Suhr-Institut und den dort gefrönten Lifestyle | |
| der Politikstudierenden. „Kritik der Politik“, das lernt man in der ersten | |
| Vorlesung. Aber „Klassismus“. Was soll das sein? – „Meinst du Bourdieu … | |
| was?“ – „Nein, ich meine das, was man hier jeden Tag erlebt.“ Julia | |
| Wasenmüller | |
| ## Eingeschüchtert in Dresden | |
| Es war irgendwann Ende Januar 1990, als sich der Grundkurs Politik und | |
| Soziologie vom OSI, dem Otto-Suhr-Institut, auf den Weg nach Dresden | |
| machte. Wir West-Berliner Studis im dritten Semester staunten nicht | |
| schlecht über die Dresdner Studierenden, die ihren sichtlich | |
| eingeschüchterten Professoren zeigten, wo es lang ging. Diese kamen kaum zu | |
| Wort, die Studis forderten demokratischen Sozialismus, freie Wahlen und | |
| Auflösung der Stasi. | |
| Dabei waren wir selbst Widerstand gewohnt nach dem Streiksemester 1988/89, | |
| als wir unter dem Stichwort „UniMut“ die OSI-Räume in der Dahlemer | |
| Ihnestraße besetzt hatten. Es ging um überfüllte Hörsäle, um | |
| Benachteiligung von Frauen bei der Einstellungspolitik und | |
| Institutszusammenlegungen. Wenn ich nicht in der Uni war, jobbte ich in der | |
| taz und kümmerte mich im Vertrieb um Handverkäufer und Buchhaltung. Vier | |
| Jahre später hielt ich mein Diplom in der Hand. „Machen Sie was draus“, | |
| sagte der Prof und gab mir die Hand. Anja Mierel | |
| ## Parole am Poller | |
| Am schönsten war es natürlich, als es nicht Freie, sondern B-Freite Uni – | |
| auch BU – hieß, 1988/89. Das wurde dann auch auf Demos im Südwesten Berlins | |
| verkündet. Ob sich heute noch viele daran erinnern, wenn sie die Parole | |
| FUBEFREIT lesen, die mitten in der Steglitzer Schlossstraße auf einem | |
| Poller unbeschadet die letzten 30 Jahre überstanden hat? Matthias Fink | |
| ## Sechspurige Pheromonspur | |
| Der Nachteil an der FU ist ihre Lage – so weit weg. Würde man sich die | |
| Studierenden als ein Heer aus Arbeiter-Ameisen vorstellen, ihre | |
| Pheromonspur entlang der U3 wäre dick wie eine sechsspurige Autobahn. Am | |
| Thielplatz spuckt es die meisten von ihnen aus, die dann ebenfalls | |
| ameisenstraßenähnlich zur Rost- und Silberlaube ziehen. | |
| Dabei entgeht den U-Bahn-Pendlern das Beste: eine der schönsten | |
| Fahrradstrecken der Stadt. Sie führt vorbei an der Domäne Dahlem, die das | |
| Gegenteil ist von ihrer Namensschwester Pogo Domäne, nämlich ein Bauernhof | |
| und Freilichtmuseum mit weidenden Pferden und Kühen. Fühlt sich ein | |
| bisschen nach Brandenburg an. Dann kreuzt man wieder die U-Bahn. Die | |
| Brümmerstraße nach der Station Dahlem Dorf ist vor allem im Frühjahr schön, | |
| wenn dort in den Villenvorgärten die Tulpenbäume in voller Blüte stehen. | |
| Weiß und rosa. Das ist schöner als jedes Botanikseminar. Anne Fromm | |
| ## Prüfung in zehn Minuten | |
| Zu meinen irritierendsten Erlebnissen an der FU gehört meine Diplomprüfung | |
| 1990. Das Otto-Suhr-Institut war besetzt; meine professorale | |
| Prüfungskommission musste also draußenbleiben. Ich war der einzige, der das | |
| Gebäude betreten durfte und wurde vorgeschickt, mit den Besetzern zu | |
| verhandeln, ob sie die nötigen Unterlagen herausgeben. Die hatten aber – | |
| was ich zumindest im Nachhinein richtig finde – keinen Zugang zu den | |
