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# taz.de -- 30 Jahre Tschernobyl: Vergessenes Leid
> Liquidatoren und ihre Angehörigen werden in Russland oft mit ihren
> Problemen alleingelassen. Der Staat spart – vor allem im
> Gesundheitswesen.
Bild: Gedenken an die Opfer der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl am 26. April…
Moskau taz | Paulina hat vor 15 Jahren ihren Mann verloren. Ein Tod auf
Raten sei es gewesen, sagt die pensionierte Erzieherin. Jurij war Offizier
und einer der Ersten, der nach der Katastrophe von Tschernobyl als
Liquidator am Reaktor eingesetzt wurde. Danach hieß leben warten auf den
Tod. Erst Magen- dann Darmkrebs, zuletzt war auch die Leber angegriffen.
Paulina klagt nicht. Ihr gehe es gut, beteuert sie. Die Rente stimme,
soziale Unterstützung und Vergünstigungen für die Witwen der Liquidatoren
erleichterten das Auskommen. Auch für Jurijs Beerdigung habe sie damals
nicht aufkommen müssen, sagt sie.
Zwei Tage später meldet sich Paulina noch einmal. Sie ist aufgeregt und
entschuldigt sich. Peinlich sei es ihr. Sie habe nicht die Wahrheit gesagt,
meint die 66jährige Rentnerin.
Tatsächlich klagt sie seit zwei Jahren vor Gericht, weil die Vergünstigung
für Tschernobyl-Opfer bei der Nebenkostenabrechnung der Wohnung nicht
angerechnet wird. Schlimmer sei jedoch, dass das Gericht sie behandele wie
einen Störenfried, der um Almosen bettele. Paulina ist verletzt, sie
opferte ihren Mann und das eigene Leben für das Überleben des Kollektivs.
„Als Armeeangehörige gehorchen wir und stellen keine Fragen.“
## Ein Stück weit Verrat
Zweifel kamen ihr, ob sie über den Ärger reden dürfe? Sei das nicht auch
ein Sück weit Verrat?, haderte Paulina, die aktiv im Verband der
Tschernobyl-Witwen mitarbeitet. Vielen ginge es wie ihr, sagt sie.
Zum 30. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl sind es vor allem die
Organisationen der Tschernobyl-Veteranen, die an den Fall-out erinnern. In
Moskau leben noch 17.000 Liquidatoren. Insgesamt müssen es 600.000 bis
800.000 aus der gesamten Sowjetunion gewesen sein, schätzt Alexei
Nowitschkow vom Veteranenverband im Moskauer Südwesten.
Er macht auf ein eigentümliches Phänomen aufmerksam: Die Zahl der Veteranen
mit Anspruch auf Hilfsleistungen wächst, je länger die Katastrophe
zurückliegt. Oft sind es Staatsbedienstete, die im Nachhinein noch einen
Weg finden, auf eine Liste zu gelangen. Die Zahl der Berechtigten stieg so
auf 1,2 Millionen. „Wer mit einer Delegation mal drei Stunden in der Nähe
war, macht sich zum Strahlenopfer“, sagt Nowitschkow.
Aber es seien auch Leute darunter, die nie in der Nähe der verstrahlten
Zone gewesen seien. Die unberechtigten Leistungsempfänger fallen besonders
ins Gewicht, da sich die Unterstützung prozentual am Gehalt orientiert.
Gewöhnlich sind die Bezüge der Beamten etwas üppiger.
## Steigende Anforderungen
Ganz anders ergeht es den einst jungen Militärs. Sie gehen oft leer aus.
1986 waren sie junge Idealisten, die den Einsatz als Pflicht empfanden und
es versäumten, rechtzeitig Ansprüche anzumelden. Einen Nachweis zu
erbringen, wird immer schwieriger. Zumal die Anforderungen seit Jahren
hochgeschraubt werden. Ein Grund ist der gigantische Missbrauch.
Gleichzeitig sollen jedoch auch Einzelleistungen eingeschränkt werden.
Diese Auseinandersetzungen säen Zwist und schwächen die
Verhandlungsposition der Liquidatoren, klagt Nowitschkow. Der Staat
versuche gar, in die Gemeinschaft der Retter einen Keil zu treiben.
Die Arbeit der Veteranen ist ohnehin schwieriger geworden. Die
Bereitschaft, für die eigenen Rechte zu kämpfen, hat deutlich nachgelassen.
Angst geht um, Beschwerde und Kritik könnten Folgen haben. Und sei es nur
die Ablehnung eines Antrags.
Kein russisches Gesetz ist häufiger überarbeitet worden als die Lex
Tschernobyl. Mehr als 2100 Mal seit Inkrafttreten Anfang der 1990er Jahre.
Die Veränderungen nahm Wladimir Sinelnikow, Vorsitzender des Moskauer
Tschernobyl-Verbandes, zum Anlass, eine „Trauer-Liste“ erstellen zu lassen.
Sie enthält alle Sparmaßnahmen der letzten Jahre. Darunter fallen westliche
Arzneimittel, die nicht mehr ausgegeben werden. Auch nicht bei schweren
Krebsleiden. Offiziell ist die Verhängung westlicher Sanktionen daran
schuld.
## Einschnitte im Gesundheitswesen
Auch Paulina glaubt dieser Version. Überdies werden medizinische Daten
justiert, damit Ansprüche entfallen. Oder Gesetzestexte führen kostspielige
Leistungen nicht mehr auf, obwohl Ansprüche weiter bestehen und das Gesetz
nicht geändert wurde.
Einschnitte im Gesundheitswesen wirken sich überdies auf kostenlose
Routineuntersuchungen aus. Manch einer muss außer der Reihe nun Dienste
eines Arztes privat in Anspruch nehmen.
Mit dem Spardrang veränderte sich auch die Haltung gegenüber den
Liquidatoren, meint der Verbandsvorsitzende. Früher musste auch warten, wer
einen Antrag stellte. Die Antwort kam jedoch. „Heute stellen sich die
Kommissionen taub und blind.“ Wladimir Sinelnikow musste mehr als zwei
Jahre antichambrieren, bis die Stadtoberen ihn endlich anhörten.
Geht man so mit Rettern um? Wo sich der Staat in die Gedenkfeiern
einklinkt, ist viel von Heldentum und Patriotismus die Rede. Doch die
Sakralisierung ist unaufrichtig, sie soll nicht nur individuelles Leid
vergessen machen, sie entwertet es auch. Lästige Fragen werden in so einer
Umgebung auch 30 Jahre danach nicht gestellt.
27 Apr 2016
## AUTOREN
Klaus-Helge Donath
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Radioaktivität
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