| Prüfungspapieren. Ich ging also wieder raus, und die Kommission beschloss, | |
| die Prüfung zu vertagen. Immerhin hatte der Besetzerrat sympathisch dumm | |
| geguckt, als ich auf seine Frage, wann denn die Prüfung sei, geantwortet | |
| hatte: „In zehn Minuten.“ Martin Krauß | |
| ## Die Frittenbude vorm OSI | |
| Der Oktober 1998 war trist und kalt und unwirklich und so fühlte sich auch | |
| die FU an, als ich dorthin wechselte. Während an meiner bisherigen Uni in | |
| Süddeutschland seit Mitte der 80er-Jahre Computer im Einsatz waren, um zum | |
| Beispiel in der Bibliothek Bücher zu suchen und zu entleihen, war in Dahlem | |
| noch der Karteikasten das Maß aller Dinge. Wie frustrierend. Alles wirkte | |
| verstaubt, überkommen, erschöpft. Viele Gebäude wurden renoviert, die Lehre | |
| fand oft in – im Sommer zu heißen, im Winter zu kalten Containern – statt. | |
| Danach eilten wir so schnell wie möglich zur U-Bahnstadion Thielplatz, um | |
| zurück in den Osten der Stadt zu fahren, wo eigentlich alle wohnten. | |
| Aufhalten konnte uns höchstens die Frittenbude direkt vor dem OSI – sie | |
| wirkte wie eine zurückgelassene Kulisse aus einer der trutschigen | |
| Berlin-Serien im Fernsehen („Drei Damen vom Grill“, „Liebling Kreuzberg�… | |
| Bert Schulz | |
| ## Tausende Mark fürs Telefon | |
| Im Streiksemester 1988/89 war das Lateinamerika-Institut nach den | |
| Ethnologen das zweite Institut, was von uns Studierenden besetzt wurde. | |
| Tatsächlich wohnten wir gut drei Monate dort, heckten eine Aktion nach der | |
| nächsten aus, feierten die besten Partys aller Zeiten, gründeten Autonome | |
| Seminare. Und wir telefonierten! Internet gab es noch nicht, wir hatten | |
| alle Freunde in Lateinamerika, und wenn man irgendeine Zahl vorwählte, | |
| meldete sich die FU-Vermittlung: „Pickert, befreites | |
| Lateinamerika-Institut, ich hätte gern eine Leitung.“ Wir müssen die FU mit | |
| Gesprächen nach Nicaragua, Argentinien, Peru und überall sonst hin tausende | |
| Mark gekostet haben. | |
| In einem FU-Streikplenum wurde der rechtskonservative FU-Präsident Dieter | |
| Heckelmann für abgewählt erklärt und einstimmig durch Christian Specht | |
| ersetzt, der damals mit Holzkamera unterwegs und jeden Tag an der Uni war. | |
| Geblieben von der großen „Befreiung“ waren bezahlte Projekttutorien, die | |
| aus den Autonomen Seminaren hervorgegangen waren. Sie wurden aber auch 2002 | |
| wieder abgeschafft. Bernd Pickert | |
| ## Tante FU, du Monster! | |
| Tante FU, Du Monster, Du Stadt in der Stadt. Es war 1991. Kaum in Berlin | |
| angekommen, bin ich in Deine Institute eingezogen, von Dahlem nach Lankwitz | |
| und wieder zurück. Ich habe versucht, alles zu studieren, was ich studieren | |
| wollte. Ich hab nicht durchgeblickt, welche Scheine ich wofür machen | |
| musste, verloren in der Anonymität Deiner Flure. Für Publizistik hat der NC | |
| nicht gereicht, ich wollte den Quereinstieg versuchen, den hast Du dicht | |
| gemacht, bevor ich so weit war. Kurz nachdem ich in Linguistik meinen | |
| Vortrag über Lautgedichte gehalten, mich in eine Kommilitonin verliebt und | |
| bevor ich Dich verstanden habe, drehte sich der Geldhahn zu. Das Einzige, | |
| das Du mir beigebracht hast, wissenschaftliches Arbeiten, ging besser ohne | |
| Dich. Ulf Schleth | |
| 4 Dec 2018 | |
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